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Josephine Ulbricht: Das Vermögen der "Reichsfeinde"

Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 16.06.2022

Cover Josephine Ulbricht: Das Vermögen der "Reichsfeinde" ISBN 978-3-11-075904-4

Josephine Ulbricht: Das Vermögen der "Reichsfeinde". Staatliche Finanzverwaltung und Gegnerverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. De Gruyter Oldenburg (Berlin) 2022. 632 Seiten. ISBN 978-3-11-075904-4. D: 69,95 EUR, A: 69,95 EUR.
Reihe: Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus - Band 6.

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Thema

Die Autorin liefert mit dieser Veröffentlichung einen Gesamtüberblick auf die Art und Weise, wie die Nationalsozialisten auf das Vermögen sogenannter „Volks- und Staatsfeinde“ während der Zeit der Nazi-Herrschaft in Deutschland zugegriffen haben. Neben der politischen Unterdrückung gab es in dieser Zeit auch eine intensive fiskalische Verfolgung tatsächlicher oder vermeintlicher politischer Gegner des Nazi-Regimes. Dazu zählten Organisationen der Arbeiterbewegung, KPD- und SPD-Parteiangehörige, Emigranten, Katholiken, Sinti und Roma, Widerständler aus dem Berliner Kreis der „Roten Kapelle“ und des 20. Juli 1944. In ihrer Analyse geht sie weit über die Darstellung der rein fiskalischen Verfolgung hinaus und zeigt, dass die Unterdrückung ein gemeinsamer Prozess mit einer großen Bandbreite von Akteuren war. Dabei gab es durchaus Konflikte zwischen rivalisierenden Machteliten der Nazis. Es ist jedoch sehr aufschlussreich zu lesen, dass die „Machtrivalitäten nicht dysfunktional oder lähmend, sondern auch mobilisierend und dynamisch wirken konnten.“ (S. 19) Die Arbeit setzt sich insofern auch mit der Dynamik zwischen „Maßnahmenstaat“ und „Normenstaat“ auseinander. Im Hinblick auf den Bereich des Eigentumsrechts wird die Transformation in eine von Ungleichheit geprägte Rechtsordnung beschrieben.

Autorin

Josephine Ulbricht ist Historikerin und Mitarbeiterin der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig. Die Veröffentlichung ist ihre geringfügig überarbeitete Promotionsschrift an der LMU München, die sie im Rahmen des Forschungsprojektes „Geschichte des Reichsfinanzministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus“ verfasst hat.

Aufbau

Die umfangreiche Darstellung ist in neun Kapitel gegliedert, die einem chronologischem Aufbau folgen:

  • Im ersten Kapitel werden die rechtlichen Rahmenbedingungen der Vermögensbeschlagnahmen und -einziehungen untersucht, die die Nazi-Regierung unmittelbar nach ihrem Machtantritt geschaffen hat.
  • Kapitel 2 thematisiert den Zugriff auf das Vermögen der Arbeiterbewegung, der KPD sowie der SPD.
  • Kapitel 3 zeigt, wie sich die Zuständigkeiten vom Preußischen Innenministerium zum Preußischen Finanzministerium bewegt haben.
  • Im Kapitel 4 wird die Konfiskation des Vermögens ausgebürgerter Emigranten behandelt, insbesondere auch der Kompetenzkonflikt zwischen dem Finanzamt Moabit-West und dem Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa).
  • Kapitel 5 beschreibt die Genese des im Dezember 1937 verabschiedeten Gesetzes über die „Gewährung von Entschädigungen bei der Einbeziehung und dem Übergang von Vermögen“ (Entschädigungsgesetz).
  • In Kapitel 6 wird vornehmlich die mit dem „Führererlass über die Verwertung des eingezogenen Vermögens von Reichsfeinden“ unklare Rechtslage beschrieben, die nach zähen Auseinandersetzungen letztlich zu einem Kompetenzgewinn des Reichsfinanzministeriums führte.
  • Die drei folgenden Kapitel 7 – 9 befassen sich jeweils mit der Beschlagnahme und Einbeziehung des Vermögens katholischer Einrichtungen, von Sinti und Roma sowie von Widerständlern.
  • Inhalt

