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Johannes Herwig-Lempp: Systemische Sozialarbeit

Rezensiert von Prof. em. Dr. phil. habil. Jan-Peter Domschke, 11.04.2022

Cover Johannes Herwig-Lempp: Systemische Sozialarbeit ISBN 978-3-525-40783-7

Johannes Herwig-Lempp: Systemische Sozialarbeit. Haltungen und Handeln in der Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 449 Seiten. ISBN 978-3-525-40783-7. D: 40,00 EUR, A: 42,00 EUR.

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Autor

Diplom-Sozialpädagoge und Dr. phil. Johannes Herwig-Lempp ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft mit Schwerpunkt Systemische Sozialarbeit am Fachbereich Soziale Arbeit in der Hochschule Merseburg. Er ist weitergebildet zum Supervisor (DGSF), zum Systemischen Sozialarbeiter (DGsP) und zum Systemischen Dozenten (DGsP) und Gründer und Leiter des ersten deutschen Masterstudiengangs für Systemische Sozialarbeit an dieser Hochschule.

Thema

Im vorliegenden Buch legt Johannes Herwig-Lempp nicht nur eine umfassende Einführung in die systemische Sozialarbeit aus konstruktivistischer Sicht vor, sondern er verbindet sein Anliegen mit der Beschreibung und Erläuterung von „Haltungen und Handeln“ in der Praxis. Deshalb kann man das Buch auch über weite Strecken als Handlungsanweisung oder Wegführung für eine erfolgreiche und wirksame praktische Sozialarbeit lesen. Er nennt es „Einladung zum Üben“ (S. 31) Insofern sollte der Leser Handreichungen erwarten. Der Autor unterstützt dieses Anliegen mit den in abgehobenen Textteilen eingefügten Piktogrammen: Hinweisen auf Arbeitsmaterialien; Praxisbeispielen; Übungen: Formulierungshilfen/​Beispielsätzen und Downloadmaterial. Diese Einfügungen veranschaulichen einerseits die Absichten des Autors und geben andererseits Aufschluss über seine umfangreichen Erfahrungen in der Sozialen Arbeit.

Aufbau

Johannes Herwig-Lempp versteht unter systemischer Sozialarbeit die Vielfalt von Theorien, Methoden und Haltungen mit den darin enthaltenen Ideen, Konzepten und Einstellungen, die jeweils durch die Menschen bestimmt werden, die sie anwenden. Der Verfasser betont, dass ein wesentliches Kennzeichen für die systemische Sozialarbeit ihre Vielfalt sei und damit der Verzicht auf eine einzige Wahrheit und das Aushalten-Können von unterschiedlichen Ansätzen verbunden wäre. Systemische Sozialarbeit anerkenne die Wechselwirkungen von Elementen eines Systems im Gesamtzusammenhang. Dabei werde zudem das Verhalten der einzelnen Elemente im System und das Verhalten des Systems zu seiner Umgebung einbezogen. Probleme würden nicht als Wirkung einer bestimmten Ursache beurteilt, sondern als „Störung“ bestimmt. Für die Lösung von „Problemen“ sei die Reflexion unabdingbar, um zu klären, ob der Ansatz revidiert werden muss. Soziale Systeme hätten unterschiedliche Systemebenen. Eine „Störung“ könnte entweder in der Systemfunktionalität oder in der Systembeziehung liegen. Das System könne funktional oder dysfunktional sein, die Systembeziehung weise Relationen verschiedener Systeme zueinander auf. Soziale Arbeit setze sich zum Ziel, Beziehungsformen, die als problematisch empfunden werden, zu verändern. Die systemische Sozialarbeit ist für den Autor an „Voraus-Setzungen“ gebunden. Er nennt als Charakterisierung des menschlichen Handelns: Menschen tun immer das, was sie wollen, sie sind die Experten für ihr Leben, jeder hat gute Gründe für das, was er tut, Menschen wollen kooperieren. Für das Verständnis seiner Überlegungen benennt er u.a.: Theorien sind Werkzeuge, Veränderung findet immer statt. SozialarbeiterInnen seien in wissenschaftlicher Hinsicht nicht neutral, sondern verfolgten auch Eigeninteressen, und würden immer von eigenen Auffassungen, Annahmen, Vermutungen, Glaubenssätzen, Überzeugungen, Vorurteilen und Stereotypen geleitet. Systemische Sozialarbeit erfordere die Anerkennung von Vielfalt, Mehrdeutigkeit und Diversität. Die Suche nach „wahren Definitionen“ sei falsch, denn sie dienten immer einem bestimmten Zweck.

