Corinne Michaela Flick (Hrsg.): Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 06.04.2022

Corinne Michaela Flick (Hrsg.): Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein?
Wallstein Verlag
(Göttingen) 2022.
312 Seiten.
ISBN 978-3-8353-5181-3.
D: 14,90 EUR,
A: 15,40 EUR.
Reihe: Convoco! Edition.
Freiheit ist Alles, ist menschlich, ist normal, ist gefährdet!
In der „globalen Ethik“, wie sie in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ ausformuliert wird, kommt zum Ausdruck, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Freiheit ist somit ein menschliches Gut, das weder per staatlicher oder diktatorischer Macht vergeben oder genommen werden kann; es ist vielmehr demokratisches Bewusstsein, intellektuelle Herausforderung, individuelle und kollektive Anstrengung.
Entstehungshintergrund und Herausgeberin
Freiheit als das kostbarste Gut der Menschheit fällt nicht vom Himmel. Es ist kein Automatismus des menschlichen Daseins. Eigenschaft und Zustand ergeben sich durch Sozialisierung, Zivilisierung und Aufklärung. Der Wille der Menschen nach Autonomie, Liberalität, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung muss immer wieder neu geweckt und gefördert werden – durch Bildung! Weil nämlich Freiheit gefährdet ist durch Unfreiheit, durch Autokratie und Diktatur, durch Tyrannei und Despotie. Der Ruf nach Freiheit wird besonders dann lauter und eindringlicher, wenn die Freiheit gefährdet ist, durch Herrschsucht. Mit der Frage: „Darf der Mensch alles machen und tun, was er kann oder zu können glaubt?“, wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Freiheitsanspruch immer verbunden sein muss mit Verantwortung. Es ist deshalb logisch und notwendig, dass Gesellschaft und Staat Regeln und Gesetze erlassen, die Freiheiten garantieren, ja sogar einschränken, um frei leben zu können!
Im intellektuellen, wissenschaftlichen Diskurs wird die Frage nach der Freiheit der Menschen gestellt; und es wird auch immer wieder der Perspektivenwechsel eingefordert, etwa wenn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 anmahnte: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Die Münchner gemeinnützige Stiftung „Convoco!“ bietet eine Plattform für den interdisziplinären Dialog. Am 31. Juli 2021 veranstaltete die Initiative im Congresshaus in Salzburg ein Symposium zur Frage: „Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein?“. Expert*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik setzten sich damit auseinander, wie wird im Alltag, in der Gesellschaft, lokal und global mit dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und anderen Werten und Menschen- und Weltrechten umgehen können. Denn soweit sollten humanes Bewusstsein und Intellekt entwickelt sein, dass individuelle Freiheit und Anspruch auf Gleichheit immer auch die Freiheit und Gleichheit des Anderen betrifft. Die Gründerin von „Convoco!“, Corinne M. Flick, legt als Herausgeberin die wissenschaftlichen Beiträge des Forums vor.
Aufbau und Inhalt
„Hat die Pandemie Ihre Sicht auf die Freiheit verändert?“ – Die Antworten auf diese Frage – die aktuell auch erweitert werden kann mit der: „Führen Grenzverletzungen und kriegerische Überfälle dazu, dass das pazifistische Bewusstsein gestärkt wird oder Schaden nimmt?“ – sind überwiegend positiv: Die Mehrheit der Befragten gaben an, dass die lokalen und globalen Herausforderungen, wie sie sich durch die vielfältigen, meist menschengemachten Konflikte und Entwicklungen ergeben, ihr Bewusstsein vom Wert der Freiheit gestärkt und bestätigt haben. „Freiheit nicht als Egoismus gelebt, sondern als Kombination von Wertschätzung, Rücksichtnahme und Selbstbegrenzung durch Einsicht“ (Flick, S. 18; siehe dazu auch: Paul Collier/John Kay, Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt und warum die Politik wieder dem Zusammenhang dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28719.php; sowie: Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29229.php).