Die Studie bewegt sich auf mehreren Untersuchungsebenen: der Genese gesetzlicher Regelungen und Verordnungen mit fiskalischen Konsequenzen im nationalsozialistischen Reich, der Umsetzung in Verwaltungshandeln und den Auswirkungen auf das Reichsfinanzministerium und das Preußische Finanzministerium sowie einer ausgiebigen Betrachtung der Folgen für die Opfer. Zahlreiche Beispiele werden von der Autorin dokumentiert, darunter ausführlicher der Fall des Chefredakteurs des Pressebüros der SPD Erich Alfringhaus, des Gewerkschaftsführers Siegfried Aufhäuser, des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, des Journalisten Hellmut von Gerlach, des Publizisten und Kunstwissenschaftlers Eduard Fuchs, des Journalisten Alfred Kerr, des Reichtagspräsidenten Paul Löbe und der Mitglieder der „Roten Kapelle“. An der Abfolge der Ereignisse wird deutlich, mit welcher Geschwindigkeit die Nationalsozialisten nach der Zementierung ihrer Machtübernahme (Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933) das Ausrauben politischer Gegner in die Tat umsetzen. So begann die Bayerische Polizei nur einen Monat nach dem Ermächtigungsgesetz Maßnahmen gegen Thomas Mann zu ergreifen und sein Vermögen zu beschlagnahmen. Josephine Ulbricht eröffnet die Darstellungen in ihrem Buch mit diesem plakativen Beispiel -stellvertretend für viele andere-, um das ausgeprägte Netzwerk der Verfolger von Landesbehörden bis hin zu Reichsbehörden, von Polizeibehörden bis hin zu Finanzbehörden deutlich zu machen.

Seit August 1933 war das Berliner Finanzamt Moabit-West reichsweit für die Durchführung der Beschlagnahme und Verwertung des Vermögens von Ausgebürgerten zuständig. Insbesondere der Chef der Gestapo Heydrich drängte auf die Ausbürgerung der Familie Mann. Durch das Mitte Juli 1933 verabschiedete Gesetz über die Einbeziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens wurde eine flexibel einsetzbare Formel für „Volks- und Staatsfeinde“ kreiert. Per definitionem gehörten ab diesem Zeitpunkt Arbeiterorganisationen, Sozialdemokraten, Kommunisten, linke Oppositionelle, Widerstandskämpfer, Juden, Sinti und Roma, katholische Einrichtungen zu den Volks- und Staatsfeinden. Diese Definition wurde auch auf Thomas Mann angewendet. Es wurde ein „Schutzhaftbefehl“ gegen ihn erlassen, er erhielt einen „Reichsfluchtsteuerbescheid“ über fast 100.000 Reichsmark, sein Vermögen über 165.000 Reichsmark wurde eingezogen und „verwertet“, Thomas und seine Ehefrau Katja Mann wurden zu „Volks- und Staatsfeinden“ erklärt.

„Die Vermögensenteignung gehörte zum 'politischen Repertoire' der Nationalsozialisten.“(55) Durch entsprechende Gesetze wurde diese Vorgehensweise „legalisiert“. So ermöglichte das „Gesetz über die Einbeziehung kommunistischen Vermögens“ (1933) die finanzielle Zerstörung der Kommunistischen Partei. Das „Ausbürgerungsgesetz“ legitimierte den Zugriff auf das Vermögen von Emigranten.

Ausführlich schildert Ulbricht den Prozess der Konfiszierung des Vermögens der freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie von der Beschlagnahme bis zum Übergang in den Besitz der Deutschen Arbeitsfront (DAF).Die DAF, seit Oktober 1934 der NSDAP angeschlossen, wurde zum größten Gläubiger des eingezogenen sozialdemokratischen Vermögens. Am Beispiel der DAF wird das Ausmaß persönlicher Machtkämpfe in den nationalsozialistischen Führungsriegen deutlich – so zwischen Rudolf Heß und Robert Ley. Darüber hinaus das konflikthafte Verhältnis von Staat und Partei, das sich an den Auseinandersetzungen um den rechtlichen Status der DAF ablesen lässt. Die Rechtsform der DAF blieb bis zum Ende der national-sozialistischen Herrschaft ungeklärt.