Inhalt

Das Lehr- und Lernbuch umfasst acht Kapitel und zusätzlich Arbeitsmaterialien. Im Kapitel 1 „Systemische Eröffnung“ (S. 9–33) erläutert der Verfasser, er verstehe unter systemisch, dass es verschiedene Perspektiven geben kann, die sich von den ihm bekannten Sichtweisen unterscheiden. Andere Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten dienten ihn als Anleitung, Aufforderung und Überwindung von Schwierigkeiten bei Problemlösungen und in herausfordernden Situationen (S. 12). Sein Hauptanliegen sei die Realisierung der systemischen Herangehensweise im praktischen Handeln (S. 28) In diesem einführenden Teil betont Johannes Herwig-Lempp, dass jeder Mensch autonom und eigensinnig sei. Die Bedeutung von „Methoden, Theorien, Haltungen, Wahrheit, Glaube Verständnis und Voraussetzungen“ werden ebenfalls benannt (S. 9ff). Außerdem will er „Sehen, Werbung, Brille, Haltung“ als Metaphern in seiner Darstellung benutzen (S. 17ff).

Das Kapitel 2 benennt der Verfasser mit „Sozialarbeit – ein toller Beruf (S. 34–116). In diesem Kapitel gliedert der Autor die Vielfalt der Handlungsarten (S. 38) in der praktischen Sozialen Arbeit und erläutert die Besonderheiten des systemischen Herangehens:

  • Beraten (S. 40ff),
  • Verhandeln (S. 47ff),
  • Eingreifen (S. 57ff),
  • Vertreten (S. 68ff),
  • Beschaffen (S. 71),
  • Da-Sein (S. 72ff). Verwalten, Lernen, Werben und Einmischen.

Für die praktische Arbeit werden als „nützliche Kompetenzen“ Perspektivenkompetenz, Möglichkeitssinn und Entscheidungskompetenz benannt (S. 87ff). Der Autor behauptet, dass es in der Sozialen Arbeit kaum Standardabläufe gäbe, sondern die „besondere Herausforderung“ läge in ihrer Flexibilität (S. 93). Zu den herausragenden Fähigkeiten der SozialarbeiterInnen gehörten Zurechnungsfähigkeit (S. 94), Mut und Risikobereitschaft (S. 96), Geduld, Hartnäckigkeit, Aushalten-Können (S. 98) und professionelle Freundlichkeit (S. 100). Auf Seite 99 gibt der Verfasser eine sehr anschauliche Realitätsdarstellung, die von den Zumutungen vieles erahnen lässt. Unter der Zwischenüberschrift „Schnittstellenprofession und Königsdisziplin“ (S. 104ff) werden die Beziehungen der Sozialarbeitswissenschaft zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen erörtert. Auf Seite 103 nennt er die Sozialarbeitswissenschaft eine „Königsdisziplin. Diese Übertreibung, wie auch das Adjektiv „toll“ in der Überschrift sind einerseits Ausdruck der Begeisterung des Autors für seine Profession, andererseits wahrscheinlich ein Ergebnis ebenso langwieriger wie unfruchtbarer Diskussionen über den Gegenstand und die Methoden der „Sozialarbeitswissenschaft“. Im abschließenden Teil des Kapitels erörtert Johannes Herwig-Lempp die Bedeutung von Machtpositionen (S. 108ff) und Selbstwirksamkeit (S. 112).