Neben der Einführung durch die Herausgeberin stellt die Rechtswissenschaftlerin von der University of Oxford, Birke Häcker, Thesen voran, die die nachfolgenden Referate der Autorinnen und Autoren gewissermaßen ankündigen; eine interessante Form der wissenschaftlichen Dokumentation und Dialogisierung. Für die Leserinnen und Leser des Sammelbandes bieten sich dadurch Möglichkeiten der Strukturierung und Handbuch-Handhabung.
Clemens Fuest, Wirtschaftswissenschaftler von der Universität München, thematisiert mit dem Beitrag „Ökonomische Folgen von Freiheitsbeschränkungen in der COVID-19-Pandemie“, dass der Staat, in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt, in die individuellen Freiheitsrechte der Menschen eingegriffen hat. Er widerspricht dabei den landläufigen argumentativen Rechtfertigungen, es „bestehe ein Konflikt zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Schutz der Wirtschaft“; vielmehr erfordere eine wirksame Pandemiebekämpfung proaktives und gezieltes, politisches, ökonomisches und gesellschaftliches Handeln.
Die Münchner Wirtschaftswissenschaftlerin Monika Schnitzer plädiert für „Wettbewerb als Garant der Freiheit“. Sie bezieht sich dabei auf das von der US-amerikanischen Regierung im Sommer 2021 erlassene Antitrust-Gesetz, mit dem der digitale und reale Wettbewerb im Wirtschaftshandeln „als Garant für Freiheit“ verordnet wird.
Der Leipziger Wirtschaftssoziologe Timo Meynhardt tritt mit dem Beitrag „Innere Freiheit: Fuchs und Igel“ für gesellschaftliche Wertschöpfung als Gemeinwohl ein. „Frei sein und sich frei fühlen ist nicht dasselbe“. Er greift die Begriffsdeutungen von „positiver und negativer Freiheit“ auf, wie sie vom russischen Philosophen Isaiah Berlin (1909 - 1997) mit der Parabel „Der Igel und der Fuchs“ als Tolstojs Geschichtsverständnis in „Krieg und Frieden“ (1868/69) aufgezeigt wird. Und siehe da: Vielfältige Aktualitäten tun sich auf: „Unsere persönlichen Eigenarten … machen uns ‚unfrei‘, wenn sie uns behindern, andere Perspektiven einzunehmen“.
Der Philosoph von der Wiener Central European University, Tim Crane, nimmt mit dem Beitrag „Redefreiheit und Gedankenfreiheit“ die Kontroversen auf, wie sie im öffentlichen Diskurs als „Woke-Ideologie“ bezeichnet werden (Cancel Culture, Chritical Race Theorie, Political Correctness; vgl. dazu auch: Nina Degele, Political Correctness. Warum nicht alle alles sagen dürfen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26965.php). Die Konsequenz echter Freiheit ist, wenn sie auch oftmals schwer auszuhalten und zu akzeptieren ist: „Wir tolerieren die Meinungen, die wir ablehnen, obwohl diese Meinungen vielleicht keinen Respekt verdienen“.
Der Salzburger Neurowissenschaftler und Ethiker Herbert A. Reitsamer fragt: „Sind menschliche Freiheit und Autonomie nur eine Illusion?“. Das Plädoyer für „freien Willen“ aus neuronaler und informationstechnologischer Sicht greift das reale Bewusste und das irreale Unbewusste des menschlichen Denkens und Handelns auf und reflektiert das „Trolley-Problem“, bei dem sich Entscheidungskonflikte zeigen.
Der Greifswalder Verfassungsrechtler Stefan Korioth setzt sich mit dem Beitrag „Autonomie und Schutz“ mit Ambivalenzen der Freiheitsrechte auseinander. Dieser Doppeldeutigkeit beizukommen bedarf es der philosophischen, historischen und demokratischen Reflexion. Denn Rechte sind ohne Pflichten Makulatur. Der Citoyen ist aufgefordert, „Freiheit und Selbstbestimmung mit nötiger Fremdbestimmung in der sozialen Ordnung in Einklang zu bringen“.