Ulbricht untergliedert den Zugriff der preußischen Behörden auf die Vermögenswerte der politischen Gegner in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft in drei Phasen: 1. Beschlagnahme durch Polizeibehörden einschließlich Gestapa, 2. Verwertung durch das Preußische Innenministerium 3. Verwertung durch das Preußische Finanzministerium. Auch zwischen diesen Akteuren bestanden durchaus unterschiedliche Rechtsauffassungen, wie an den vielen Quellen gestützten Belegen deutlich wird.

Die Betrachtung des Verwaltungshandelns des Finanzamts Moabit-West verdeutlicht exemplarisch die Dynamik, mit der sich bürokratische Verwaltungen im Sinne der Nazi-Ideologie radikalisierten.„Unter Hervorhebung der Leistungen ihrer Verwaltungsapparate bei der fiskalischen Beraubung der Gegner des NS-Regimes waren die Vertreter des Reichsfinanzministeriums und des preußischen Finanzministeriums vor allem darum bemüht, Zugriff auf die eingezogenen Vermögenswerte zu erhalten und die Kompetenzen der eigenen Verwaltung zu bewahren und auszubauen.“(382)

Die Flexibilität sowie die Legitimationsschwierigkeiten des bürokratischen Apparates werden bei der Umsetzung der national-sozialistischen Ideologie werden eindrücklich sichtbar gemacht im Umgang mit den Gläubigern, die Ansprüche gegenüber konfiszierten Vermögenswerten anmelden. So stellte sich „die Frage nach dem Umgang mit den Schulden der als „staatsfeindlich“ behandelten Organisationen und Personen und ihren Gläubigern, […] in der Verwaltungspraxis als ein Problem heraus, das das preußische Finanzministerium nicht mit einfachen Verwaltungsordnungen zu lösen vermochte.“(279) Das preußische Finanzministerium wollte Hypotheken, die auf beschlagnahmten Grundstücken lasteten, löschen, während sie das Reichswirtschaftsministerium aufrecht erhalten wollte (nach Intervention des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes).

Letztendlich einigten sich die Kontrahenten immer wieder, auch mit Hilfe von „Führererlassen“. Denn die primäre Aufgabe der Ministerien und ihrer Behörden war es, die Raubzüge von Partei, Gauleitern und Gestapo mit Verwaltungsanordnungen und Verfahren zu legalisieren.

Ulbricht schließt nach 593 Seiten mit der Erkenntnis: „Das Reichsfinanzministerium war ein aktiver und unverzichtbarer Akteur im nationalsozialistischen Verfolgungsapparat und trug mit seiner spezifischen Expertise, seinem effizienten Handeln und seiner auf Flexibilität ausgerichteten Behördenorganisation zum Funktionieren der NS-Diktatur bei.“ (593)

Diskussion

Das Buch von Josephine Ulbricht basiert auf einer intensiven Quellenanalyse,so wie es bei einer Promotion zu einer historischen Fragestellung zu erwarten ist. Die Darstellung von fiskalischem Handeln und dem Agieren von Finanzverwaltungen könnte in einen sehr trockenen und nicht gerade lesefreundlichen Bericht münden. Ganz anders ist in dieser Hinsicht das Werk von Ulbricht. Auch wenn die fast 600 Seiten wegen der Materialfülle eine Herausforderung darstellen, so liest sich das Buch sehr spannend. Ulbricht gelingt es, für diese grauenvolle Periode der deutschen Geschichte die nationalsozialistische Gegnerverfolgung mit fiskalischen Mitteln fesselnd darzustellen. Wie schnell nach einer Machtergreifung an rechtliche Normen gebundene Verwaltungseinrichtungen erodieren und umfunktioniert werden können, wird mit erschreckender Konsequenz vorexerziert.

