Redaktionskollektiv Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Feministische Theorie nur mit feministischer Solidarität
Rezensiert von Sabine Hollewedde, 28.04.2023

Redaktionskollektiv Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Feministische Theorie nur mit feministischer Solidarität. AG SPAK Bücher (Neu Ulm) 2022. ISBN 978-3-945959-61-9.
Entstehungshintergrund und Thema
Zum 80. Geburtstag der feministischen Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz im Jahre 2022 hat der „Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung“ einen Sammelband herausgegeben, in welchem verschiedene Facetten des theoretischen und praktischen Wirkens von Gisela Notz beleuchtet und gewürdigt werden. „Aufbruch, Feminismus, Frauengeschichte und Revolution, das sind Themen von ihr.“ (S. 7) In 14 Beiträgen stellen die Autor*innen Themen vor, die allesamt um Feminismus, Solidarität und Emanzipation kreisen. „Entstanden ist eine Textsammlung, die Lust auf Gisela Notz’ Schaffen machen soll und zugleich ein Dank für ihre unermüdliche Arbeit ist!“ (S. 7) Keine oberflächliche Festschrift ist dabei herausgekommen, sondern tatsächlich ein Band, der einen Einstieg in feministische Tradition und Diskussionen ermöglicht, der Lust darauf macht, sich mit dem Werk von Notz (u.a.) genauer zu befassen und vor allem: Solidarität praktisch werden zu lassen.
Herausgeberinnen
Das Redaktionskollektiv aus dem „Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung“, dessen Mitglied auch Gisela Notz ist, setzt sich zusammen aus Vera Bianchi, Mareen Heying, Christiane Leidinger und Christiane Mende.
Aufbau und Inhalt
Der Band beinhaltet neben dem Vorwort des Redaktionskollektivs 14 Beiträge, die teils direkt Bezug nehmen auf Werk und Wirken von Gisela Notz und teils Themen darstellen, die für einen an Notz anschließenden Feminismus wichtig sind.
In ihrem Vorwort erläutern die Herausgeberinnen den Hintergrund und ihre Verbindung zu Gisela Notz, die dem Gesprächskreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung seit langem angehört. Zentrales Thema und wesentliche praktische Forderung ist für Notz „Feministisch-intersektionale Solidarität“, worauf der Beitrag des „Autonomen feministischen Colloquiums Kreuzberg“ eingeht. In diesem inhaltlich einführenden Text wird das Augenmerk insbesondere darauf gelegt, dass die aktuelle „‚multiple Krise‘ auch als Krise der Solidarität zu interpretieren“ ist (S. 15). „Ganz grundlegend lässt sich Kapitalismus als anti-solidarische politische Ökonomie und Gesellschaftsformation begreifen, sind doch seine grundlegenden Parameter nicht an der Befriedigung der Bedürfnisse aller Menschen ausgerichtet, sondern an der Vermehrung von Profiten, die wiederum nur durch Ausbeutung und Ungleichheitsverhältnisse hervorgebracht werden können.“ (ebd.) Solidarität ist daher nicht ‚bloß‘ an das Geschlecht geknüpft, sondern muss vor allem Klassensolidarität sein. Und sie ist als politische nicht identitätspolitisch zu begründen, sondern basiert darauf, dass Menschen das gemeinsame Ziel der Emanzipation haben: „Solidarität als politische Solidarität basiert nicht auf geteilten Erfahrungen und Identitäten, sondern explizit auf einem gemeinsamen Ziel.“ (S. 20)
Im Anschluss an den Artikel des Colloquiums ist ein Gespräch mit Gisela Notz abgedruckt, welches Mitglieder des Colloquiums aus Anlass ihres 75. Geburtstags mit Notz führten und welches 2017 in zwei einzelnen Publikationen erschien. Hier wurde es „zusammenmontiert“ und leicht bearbeitet erneut veröffentlicht. In diesem Gespräch werden grundlegende politische Positionen von Notz konturiert. So u.a., dass „class, race und gender“ stets zusammen zu sehen (und verstehen) seien. (S. 25) Auch bezieht Notz klar Stellung, wenn es um die Frage eines ‚konservativen Feminismus‘ geht, wie ihn u.a. Ursula von der Leyen ins Gespräch brachte. Notz: „Für mich gibt es keinen konservativen Feminismus […]. Ich bin Feministin, weil ich sowohl theoretisch als auch praktisch gegen die Diskriminierung von Frauen und für eine andere Welt arbeiten will, in der alle ebenbürtig sind. […] Feminismus ist ja nicht nur eine Theorie, sondern auch eine soziale Bewegung.“ (S. 25) Feminismus bedeutet für Notz „seit Olympe de Gouges für eine Gesellschaft der Ebenbürtigen“ zu kämpfen. (S. 26) Damit stellt der Feminismus, wie ihn Notz versteht und lebt, „die kapitalistisch-patriarchalisch geprägte Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft in den Mittelpunkt der Kritik“. (ebd.)