Hildegard Wortmann, Betriebswirtschaftlerin und Managerin, Vorstandsmitglied bei der AUDI AG, nimmt mit dem Beitrag „Nachhaltigkeit als Voraussetzung für persönliche und unternehmerische Freiheit“ auf, was im lokalen und globalen Diskurs als „Transformations-Bewusstsein“ verstanden wird. Gewissermaßen in das Notizbuch der ego-kapitalistischen Momentanismus-Denker diktiert sie: „Nachhaltige Unternehmenssteuerung bedeutet Freiheit“.
Jörn Leonhard, Historiker von der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg/Br., richtet mit dem Beitrag „Freiheit im Spannungsfeld kollektiver Werte“ den Blick auf das 19. Jahrhundert und verdeutlicht, „wie dynamisch sich Freiheitsvorstellungen veränderten und wie stark sie zwischen unterschiedlichen Gesellschaften variierten“. Es sind die revolutionären und evolutionären Entwicklungen, die uns auch heute veranlassen, beim Freiheitsdenken und –handeln „die Polarität und Verflechtung mit anderen Wertbegriffen“ zu beachten.
Birke Häcker reflektiert „Individuelle und gesellschaftliche Dimensionen der Freiheit“. Es sind die menschengemachten Situationen und Entwicklungen, die Freiheits- und Partizipationsrechte ermöglichen oder be- und verhindern. Um sie für alle Menschen zu garantieren, bedarf es sozialer Mindeststandards und der Überzeugung, dass beim verantwortungsvollen Umgang mit ihnen niemand zu Schaden kommen darf.
Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, beantwortet die Frage „Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein?“ mit der Feststellung: „Sicherheit und Freiheit bedingen einander“. Es ist nicht die „grenzenlose Freiheit“, die Freiheit, sondern Willkür und Anarchie schafft. Sein Plädoyer für legitimierte, demokratische Sicherheitsdienste gipfelt in der Überzeugung und Verantwortung: „Freiheit kann nur verwirklicht werden, wenn der Staat die notwendigen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen schafft“.
Der ehemalige Diplomat und Botschafter Peter Wittig spricht mit dem Beitrag „Gefährdungen der neuen Großmachtrivalität USA – China“ die globalen, geopolitischen Entwicklungen an (Nicht als Klammersatz, sondern als konkrete Gefahr des Großmachtdenkens wären hier auch die Konflikte einzubringen, wie sie sich bei der imperialen, territorialen russischen <Kriegs>Politik darstellen). Damit Europa nicht zwischen die Mühlsteine der Großmächte gerät, braucht es eine demokratische, europäische Einigung.
Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Felbermayr nimmt den Großmachtdiskurs mit der Frage auf: „Gefährdet der Aufstieg Chinas unsere Freiheit?“. Es sind vor allem die autoritären, antidemokratischen, diktatorischen Strukturen und die ökonomischen Machtansprüche und Entwicklungen, denen durch Reziprozität, freien, demokratischen, gleichberegtigten, menschenwürdigen Handel entgegengewirkt werden muss
Der Marburger Völker- und Europarechtler und Mitglied des Europäischen Parlaments, Sven Simon, stellt sich mit dem Beitrag „Europas Freiheitsmodell im Systemkonflikt: Belastung und Bewährung“ dem globalen Systemwettbewerb. Die dominante, eurozentrische Vormachtstellung ist Geschichte, Universalität bleibt eine europäische Vision, der „Paradigmenwechsel von der Binnenorientierung zur Weltorientierung“ ist in vollem Gange; doch es lohnt, das „europäische Freiheitsmodell“ ins globale Spiel zu bringen.
Die Fuldaer Politikwissenschaftlerin, Inhaberin des Jean Monnet Chair, Claudia Wiesner, diskutiert mit dem Beitrag „Freiheit, Gleichheit, Demokratie“ das Verhältnis der Freiheits- und Gleichheitswerte in einer repräsentativen Demokratie. Besonders in den Zeiten von Diktaturen und Faschismen kommt es darauf an, die demokratischen Grundlagen – Rechtsstaatlichkeit, Partizipation, Wettbewerb, Verantwortlichkeit, Freiheit, Gleichheit (Diamond/Morlino, 2004) – bewusst und deutlich zu machen, „dass Freiheit und Gleichheit in Demokratien sich nicht nur gegenseitig bedingen, sondern auch gegenseitig beschränken“.