Das 3. Kapitel ist unter der Überschrift „Kurze Geschichte des systemischen Arbeitens in sechs Ideen“ (S. 117–140) der Entwicklung des systemischen Arbeitens als Ideengeschichte gewidmet:

  • 1. Idee: Die Familie ist der Patient – nicht die Menschen, sondern die Beziehungen sind krank (S. 118f).
  • 2. Idee: Die Familie als ein System (S. 121ff) Der Autor bezieht sich hier auf den Regelkreis in der Kybernetik. In diesem seien Ursache und Wirkung nicht feststellbar (S. 121f). Die daraus abgeleiteten Fragestellungen gehorchen der Zirkularität (S. 123).
  • 3. Idee: Menschen sind autonom und eigensinnig (S. 125ff). Sie seien Klienten, keine Patienten und müssten als Persönlichkeiten wahrgenommen werden. Sie besäßen Ressourcen, aber ihre genaue Steuerung sei unmöglich.
  • 4. Idee: Alles, was gesagt wird, wird von jemanden gesagt (S. 128ff). Der Autor erörtert die Bedeutung des Perspektivwechsels, um gewisser maßen als Beobachter einer Therapie Konzepte von außen zu sehen (S. 130). Auf Seite 131 wird zum konstruktivistischen Ansatz erklärt, dass die Wirklichkeit unser Konstrukt wäre. Daraus entstünde unsere Verantwortung für Entscheidungen. Im Rahmen des gewählten Ansatzes mag das stimmen, obwohl die Gefahr des Solipsismus durchaus real ist.
  • 5. Idee: Über Lösungen reden schafft Lösungen (S. 135f). Der Verfasser meint, dass die Frage „Warum?“ überflüssig sei und durch „Wohin?“ ersetzt werden müsse, um Lösungsvorstellungen zu erarbeiten.
  • 6. Idee: Systemisches Arbeiten kann in vielen Arbeitsfeldern nützlich sein (S. 136ff).

Johannes Herwig-Lempp zieht am Ende des Kapitels (S. 140) eine positive Bilanz für die systemische Arbeit in seiner Profession. Das sei sicher nicht in Abrede zu stellen, auch weil das Gegenteil als nicht beweisbar gelten kann. Allerdings sind zahlreiche Aussagen, Wertungen und Behauptungen Selbstverständlichkeiten in vielen Professionen.

Das Kapitel 4 „Von Haltung(en) zu Handlung(en)“ (S. 141–154) kann man zum größeren Teil als Prolegomena zu den nachfolgenden drei Kapiteln lesen. Auf den Seiten 141ff handelt der Autor seine Auffassung zu Methoden Theorien und Haltungen ab. Den weitaus größten Teil widmet er den „Haltungen“ (S. 142ff), den Begriff nennt er „schillernd“. Für ihn sei die Haltung maßgebend für Entscheidungen, sie sei bewusst, reflektierend und situationsbedingt. Auf den Seiten 148ff werden die systemischen Voraus-Setzungen benannt. Die Grundannahmen Wahrheiten, Glaubenssätze und Standpunkte seien Konstrukte. Alle Menschen hätten Ressourcen, Stärken, Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen (S. 150ff) Die systemischen Voraus-Setzungen gliedert der Verfasser in drei Gruppen: Bilder vom Menschen, Vorstellungen vom Verändern und Bilder von der Wirklichkeit (S. 153). Danach sind die Kapitel 5 bis 7 benannt.

