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Helge Peters: Eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme

Rezensiert von Erik Weckel, 07.02.2023

Cover Helge Peters: Eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme ISBN 978-3-7799-6881-8

Helge Peters: Eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 148 Seiten. ISBN 978-3-7799-6881-8. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema

Helge Peters geht es um eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme. Dieser mangele es an theoretischer Rahmung. Die Bearbeitung zweier Fragen und die spätere Rezeption ihrer Bearbeitung soll helfen diesen theoretischen Rahmen zu schöpfen und damit den Status dieser Soziologie stärken. Peters benennt Beispiele von Zuständen und Verhaltensweisen, die als Soziale Probleme identifiziert werden. Warum diese jedoch als solche angesehen werden scheint in der Soziologie von geringerem Interesse zu sein. Und unter welchen Umständen wird ein konkreter individueller Sachverhalt wie zu einem Fall eines sozialen Problems. Diesen Fragen geht Peters nach, wie er im Vorwort schreibt (3).

Autor

Helge Peters, Emeritus für Soziologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, beschäftigt sich seit Jahren mit Sozialen Problemen und Sozialer Kontrolle, zählt zur Gründergeneration der kritischen Kriminologie, gilt als Vertreter des Etikettierungsansatzes und präsentiert hier „eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme“.

Aufbau

Die Monografie umfasst nach dem Vorwort 18 Kapitel, die sich in drei Blöcken lesen lassen: Einleitung und Begriff, Konstruktionen und Tendenzen, Konstruktivismus in der Soziologie sozialer Probleme als Schluss und einem umfassenden Literaturverzeichnis.

Inhalt

Bereits im Vorwort (5) zielt Helge Peters auf die zentralen Perspektiven seines Bandes: Soziale Probleme werden von Beginn an in der Soziologie diskutiert. Warum aber gelten Zustände und Verhaltensweisen als soziale Probleme oder warum beispielsweise Kriminalität? Oder wie sind die Umstände, unter denen ein konkreter Sachverhalt wahrgenommen würde? Mit dieser Bearbeitung möchte Peters den Weg ebnen für eine theoretische Rahmung einer Soziologie sozialer Probleme und zur Festigung des Status derselben.

Im ersten Kapitel (Binsenweisheit) differenziert der Autor nach „objektivistischer“ und „konstruktivistischer“ Theorieperspektive. Die ersten würden nach den „Ursachen“ suchen, die zweiten nach den „Umständen“ unter denen Sachverhalte als soziale Probleme definiert würden (9). Das sind zwei unterschiedliche Fragestellungen. Mit Bezug auf die zweite Perspektive hält Peters „objektivistische“ Perspektiven für eine Soziologie sozialer Probleme für entbehrlich (10).

Im zweiten Kapitel „was ist ein soziales Problem“ reflektiert Peters Definitionen des Begriffes aus konstruktivistischer Perspektive. Er diskutiert „Merkmale“, „Sachverhalte“ und „Wertordnungen“.

Im dritten Kapitel stellt der Autor seine Grundlage „konstruktivistischer Soziologie“ vor. Wie – die „Wie-Frage“ ist eine zentrale Frage – „Sachverhalte als soziale Probleme konstruiert“ werden verbindet Peters mit einem „Exkurs zur Konstruktivität“. Er schließt mit dem bekannten Thomas-Theorem: „If men define situations as real, they are real in their consequences“ (28).

Das vierte Kapitel nimmt Soziale Bewegungen als Konstrukteur_innen bzw. Problematisierende in den Blick. Peters sieht auf ein „Phänomen der Neuzeit“ und differenziert zwischen „vormodernen“ und „modernen“ Sozialen Bewegungen und verdeutlicht die Bedeutung von Demokratisierungsprozessen.

Auffällig ist, dass eine Zunahme der Vielfalt sozialer Probleme zu verzeichnen ist. Dies versucht der Autor zu erklären.

Im fünften Kapitel nimmt Peters zwei Erklärungsmuster ins Visier: die Sakralisierung der Person (Hans Joas) und die Zunahme von Autonomie- und Kreativitätserwartungen der Menschen einerseits und andererseits die sogenannten Modernisierungsverlierer oder die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts. In letzterer werden vor allem rechtspopulistische Gruppen fokussiert.

