Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein et al.: Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 31.01.2006
Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein, Norbert Wohlfahrt: Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität. Wohlfahrtsverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft.
edition sigma in der Nomos Verlagsgesellschaft
(Berlin) 2005.
269 Seiten.
ISBN 978-3-89404-992-8.
15,90 EUR.
Unter Mitarbeit von Monika Burmester. Reihe: Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung - 61.
Thema und Enstehungshintergrund
Es gibt Bücher, denen wünscht man schlichtweg eine Vielzahl von Leserinnen und Lesern. Und dies aus einem simplen Grund: Sie thematisieren aktuelle und drängende Probleme in einer Art und Weise, dass das Handeln der Leserinnen und Leser nach der Lektüre ein anderes Handeln sein wird, als zuvor. Und um ein solches Buch handelt es sich hier.
Dabei ist das von Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein und Norbert Wohlfahrt (unter Mitarbeit von Monika Burmester) bearbeitete Thema den Akteuren in der bundesdeutschen Produktion von Wohlfahrt nur allzu vertraut: Wohin entwickeln sich die Wohlfahrtsverbände im Kontext der Modernisierung des Sozialstaates? Ist es eine "Modernisierung ohne Ziel?", eine kritiklose Übernahme betriebwirtschaftlicher Modelle oder eine bewusste Implementation der "Neuen Steuerung"?
Den Praktikerinnen und Praktikern in der Produktion von Wohlfahrt, aber auch den Kolleginnen und Kollegen in Lehre und Forschung ist diese Fragestellung nur allzu vertraut. Allzu vertraut ist ihnen aber auch eine Vielzahl von Publikationen zu eben diesem Thema, die das hohe Lied der "Manageralisierung" der Verbände singen, ohne die empirische Wirklichkeit auch nur eines Blicks zu würdigen. Erkennbar interessengeleitete Publikationen, die auf ideologischen Grundannahmen aufbauen und sich den Mühen des Alltags schlichtweg entziehen.
Genau diesen Weg schlägt die vorliegende Publikation nicht ein. Vielmehr basiert sie auf einer breit angelegten empirischen Untersuchung (in Zusammenarbeit mit der Hans Böckler Stiftung) die in den Jahren 2002 bis 2004 durchgeführt wurde. Breit angelegt insofern, als dass hier qualitative Expertenbefragungen aller Spitzenverbände, Fallstudien bei Kommunen und Trägern und schriftliche Befragungen der Praktikerinnen und Praktiker durchgeführt wurden.
Im Fokus der Untersuchung stand dabei die "sozialwirtschaftliche Transformation des Sozialsektors" die - so das erste Fazit der Autoren - bereits "in vollem Gange ist". Die Wandlungsprozesse der Wohlfahrtsverbände sind somit das Thema; Wandlungsprozesse die Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Leistungen die Verbände, ihre gesellschaftliche Funktion, ihre internen Organisationsmodelle und vor allem auf die Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben.
Aufbau und Inhalt
Bereits die Einleitung spiegelt diese "Momentaufnahme", diesen Einblick in eine paradigmatische Veränderung der Produktion von Wohlfahrt auf wenigen Seiten auf hohem Abstraktions- und Begriffsniveau wieder. Beispielhaft ist schon hier, wie ein historischer Rückblick auf den Beginn dieser Modernisierung in der öffentlichen Verwaltung verknüpft wird mit den Auswirkungen und Konsequenzen eben dieser Strategien auf Rolle, Aufgaben und Selbstverständnis der Verbände. Ergebnisoffen wird dabei nicht ausgeschlossen, dass dieser "Abschied vom Neokorporatismus" auch zur "Auflösung der Verbände" führen könne.
- Das 1. Kapitel (verfasst von Monika Burmester) bietet auf wenigen Seiten einen präzisen und prägnanten Überblick über die "sozialwirtschaftliche Bedeutung der freien Wohlfahrtspflege"; eine Datensammlung die manch dickleibiges Kompendium zu "den" Wohlfahrtsverbänden durch Begrenzung und Klarheit spielend ersetzt.
- Kapitel 2 geht dann in die Tiefe der Untersuchung und skizziert die Modernisierungs- bzw. Überlebensstrategien der Verbände, wie sie aus Sicht der Experten in Verbänden und Verwaltungen gesehen werden. Und es ist dieses Kapitel, welches als eine wahre Fundgrube zur Thematik bezeichnet werden kann. Jenseits aller interessengeleiteten Wahrnehmung werden hier präzise und kenntnisreich, mit den Instrumentarium der empirischen Sozialforschung und dem Begriffsapparat der Verbändeforschung, die eingeschlagenen Wege der bundesdeutschen Wohlfahrtsverbände zwischen Sozialwirtschaft und Anwaltschaft skizziert und einer kritischen Würdigung unterzogen. Vom Allgemeinen zum Besonderen, vom "Wettbewerb im wohlfahrtsstaatlichen Organisationsmodell" bis zum "Kontraktmanagement" als Instrument der Haushaltskonsolidierung, vom Widerspruch zwischen der betriebswirtschaftlichen Modernisierung und der anwaltschaftlichen Funktion reicht diese kluge, analytische und faktengesättigte Untersuchung. Doch damit nicht genug: Nach einem Exkurs zu den besonderen Entwicklungsmöglichkeiten der beiden kirchlichen Verbände - die Dienstgemeinschaft der Brüder und Schwestern im BAT-KV - folgt eine gleichfalls faktenreiche Schilderung der je besonderen Entwicklungspfade der fünf großen Verbände. Und auch hier werden die je eigenen Entwicklungspfade von AWO, Caritas, Diakonie, Paritätischen und DRK mit ihren spezifischen Möglichkeiten und Widersprüchen heuristisch fruchtbar zum Thema.