Das Kapitel 5 „Systemische Voraus-Setzungen I: Bilder vom Menschen“ (S. 155–287) ist das umfangreichste des Buches. Auf Seite 155 leitet der Autor das Kapitel mit einem Zitat von Epiktet ein, allerdings beunruhigen nicht nur Meinungen die Menschen, sondern auch Urteile. In den zum großen Teil kleinteiligen Gliederungspunkten greift der Autor häufig auf bereits genannte Begrifflichkeiten zurück. Die Bezeichnung „Menschenbilder“lässt dem Autor genügend Raum, sowohl gewichtige „Voraus-Setzungen“ zu beschreiben als auch weniger bedeutsame. Viele Erörterungen unterlegt Johannes Herwig-Lempp mit Praxisbeispielen und Beispielsätzen. Diese Herangehensweise ist sicherlich jedem Praktiker eine große Hilfe, und sie zeigt, dass der Verfasser die speziellen Anforderungen an den in der sozialen Arbeit Tätigen gut kennt. Generalisierend für alle Menschen stellt er fest: Menschen sind keine Maschinen (S. 158ff), alle Menschen sind eigensinnig (S. 162ff), alle Menschen sind autonom (S. 166ff), alle Menschen tun das, was sie wollen (S. 182ff), alle Menschen wollen kooperieren (S. 200ff), alle Menschen wissen, was gut für sie ist (S. 220ff), alle Menschen haben Ressourcen Stärken, Fähigkeiten, Kompetenzen, Kenntnisse, Wissen und Lebenserfahrung (S. 235ff). Er resümiert, dass alle Menschen im Hinblick auf diese Annahmen gleich seien (S. 280ff). Auf den Seiten von 186–235 analysiert der Verfasser einerseits in der Praxis vorkommende Situationen, andererseits knüpft er abgeleitete Erörterungen daran. So gehörten zum Tun der Wille und Selbstvertrauen, und man brauche gute Gründe für ein bestimmtes Handeln (S. 186). Fragen nach dem 195f „Warum?“ entstammten dem erlernten Denken und die Antwort wären gedankliche Konstrukte. Der Praxis des SozialarbeiterInnen sind Passagen zuzuordnen, die unmittelbar auf die Kommunikation mit den Klienten wirken. Der Autor widmet sich einer Reihe von Einzelfragen, so u.a. der Strategie der SozialarbeiterInnen gegen den Widerstand des Klienten und der Möglichkeit, den Klienten durch die Art der Kommunikation zu gewinnen (S. 202ff). Um Erfolg zu haben, sollten Fragen als Angebote formuliert und Fragemöglichkeiten ausprobiert werden. Der Autor gibt dazu viele Anregungen (S. 236ff). Besondere Bedeutung misst er einen ressourcenorientierten Blick auf den Klienten zu. Auf S. 250 ist eine Liste der beim Klienten vorhandenen potentiellen Ressourcen nachlesbar.

Im Kapitel 6 „Systemische Voraus-Setzungen II: Vorstellungen von Veränderung“ (S. 288–321) verdeutlicht der Verfasser seine systemische Auffassung von Theorien, Problemstellungen und daraus abgeleiteten praktischen Schlussfolgerungen. Dabei sei die Zahl der Möglichkeiten sehr groß, die von ihm mehrfach genannten „mindestens 7 seien nur symbolisch (S. 292ff). Unsere Vorstellungen seien begrenzt von unserer Vorstellungskraft und unserem Willen (S. 289f). Der Autor weist nachdrücklich auf die möglichen Perspektivwechsel und ihre Bedeutung für die soziale Arbeit hin (S. 313ff). Auf Seite 290 wird allerdings der Begriff „Realität“ mit der Veränderbarkeit von Zuständen vermengt. Unser Glaube an „Realität“ beschränke uns darauf, etwas sei gegeben, so und nicht anders und auch nicht veränderbar. Der hier zugrunde gelegte Realitätsbegriff negiert allerdings die Beweisgründe. Ähnlich unbestimmt verfährt Johannes Herwig-Lempp mit seiner Problemsicht (S. 299ff). Probleme, wie die Umwelt, die wir wahrnähmen, seien unsere Erfindung und ob Systeme existierten, ist für ihn Ansichtssache. Hier wäre eine Erklärung der begrifflichen Reichweiten und Grenzsetzungen für „Definitionen“ und „Theorien“ hilfreich gewesen. Unbedingt glauben sollte man dem Autor, dass mit dem Begriff „Problem“ häufig Schindluder getrieben wird und stattdessen von Schwierigkeiten, Hindernissen und Herausforderungen (S. 303) zu sprechen sei. Die Ausführungen zur Skalierung der Lösungsversuche von Problemen (S. 307ff), das Sprechen über Probleme (S. 310f) und über Konflikte (S. 319ff) sind lesenswert.