Herrschaftsgestützte Konstruktionen wie Eigentumskriminalität oder Terrorismus zeichnet Peters im sechsten Kapitel.

Max Webersche Rationalität wird zur Grundlage von menschlicher Berechenbarkeit im Handeln. Dementsprechend werden potentiell Unberechenbare zu sozialen Problemen, wie Peters im siebten Kapitel am sogenannten Drogenproblem ausführt.

Und nicht alle Opfer seien hilfsbedürftig, ist eine These des achten Kapitels.

Im neunten Kapitel bearbeitet Peters sogenannte „themafremde Ausweitungen“ sozialer Probleme. Dazu zählt er „psychodynamische Erweiterungen“, „intentionalistische“ und „soziologisch-funktionalistische“. Tiefer beleuchtet der Autor hier Kriminalität in seinen Ausweitungen und vergleicht abschließend intentionalistische und psychodynamische.

Das konstruktivistische „Doing“ wird auf die „social problems“ transferiert. Diese wird exemplarisch im Kapitel zehn verarbeitet. Hier stehen vorrangig gesellschaftlich wirksame Instanzen (75) im Fokus.

Konstruktivistische Theorien differenzieren in radikale und soziale Konstruktionen. Bezüglich einer radikalen und damit grenzenlosen Konstruktivität führt Peters Zweifel aus, ja widerspricht ihr deutlich im Kontext Sozialer Probleme im 11. Kapitel.

„Die andere Seite“ ist das Kapitel 12 betitelt. Peters blickt auf Reaktionen der Betroffenen, die Routinen zur Herausbildung und zum Erhalt von Problembearbeitungen erschweren und die Suche nach neuen Konstruktionen nahelegen. Desweiteren interessiert, wie die Betroffenen die öffentlichen Interventionen verarbeiten und damit umgehen. Der Umgang der Betroffenen mit Stigmatisierung nach Goffman steht im Fokus dreier exemplarischer Problemgruppen: Armer, Lernbehinderter und Devianter.

Mit „Tendenzen“, 13. Kapitel, skizziert der Autor mit Fokus auf Pierre Rosavallon neue Entwicklungen der Individualisierung. Diese „Individualisierung der Singulären“ würde im Sinne einer „Identitätspolitik“ soziale Probleme entmaterialisieren, sie seien frei von sozio-ökonomischen Ursachen. Klassische soziale Probleme verlören damit an Bedeutung, wie Gefährdungen der Zugehörigkeit oder Exklusionen zunähmen.

Kapitel 14 skizziert den Wandel der Soziologie sozialer Probleme von einer dominant objektivistischen zur neuen, an Einfluss gewinnenden konstruktivistischen Soziologie sozialer Probleme.

Mit „Kritik“ folgt im 15. Kapitel eine kurze kritische Reflexion einer konstruktivistischen Soziologie sozialer Probleme.

Ihr folgt im 16. Kapitel eine Einschätzung zur „Bereitschaft deutscher Soziologie“ konstruktivistischen Orientierungen zu folgen. Hier bleibt eine klare Antwort aus.

Im Kapitel 17 (Schwierige Verhältnisse unter Soziolog_innen) zeigt Peters die Differenzen zwischen verschiedenen Denkansätzen der Wissenschaften auf. So zeigt er, dass in den 1970/1980er Jahren es ein Interesse an konstruktivistischer Soziologie gab, gleichzeitig aber auch objektivistische Perspektiven dominant blieben. „Integrationist_innen“ versuchten die beiden Zugänge zusammenzuführen, was Peters jedoch nicht als gelungen bewertet. Die Distanzen blieben, wie der Autor auch im Abgleich mit systemischen (Luhmann), Kritisch-theoretischen (von Marcuse bis Honneth) oder politisch-ökonomischen Analysen (hier am Beispiel von Heinz Steinert) nachzeichnet. Alle Seiten gewinnen den jeweils anderen wenig ab, Synthesen gelten als gescheitert.