Der Münchner Rechtswissenschaftler und Finanzexperte Rudolf Mellinghoff äußert sich zu „Freiheit und Steuern“ im Rahmen des Spannungsverhältnisses der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Es sind die Bedingungen, Ansprüche und Aufgaben des Staates, die durch Steuern ermöglicht werden: „Das Prinzip des Steuerstaates und die Freiheitsrechte der Bürger führen… zu einer freiheitsgerechten Besteuerung“.
Der Bochumer Ästhetiker und Kulturwissenschaftler Bazon Brock reflektiert mit seinem Essay „Freiheit aus dem Pathos der Ordnung: Eine minimalinvasive Autopsie des Liberalismus“ die Wege und Irrwege des demokratischen Ordnungsdenkens: „Die verpflichtenden Ordnungen dürfen sich nicht gegenseitig aufheben. Denn dann verlieren die Mitglieder der Gemeinschaft jedes Vertrauen in die sinnerhaltenden Ordnungen“.
Der Zürcher Kurator und Galerist Hans Ulrich Obrist spricht mit der Künstlerin Martha Jungwirth über „Freiheit, Rhythmus und Einschränkung“. Sie reden über das „Abenteuer des Sehens“, den „kreativen Blick“ und über „die Kunst als höchste Form der Hoffnung“.
Der Amsterdamer Politikwissenschaftler Philipp Pattberg stellt sich „Freiheit im Anthropozän“ vor. Es ist der Allmende-, Allgemeingut- und Commons-Anspruch, der transformative Veränderungsprozesse notwendig macht: „Um verschwenderische Lebensstile und Wirtschaftskreisläufe, fossile Brennstoffe und ein mörderisches Nahrungsmittelsystem hinter uns zu lassen, müssen wir ein großes integratives Meta-Narrativ und internationale Solidarität sicherstellen“.
Diskussion
Der CONVOCO! – Diskurs stellt einen lebendigen, intellektuellen, gegenwartsbezogenen und zukunftsorientierten Dialog dar. Es sind Aufrufe zum selbstständigen Denken und zum verantwortungsbewussten, individuellen und kollektiven Tun. Die virtuellen Zugriffe zu den Diskussionen sind online möglich (www.convoco.co.uk). Sie bieten damit die Chance zum Mitdenken und Mitmachen an. Es sind die Anforderungen an die notwendige Transformation, die Ziele, wie sie als „Green New Deal“ (Ann Pettifor, Green New Deal. Warum wir können, was wir tun müssen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27787.php) formuliert werden, und als „Commons“ Perspektiven aufzeigen (Silke Helfrich/David Bollier, Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25797.php).
Die „Zeitenwende“ bedingt, dass der „ewige Friede“ in weite Ferne gerückt, vielleicht sogar unmöglich ist. Der vom russischen Diktator mutwillig, unverantwortlich und verbrecherisch vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Ukraine ist ein Hinweis darauf, dass Frieden mit allen Mitteln des Verstandes und der Macht verteidigt werden muss. Die territorialen Begehrlichkeiten und Phantasien Putins zur Wiederherstellung seines Landes als Großmacht bedrohen Europa und die Welt. Das Polnische „Za wolność naszą i waszą“ – Für unsere und eure Freiheit – ist Aufforderung und Verpflichtung zugleich.
Fazit
Mit den „Convoco Lectures“, dem „Convoco-Forum“, de „Convoco Potcast Reihe“ und der „Convoco Edition“ bietet die Initiative eine Plattform des Denkens an. Die Vision, dass eine gesunde, gerechte, friedliche und menschenwürdige (Eine?) Welt möglich ist, muss gedacht und gemacht werden!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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