Der dritte Teil der systemischen Voraus-Setzungen ist als Kapitel 7 mit „Bilder von Wirklichkeit“(S. 322–370) überschrieben. Neben vielen bereits an anderer Stelle erwähnten oder beschriebenen Auffassungen, Aussagen, Urteilen und Wertungen betont der Autor einleitend seine konstruktivistischen Voraus-Setzungen (S. 322), den Modellcharakter dieses Ansatzes und seine Nützlichkeit (S. 323f). Im Abschnitt „Voraus-Setzungen sind nicht wahr“ (S. 325ff) wird festgestellt, dass „Handlungsanweisungen“, die auf Annahmen, Hypothesen und Voraussagen beruhen, nicht „wahr“ sind, aber dennoch für das Handeln unerlässlich. Auf S. 327ff verweist der Verfasser auf die Unterscheidung unterschiedlicher Voraus-Setzungen mit einem Gedankenexperiment und der Schlussfolgerung, dass Theorien „geglaubt“ werden, auch wenn manchmal Beobachtungen oder andere Faktoren gegen eine bestimmte Theorie sprechen. Letztlich sind aber alle Theorien Modelle über einen vorher definierte Wirklichkeitsbereich. Insofern sind sie wahr und nicht wahr zugleich. Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist gleichzeitig unsere „Erfindung“ aber eben nicht nur, wie Johannes Herwig-Lempp einräumt (S. 341ff). Konflikte ließen sich durch Anerkennung der unterschiedlichen Bedingungen und Voraussetzungen auflösen (S. 330). In den nachfolgenden Abschnitten nennt der Verfasser Theorien als Werkzeuge (S. 335ff) und Systeme als Produkte unseres Denkens. Sie könnten verändert oder ganz aufgegeben werden, wenn bestimmte Tatsachen es erfordern (S. 337ff). Die Feststellung „Alles was gesagt wird, wird von jemanden gesagt“ (S. 366ff) ist eine Aussage, die lediglich für die sprachliche Qualität eine Bedeutung hat, nicht aber für die wissenschaftliche.

Im Kapitel 8 „Systemisch ist politisch“ (S. 371–377) hebt der Autor hervor, dass es darauf ankomme, eigene Interessen zu vertreten (S. 371). Selbstwirksamkeit anzuerkennen (S. 374) und unterschiedliche Positionen auszuhandeln und abzuwägen (S. 372).

Für die praktische Arbeit sind die beigefügten Arbeitsmaterialien (S. 386–445), die der Verfasser in seinen Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen benutzt, ein großer Gewinn und für die professionellen SozialarbeiterInnen auch ohne das Studium des ganzen Buches ein guter Fundus. Dass Register erleichtert die Übersicht (S. 446–449). Johannes Herwig-Lempp verweist auf eine reichhaltige Literatur (S. 378–384).

Diskussion

Die Lektüre der Publikation wirft auch Fragen auf. Ich gebe gern zu, dass ich auch ohne das Schlagwort „systemisch“ zahlreiche Erläuterungen verstanden habe. Ich gewann den Eindruck, dass der Systembegriff oft nur dazu diente, um Verständnis dafür zu werden, dass soziale Beziehungen und Zusammenhänge nicht losgelöst voneinander beschrieben und analysiert werden können. Die funktionale Perspektive sollte nicht zu einer instrumentellen Verkürzung der Sozialen Arbeit auf das Erfüllen der Funktion führen und die soziale Arbeit zur Dienstleistung in einem technologischen Verständnis interpretieren. Der Vorstellung, dass die Berufung auf Objektivität eine „Verweigerung“ der Verantwortung sei, folge ich nicht. Bevor ich die beim Klienten bestehenden Ressourcen nutzen kann, muss ich das Problem dahingehend analysieren, ob bereits ein Algorithmus existiert oder nicht, wobei unterschieden werden muss, ob nur der Klient keine Lösungsmöglichkeit erkennt oder ein allgemeineres Desiderat vorliegt. Die Fragwürdigkeit der Ressourcen- und Lösungsorientierung in dieser konstruktivistischen Sichtweise wird auch in der Behauptung erkennbar, dass die Analyse von Problemen der mangelhaften Bedürfnisbefriedigung. der behindernden Machtstruktur, der nicht gewährten Menschenrechte und -pflichten usw. den Blick auf die Ressourcen der Klienten verstelle. Eine gänzlich andere Fragestellung ist die nach der Mitwirkung des Klienten an der Lösung von Problemen.

