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Rainer Zech: Gelingendes Leben in einer unsicheren Welt

Rezensiert von Prof. Dr. Andreas Lange, 15.07.2022

Cover Rainer Zech: Gelingendes Leben in einer unsicheren Welt ISBN 978-3-525-40795-0

Rainer Zech: Gelingendes Leben in einer unsicheren Welt. Ein ethischer Kompass. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 182 Seiten. ISBN 978-3-525-40795-0. D: 23,00 EUR, A: 24,00 EUR.

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Thema

Glück und gelingendes Leben sind, nach einer langen Phase der Exkommunikation aus dem Bereich der Wissenschaften, mittlerweile ein Schwerpunkt theoretischer und empirischer Beiträge der Humanwissenschaften (Lange 2004). So widmen sich Zeitschriften wie „Journal of Happiness Studies“ oder „Social Indicators“ mit Inbrunst der filigranen Vermessung der Struktur und den Bedingungen guten Lebens. Rainer Zech liefert, diese Glücksforschungsindustrie kongenial ergänzend, eine ethisch basierte Theorie, die um die Begriffe Sorge und Spiel herum entwickelt wird. Dabei ignoriert der Autor keineswegs die aktuellen Lebensbedingungen, sondern ordnet diese konzeptionell ein – als Ausdruck einer tiefsitzenden Unsicherheit, derer man Zech zufolge nur Herr wird, wenn man sich seine „Selbstüberraschungsfähigkeit“ beibehält.

Autor

Prof. Dr. Rainer Zech, Sozial- und Geisteswissenschaftler

Von 1980 bis 1995 lehrte und forschte er an der Universität Hannover in den Gebieten Persönlichkeitstheorie und Organisationstheorie. Er gründete 1987 das ArtSet® Institut für kritische Sozialforschung und Bildungsarbeit e.V. 1996 folgte die Gründung der ArtSet® Forschung, Bildung, Beratung GmbH; hier ist Rainer Zech als Geschäftsführer tätig. 2005 fand die Profilerweiterung des Firmenverbundes im Bereich Qualitätsmanagementsysteme ihren Ausdruck durch die Gründung der ArtSet® Qualitätstestierung GmbH. Die Arbeitsschwerpunkte sind Organisation, Qualität, Beratung, Bildung und Persönlichkeit

Aufbau und Inhalt

In der „Einleitung – Umrisse zur Ethik für ein Leben in einer unsicheren Welt“ schärft Zech seine analytischen Instrumente. Er umreißt dazu „Umfassende Unsicherheit“ als den Startpunkt seiner „Reise“. Diese Unsicherheit ist Kennzeichen einer späten Moderne, in der wir uns befinden, in der eine Orientierung aller gesellschaftlichen Systeme an der Zukunft systematisch Unsicherheit als Signatur der Epoche generiert (S. 12). Dazu kommt als weiterer Hintergrundfaktor gegenwärtigen Lebens der Imperativ des Wachstums, der zu einer Reihe von biologischen wie sozialen Pathologien führt. Die Unsicherheit kann so auch als Chance gesehen werden, diese Pathologien bewusst anzugehen und zu überwinden. Grundlage dafür wiederum ist eine ethische Konzeption, die der nichtlinearen Struktur von Welt und Mensch Rechnung trägt (S. 17), sich von klassischen Konzeptionen mit vorgestanzten Regeln und Kodizes löst. Drei Bausteine dazu braucht es: Logik, um das notwendige Wissen zu generieren und zu evaluieren; Ethik, um die Werte des eigenen Handelns begründen zu können; Ästhetik, um die Stimmigkeit des Lebens einordnen zu können (S. 27). Als wichtige Kompetenz schält sich dann die „Selbstüberraschungsfähigkeit“ heraus (S. 29), die sich u.a. zusammensetzt aus Aufmerksamkeit für Abweichungen und Präsenz im hier und jetzt.