- Kapitel 3 hat "das Kontraktmanagement" im Fokus - dies auf eine Art und Weise, die man sich seit langem gewünscht hat: Empirisch durch Fallstudien belegt. Auch hier der unverzichtbare historische Rückblick, auch hier eine angemessene Begrifflichkeit - Kontraktmanagement als "extern induzierte Modernisierung der freien Wohlfahrtspflege" - und auch hier eine realistische Einschätzung über die real existierende Wirklichkeit dieses Schlusssteins der Neuen Steuerung. Von der Problematik der Entwicklung fachlicher Standards, über die Mühen der Dokumentationen und Kennzahlen, bis hin zur Trennung von Gewährleistungs- und Durchführungsverantwortung, werden alle entscheidenden Problembereiche skizziert, analysiert und vorläufig - denn wir betrachten einen fortlaufenden Prozess - bewertet. Dass hierbei der Kommunalpolitik ein "Steuerungsversagen" attestiert wird, verwundert nicht. Und es verwundert gleichfalls nicht, das eine "Renaissance zentraler Steuerung" durch die Sozialbürokratien festzustellen ist - und dies trotz anders lautender Außendarstellung.
- Kapitel 4 thematisiert nun die realen Schattenseiten der "Wohlfahrtsverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft": Die Folgen für die Beschäftigten. Zwischen Kostendruck und höheren Arbeitsanforderungen, zwischen Flexibilisierung und Dequalifizierung, zwischen Ausstieg aus dem BAT und fragmentierten Beschäftigungsverhältnissen - so lautet hier die vorläufige, aber durch Fakten belegte Analyse.
- Ergänzt wird diese Bestandsaufnahme aus der Sicht der Leitungskader nunmehr in Kapitel 5 durch eine Befragung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter - die Sicht der Praxis. Und erfahrungsgesättigt steigt hier vor den Augen der Leserin und des Lesers die wirkliche Welt, die Ebene der Umsetzung aus den Seiten auf. Zwischen Professionalität und Anwaltschaft, zwischen Bearbeitung von Ungleichheit und Zwangskontexten, zwischen "Hilfe zur Selbsthilfe" und "Anwalt des Klienten" verortet sich die Profession mit all ihren Mühen und Zwängen. Doch Neues und Interessantes auch hier: Mehrheitlich ist die Profession der Auffassung, dass "die gleichzeitige Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeits- und Gerechtigkeitsaspekten keinen Widerspruch darstellt"(S.205) und mehrheitlich ist sie auch der Auffassung, dass die Soziale Arbeit auch die Aufgabe hat, "Ungleichheit zu verändern"(S.207) - eine widersprüchliche Realität?
- Hans Nokielski und Eckart Pankoke beschrieben vor einigen Jahren als einen möglichen Ausweg der Verbände aus der neokorporatistischen Verflechtung den "postkorporativen Träger mit leichten Gepäck". Dahme, Kühnlein und Wohlfahrt skizzieren im Abschlusskapitel 6 eine neue postkorporative Identität des verbandlichen Handelns: Eine neue Identität, die bei Strafe des Untergangs neu erfunden werden muss und die untrennbar mit der anwaltschaftlichen Vertretung, mit der advokatorischen Funktion der Verbände steht und fällt. Ohne organisationale Entkopplung von betrieblicher Modernisierung und verbandlicher Erneuerung und ohne eine deutliche Anwaltschaft der Betroffenen sei diese neue Identität nicht zu haben - so ihr Fazit zum Abschluss. "Die OrganisationsfrageÉwird entscheidend dafür sein, ob die (bislang) halbierte Modernisierung überwunden werden kann, um auch die Organisationsziele in den Modernisierungsdiskurs mit einzubeziehen. Mit der Organisationsfrage und ihrer Beantwortung wird sich entscheiden, wie zukunftsfähig die Freie Wohlfahrtspflege ist"(s.252).
Fazit
Bereits in der Einleitung stellen die Autoren fest, dass der "politische Diskurs darüber, welche Ziele im sozialen Dienstleistungssektor mit welchen Mitteln herbeigeführt werden sollen" durch die Verbände nicht geführt wird. Und damit ist auch schon die Zielgruppe dieser Publikation beschreiben: Leitungskader aller Verbandsebenen, Praktikerinnen und Praktiker in der Produktion von Wohlfahrt, aber auch der oder die eine oder andere Sozialpolitiker und Sozialpolitikerin sollten sich diese Lektüre neben das Kopfkissen legen: Pflichtlektüre für Akteure in der Produktion von Wohlfahrt. Damit - und dies ist doch eine gute alte Tradition der Sozialwissenschaften - jenseits der Affirmation des Bestehenden, die Kritik des Status quo vorangetrieben wird und der gesellschaftliche Diskurs über die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft eine neue Qualität erhält.
Und natürlich - bevor es vergessen wird - dass auch die eine oder andere neue Forschungsfrage (wie z.B. die neue politische Mandatierung eines 1-Euro-Trägers oder die Renaissance des Zwangs im aktivierenden Sozialstaat) in Forschung und Lehre auf angeregte Bereitschaft und freudige Umsetzung stoßen kann.
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation
Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Münch.
Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 31.01.2006 zu:
Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein, Norbert Wohlfahrt: Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität. Wohlfahrtsverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft. edition sigma in der Nomos Verlagsgesellschaft
(Berlin) 2005.
ISBN 978-3-89404-992-8.
Unter Mitarbeit von Monika Burmester. Reihe: Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung - 61.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2934.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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