Die bereits viele Jahre andauernde Diskussion um „Verwissenschaftlichung“ der Sozialen Arbeit und um die „Sozialarbeitswissenschaft“ schlägt sich auch in den Argumenten und Behauptungen im vorliegenden Buch nieder. Wenn die Diskussionen in erster Linie oft nur der Identitätssuche in der Wissenschaft dienen, so haben sie doch einen ernsten Hintergrund. Die professionelle Praxis der Sozialarbeit weist zahlreiche Besonderheiten auf, sie ist in den vergangenen Jahrzehnten expandiert und die Ausweitung der Sozialen Arbeit wirft die Frage nach ihrer Funktion in der Gesellschaft auf. Daran ändert auch das zum Teil unklare Wissenschaftsverständnis nichts. Die Theoriebildung in der Sozialen Arbeit ist aus einer Vielzahl von Disziplinen zusammengefügt, sie verwendet Wissen aus den Bereichen Recht, Psychologie, Pädagogik. Medizin, Erziehungswissenschaften, Soziologie, Philosophie, Verwaltungslehre, Organisationsplanung und weiteren. In der beruflichen Praxis verfährt die soziale Arbeit nach inhaltlich und sachlogisch anderen Kriterien als in den Basiswissenschaften. Die gesellschaftliche Bedeutung der Sozialen Arbeit ist unbestritten, damit ist aber eine grundsätzliche Stellungnahme für oder gegen eine Wissenschaft der Sozialarbeit nicht begründbar, denn ohne eine wissenschaftliche Fundierung bleibt die Forderung umstritten. Ohne erkenntnistheoretische Grundlegung kann sich die Soziale Arbeit auf einer theoretischen Ebene gegenüber anderen Disziplinen nicht eigenständig behaupten. Die Phänomenologie, die Hermeneutik und die Kritische Theorie als unterschiedliche Erkenntnismodelle zur Begründung des Wissenschaftsanspruchs der Sozialen Arbeit sollten weitaus stärker als bisher im Rahmen der wissenschaftlichen Theorieentwicklung in der wissenschaftlichen sozialen Arbeit geprüft und einbezogen werden.

Leider geht der Verfasser auf die Bedeutung der Logik für Haltungen und Handlungen und die Bedeutung der sprachlichen Gestaltung kaum ein. Ich vermisse vor allem Erklärungen zu den in der Aussagen- und Prädikatenlogik üblichen Beweisverfahren, insbesondere zur Abduktion. Bei allen Bemühungen um Wissenschaftlichkeit und der Suche nach der richtigen „Konstruktion“, sollten wir auch an eine Mahnung von Immanuel Kant denken: „Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle. Denn wenn die Frage an sich ungereimt ist und unnötige Antworten verlangt, so hat sie […] bisweilen noch den Nachteil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten und den belachenswerten Anblick zu geben, dass einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält.” [1]

Fazit

Johannes Herwig-Lempp legt nicht nur eine umfassende Einführung in die systemische Sozialarbeit aus konstruktivistischer Sicht vor, sondern er verbindet sein Anliegen mit der Beschreibung und Erläuterung von „Haltungen und Handeln“ in der Praxis. Deshalb kann man das Buch auch über weite Strecken als Handlungsanweisung oder Wegführung für eine erfolgreiche und wirksame praktische Sozialarbeit lesen. Insofern kann der Leser Handreichungen erwarten. Für die praktische Arbeit sind die beigefügten Arbeitsmaterialien ein großer Gewinn und für die professionellen SozialarbeiterInnen ein guter Fundus. Die Lektüre der Publikation wirft aber auch Fragen auf. Ich gewann den Eindruck, dass der Systembegriff oft nur dazu diente, um Verständnis dafür zu werden, dass soziale Beziehungen und Zusammenhänge nicht losgelöst voneinander beschrieben und analysiert werden können. Die bereits viele Jahre andauernde Diskussion um „Verwissenschaftlichung“ der Sozialen Arbeit und um die „Sozialarbeitswissenschaft“ schlägt sich auch in den Argumenten und Behauptungen im vorliegenden Buch nieder. Leider geht der Verfasser auf die Bedeutung der Logik für Haltungen und Handlungen und die Bedeutung der sprachlichen Gestaltung kaum ein.


[1] Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft 1781 Ausgabe Darmstadt 1956, S. 1

Rezension von
Prof. em. Dr. phil. habil. Jan-Peter Domschke
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Zitiervorschlag
Jan-Peter Domschke. Rezension vom 11.04.2022 zu: Johannes Herwig-Lempp: Systemische Sozialarbeit. Haltungen und Handeln in der Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. ISBN 978-3-525-40783-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29333.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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