Abschließend, Kapitel 18, „Entdinglichung, politische Neutralität und Herrschaftskritik“, stellt Peters der konstruktivistischen Soziologie eine umfangreiche Erklärungskraft und damit ein gutes Zeugnis aus. Sie erkläre, wie ein Sachverhalt zum Problem würde und unter welchen Umständen Personen betroffen seien. Konstruktivistische Soziologie würde damit entdinglichen und gleichzeitig neutral sein, wertfrei. Dennoch seien viele konstruktivistische Texte auch herrschaftskritisch orientiert, da sie sich gegen ungerechte Sozialverhältnisse richteten. Diese herrschaftskritische Perspektive wäre jedoch kein Kern der konstruktivistischen Soziologie, sondern sei eine Disposition der Soziolog_innen, die dennoch gegen objektivistische Perspektiven auf die Thematisierung der Dinge und das „Doing“ setzen.

Diskussion

Die Welt ist bunt, Vielfalt findet sich im Leben wie in den Wissenschaften. Vereinheitlichungen scheitern an den philosophischen Vorstellungen der Akteur_innen und den Interessen die sie leiten. So sehr die Wissenschaften auf „einen“ Gegenstand und „die“ Theorie fixieren, so sehr leben sie von pluralen Verständnissen, die sich vielfach differenzieren lassen, unterschiedlich kombinieren oder auch gegensätzliches Ausführen. Eine konstruktivistische Soziologie schließt hier an und scheitert ebenso in dem Versuch mit Dominanz die anderen Weltverständnisse zu übertrumpfen. Peters zeigt die Qualität einer konstruktivistischen Soziologie, verweist aber auch auf ihre Grenzen. An diesen Grenzen schließen sich konträre oder andere Wissenschaftsverständnisse an. Peters zeigt auch, das es Versuche gab und auch immer wieder geben wird, die unterschiedlichen Ansätze zu harmonisieren. Für Peters sind diese jedoch gescheitert. Gleichzeitig zeichnet der Autor Anschlüsse, z.B. zur Herrschaftskritik, die die konstruktivistische Soziologie nicht beinhalte. Diese Anschlüsse seien jedoch Konstruktionen der Professionellen. Interessant wären Abgleiche mit Analysen, die beispielsweise als konstruktivistisch-systemtheoretisch skizziert werden, über die von Peters benannten hinaus.

Peters konzentriert sich in seiner konstruktivistischen Soziologie auf das „Wie“, „Warum“ und den „Umständen“ sozialer Probleme. Dies sind aufschlussreiche Fragen, die den Gegenstand fokussieren. In seiner Zweiteilung von „konstruktivistisch“ oder „objektivistisch“ positioniert sich der Autor eindeutig. Die vorgestellte Analyse ist hilfreich zum Verständnis konstruktivistischen Denkens, im Besonderen bezüglich sozialer Probleme. Allerdings dürfte der Exklusivanspruch nicht haltbar sein. Die im Abschlusskapitel ausgesprochene Neutralität ist zu befragen, weiter bliebt offen, welches Bedürfnis konstruktivistisch denkende Soziolog_innen mit ihren Ausführungen zur Herrschafts- und Machtkritik noch zu bedienen bedürfen, obwohl doch eigentlich die konstruktivistische Perspektive nach Peters hinreichen würde. Insofern ist der Band anregend zu lesen und hilft zum Verstehen konstruktiver Perspektiven auf soziale Probleme, lädt jedoch genauso zu weiterer Lektüre ein.

Fazit

Der Band ist für alle interessant, die sich mit sozialen Problemen und ihrer Theorie beschäftigen, vor allem mit konstruktivistischen Ansätzen. Peters bietet Orientierung für Studierende bis Forschende. Wer jedoch auch über die Ursachen nachdenken möchte muss über Helge Peters hinaus lesen.

Rezension von
Erik Weckel
M.A., Politikwissenschaftler, Dozent an verschiedenen Hochschulen, u.a. an der HAWK Hildesheim in der Sozialen Arbeit, Erwachsenenbildner
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Es gibt 12 Rezensionen von Erik Weckel.

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Zitiervorschlag
Erik Weckel. Rezension vom 07.02.2023 zu: Helge Peters: Eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6881-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29302.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.


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