Weiter geht es mit dem Plädoyer, sich von einer Ethik des Arbeitens zu verabschieden und eine Ethik des Lebens zu vollziehen (S. 33). Dazu rekonstruiert der Autor kompakt und überzeugend die kapitalistische Arbeitsethik und aktuelle Spielarten einer Adelung und Hypertrophie des Arbeitens als perfiden Ideologien zur Besänftigung der unzufriedenen Bürger und BürgerInnen heute, z.B. im neoliberalen Denken oder der meritokratischen Theorie des „vom Tellerwäscher zum Millionär“. Diese individualistischen Ethiken müssen überwunden werden in Richtung kollektivistischer Ethiken, um die Selbstzerstörung der Gattung Mensch abzuwenden. Wie man sich eine solche vorzustellen hat, das ist Gegenstand des Kapitels „Ethik als existenzielle Haltung und Praxis in einer mehr als menschlichen Welt“ (S. 51 ff.). Dazu nötig ist eine umfassende Neuverzauberung unseres Welt- und Selbstverständnisses (S. 57); eine auch die materielle Welt einschließende prozesshafte Ontologie (S. 63), die dann zu der Aufgabe einer Pflegschaft des Lebens führt (S. 67). Das Kapitel „Die Doppelstruktur des summum bonum und die ethischen Herausforderungen des Menschen“ (S. 72ff) zeigt, dass diese Doppelstruktur gebildet wird durch die „Pflege des Lebendigen und die beständige ethische Transformation der Form des Selbst-Welt-Verhältnisses.“ (S. 91). Konkretisiert wird dieses Leitmotiv sodann in Kapitel „Sorge und Spiel – die beiden grundlegenden Handlungsformen der Ethik in einer unsicheren Welt“ (S. 98 ff.). Sorge wird in vierfacher Hinsicht bestimmt: als existenziales Grundphänomen, als Sorge um sich selbst, Sorge in einer mehr als menschlichen Welt und Sorge um die Welt. Diese Leitplanke einer Ethik ist höchst erwartbar und plausibel. Originell und anregend ist dann demgegenüber, dass der Autor als zweiten Pfeiler seiner Ethik gelingenden Lebens das Spiel auszeichnet. Es ist demnach in höchstem Maße geeignet, die Freiheitsgrade des Lebensprozesses, dessen „Potenzialität“, auszuschöpfen. Zusammengeführt werden beide Pfeiler der Zechschen Ethik wie folgt. „Sorge und Spiel beziehen sich beide sowohl auf die Pflege des Lebendigen als auch auf die Selbsttransformation.“ (S. 121).

Den Schlussakkord auf seine ethische Komposition setzt der Autor mit dem Kapitel „Gelingendes Leben und Sterben und die Einheit des Wahren, Guten und Schönen“ (S. 123). Zuerst wird Gelingen vom Erfolg abgesetzt: Ersteres bemisst sich nicht an äußerlichen Attributen, sondern daran, ob der intendierte Handlungssinn aus der Perspektive des Subjekts selbst erreicht wurde (S. 127). Und das Gelingen macht einen positiven Unterschied gegenüber dem vorherigen Zustand des Subjekts oder des Kollektivs. Ferner grundlegend: „Es ist eine falsche Annahme, dass mit der Gestaltung des Lebens und des eigenen Selbst zwangsläufig eine Perfektionierung verbunden ist. Ein Gelingen ist nicht programmierbar, es führt als mögliche andere Seite immer ein Misslingen mit sich. Es geht nicht um den Ausschluss von Widersprüchen und Risiken, auch diese gehören dazu.“ (S. 137). Inhaltlich bestimmt geht es beim Gelingen dann um die Trias der Rationalität des Wahren, Guten und schönen (S. 147).

Schließlich kann der Tod als Teil eines gelingenden Lebens verstanden werden, wenn das integrierte Verhältnis zum Tod in seiner Bedeutung für das Leben reflektiert wird (S. 149).

Diskussion

Die sozialwissenschaftliche Glücksforschung sieht sich derzeit heftigen Angriffen ausgesetzt: Sie führe die Menschen noch strikter in die Fahrwasser der neoliberalen Verblendung und lenke von den massiven Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ab und liefere einer wahren Glücksindustrie die wissenschaftliche Legitimation. Außerdem pflege sie ein Bild der Gesellschaft, das vollkommen von den Strukturen des Staates etc. abstrahiere (Cabanas/Illouz 2019). Abgesehen davon, dass diese Kritik selbst zu kritisieren wäre: Rainer Zechs vor Lebensfreude funkelndes Buch zeigt eine ganz anders mögliche Auseinandersetzung mit Glück, gutem und gelingendem Leben auf. Es weitet den Denkhorizont um bedeutende ontologische Fragestellungen und unterbreitet eine Vielzahl von diskussionswürdigen Impulsen, z.B. der Tugend der Selbstüberraschungsfähigkeit und dem Dual von Sorge und Spiel. Man muss nicht mit allen seinen Denkbewegungen in Resonanz gehen, so fehlt mir eine tiefere sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Careproblematik, aber das Potenzial, aus der Lektüre dieser Schrift persönliche und umsetzbare Einsichten zu gewinnen, ist sehr hoch. 

Literatur

Cabanas, Edgar/Illouz, Eva (2019). Das Glücksdiktat und wie es unser Leben beherrscht. Berlin: Suhrkamp.

Lange, Andreas (2004). Das gute Leben – (k)ein Thema der Sozialwissenschaften?! Soziologische Revue 27, (3), 329-336.

Rezension von
Prof. Dr. Andreas Lange
Professur für Soziologie an der Fakultät für Soziale Arbeit, Pflege und Gesundheit, RWU Ravensburg-Weingarten. Koordinator der Zusatzqualifikation „Schulsozialarbeit“, die gemeinsam mit der PH Weingarten für Studierende beider Hochschulen angeboten wird.
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Es gibt 4 Rezensionen von Andreas Lange.

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ISSN 2190-9245