Sie erweitert den Blick auf die fiskalische Zerstörung von KPD und SPD sowie ihrer Vereine und Organisationen sowie auf die Rolle der staatlichen Finanzverwaltung bei der Konfiskation von Klöstern. Ihre Ausführungen zum sogenannten Klostersturm, der Beschlagnahme von Vermögenswerten katholischer Einrichtungen und die Begründung von Hitlers „Stopp-Erlass“ sind aufschlussreich. Sie vertieft die vorhandene Forschungslage zur fiskalischen Ausplünderung von Sinti und Roma durch ihre Detail reiche Darstellung der Abläufe in Berlin-Brandenburg und München. Es gelingt ihr auch, die Beteiligung der Reichsfinanzverwaltung am staatlichen Zugriff auf das Vermögen von Widerständlern (hier: „Rote Kapelle“ und 20. Juli) zu erhellen.

Spannend sind auch die Einblicke, die der Band in das Agieren des Reichsfinanzministers Schwerin von Krosigk und von Johannes Popitz liefert. Der preußische Finanzminister Johannes Popitz, ein ausgeprägter Anti-Kommunist, hat das ehemalige Karl-Liebknecht-Haus, Sitz der KPD und ihrer Organe, nach seiner Beschlagnahme um 1,5 Million Reichsmark entschuldet und die Katasterämter Großberlins dort einquartiert. Im Sommer 1934 verfasste er einen Entwurf, der die Behandlung der Schulden „staatsfeindlicher Personen“ und die Entschädigung der Gläubiger zum Gegenstand hatte. Dort vertrat er die Auffassung, dass „die Auswirkungen einer politischen Umwälzung von dem Ausmaß einer nationalen Revolution […] ohne schroffe Eingriffe in die bestehenden Rechts- und tatsächlichen Verhältnisse schlechterdings nicht zu meistern (sind).“(294) Eher lapidar berichtet Ulbricht, dass er in das gescheiterte Attentat vom 20. Juli 1944 verwickelt war und hingerichtet wurde. Über die Wandlung dieser Person, von einem hohen Funktionär und Parteigänger (Träger des Goldenen Parteizeichens der NSDAP) zu einem Mitglied der Widerstandsbewegung hätte man in diesem Kontext gern mehr erfahren.

Fazit

Josephine Ulbricht liefert mit ihrer Studie einen Kenntnis und Detail reiche Darstellung über den Zugriff auf das Vermögen von sogenannten „Volks- und Staatsfeinden“ im Nationalsozialismus. Sie beschreibt anschaulich, mit welcher Geschwindigkeit Finanzbehörden und Polizeidienststellen die Beschlagnahme, Konfiszierung und Enteignung zuerst von Regimegegnern, Kommunisten, SPD-Politiker, Gewerkschaftler sowie ihren jeweiligen Organisationen, später dann von Juden, Sinti und Roma, katholischen Einrichtungen und Widerstandskämpfern betrieben. Auf einer breiten Quellengrundlage wird das Netzwerk der an der fiskalischen Gegnerverfolgung beteiligten Akteure ausgebreitet. Obwohl es zwischen Partei und beteiligten Ministerien Machtkämpfe gab, wurde dieser räuberische Zugriff dennoch sehr effizient organisiert und durchgeführt. In erschreckender Weise wird in ihrer Arbeit deutlich, wie schnell Verwaltungseinrichtungen normativ erodieren können und wie leicht die Legalisierung von Vermögensraub ist. Sie belegt mit zahlreichen Beispielen, dass die Ministerien und ihre nachgeordneten Behörden nicht reine Erfüllungsgehilfen waren, sondern als integraler und aktiver Bestandteil des NS-Verfolgungsapparats selbst Initiativen ergriffen. Das ist ein warnendes Beispiel auch für die Gegenwart. Der Band von Josephine Ulbricht ist unbedingt lesenswert.

Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 17 Rezensionen von Dieter Korczak.

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Zitiervorschlag
Dieter Korczak. Rezension vom 16.06.2022 zu: Josephine Ulbricht: Das Vermögen der "Reichsfeinde". Staatliche Finanzverwaltung und Gegnerverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. De Gruyter Oldenburg (Berlin) 2022. ISBN 978-3-11-075904-4. Reihe: Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus - Band 6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29311.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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