Bernd Hüttner gibt in seinem daran anschließenden Beitrag „Gisela Notz – eine engagierte Intellektuelle“ einen eindrucksvollen Überblick über das Werk von Gisela Notz. Der Beitrag von Susanne Boehm, der – an die Erfahrung während einer Zugfahrt mit Notz anknüpfend – das Verhältnis von Privatem und Politischem thematisiert, macht abermals deutlich, wie sehr feministische Theorie und Praxis/​Leben miteinander verwoben sind. In einem Interview mit Silvie Kiefer und Gian Carlo Geronimi wird über das alternative Ferien- und Bildungsprojekt Salecina berichtet. Mit dem Titel ihres Beitrags „Die Geschichte der Tomate. Ihr Flug durch die neuen Frauenbewegungen in der Bundesrepublik bis in die Redaktion der Courage“ spielen Vera Bianchi und Markus Mohr auf den Titel eines Buchs von Gisela Notz an: „Warum flog die Tomate?“ Es geht hierin um die Herausbildung einer emanzipatorischen Frauenbewegung im Zuge der ‚68er-Bewegung‘, welche sich auch in Konflikten in und mit dem männlich dominierten SDS formte.
Bini Adamczak und Riccardo Altieri nehmen sich in ihren Beiträgen („Familismus als Skandal“ und „Zur Kritik des Familismus“) jeweils das Thema der Kritik des Familismus vor, welche Notz maßgeblich vorangetrieben hat. „Mit Familismus bezeichnet Notz eine Ideologie, die die hetero- und cis-normative Kleinfamilie als unverletzbaren und unumstrittenen zentralen Ort von Nahbeziehungen setzt, während das Gemeinwesen als System aller Familien gefasst wird.“ (S. 66) Daran schließt eine Kritik des Konzeptes der „Neuen Mütterlichkeit“ von Yves Müller an.
Mit „Luxus für alle! Eine kommentierende Würdigung zu Gisela Notz: Löcher im sozialen Netz“ knüpfen Mareen Heying und Anna Schiff an eben jenes Buch von Notz an und zeigen daran die Verbindung von sozialem und feministischem Emanzipationsbestreben im Kapitalismus auf. Sie machen dabei auf die weiterhin ungleichen Bedingungen für Männer und Frauen aufmerksam, wenn es darum geht, insbesondere im akademischen Bereich beruflich Fuß zu fassen: „Forschende Frauen werden weniger ernst genommen als forschende Männer. Kompetenzen müssen wir uns weiterhin stärker erarbeiten – und sollen uns dann nicht selten als ‚Quotenfrauen‘ ansehen lassen, was unsere Leistungen noch einmal zusätzlich negiert. Das gilt nicht nur für die Wissenschaft, aber auch für die Wissenschaft.“ (S. 94)
Es folgen zwei Würdigungen starker Frauen: Marcel Bois stellt unter dem ebenfalls Notz entlehnten Titel „Frau in der Mannschaft“ Leben und Karriere der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000) vor. Und Janette Otterstein widmet sich der schwarzen Kommunistin Claudia Jones (1915-1964), die ihr Leben in beeindruckender Konsequenz dem Kampf für die Emanzipation der Arbeiter*innen widmete und dabei Feminismus, Antirassismus und Antikapitalismus als eine Einheit auffasste, wobei sie sich vor allem für die am meisten Unterdrückten einsetzte: schwarze Arbeiterinnen.
„Terror und Transformation. Anmerkungen zur Hexenverfolgung in der Phase der ursprünglichen Akkumulation“ ist der Titel des Aufsatzes von Gregor Kritidis, in welchem der Autor zeigt, dass entgegen weiterhin verbreiteter Vorurteile die Hexenverfolgung eine „spezifische Form des frühneuzeitlichen Klassenkampfes und der Entstehung spezifisch kapitalistisch-patriarchaler sozialer Herrschaftsverhältnisse“ gewesen ist. (S. 115 f.) Der Autor legt das Augenmerk darauf, dass gerade im Zusammenhang mit dem Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaften und der Aufklärung die Hexenverfolgungen zunahmen und eine neue Qualität annahmen, und stellt damit die Frage danach, inwiefern man sich heute noch auf einen „Rationalismus der Wissenschaften in einer von Widersprüchen durchzogenen Gesellschaft“ berufen kann, „ohne auf die individuellen wie kollektiven Voraussetzungen und Bedingungen von Wissenschaft zu reflektieren.“ (S. 121)
Im den Band abschließenden Beitrag portraitieren Rebekka Blum und Len Schmid Gisela Notz als „Intervenierende Intellektuelle“ im Kontext von Antifeminismus-Forschung und feministischer Theorie und Praxis.
Diskussion
„Feministische Theorie nur mit feministischer Solidarität“ bietet pointierte Einblicke in feministische Diskussionen und ihre Geschichte. Den Herausgeberinnen gelingt es, die Inhalte, für welche Gisela Notz steht, in den Fokus zu rücken und zugleich eine auch persönliche Würdigung zu vermitteln. Wie es in Vorwort und Klappentext heißt, macht diese Textsammlung Lust, sich genauer mit dem Werk von Gisela Notz, aber auch Klassikern der Frauen- und Arbeiterbewegung zu befassen. Der Band spricht also nicht vornehmlich ‚Insider‘ an, sondern kann auch als Einstieg in die Auseinandersetzung mit feministischer Gesellschaftskritik dienen.
Durch den Titel dieser Textsammlung wird das leitende Thema benannt: die Verbindung von Theorie und Praxis. (In der Überschrift zum Gespräch mit Notz steht statt „feministischer Solidarität“ „feministische Praxis“, sodass diese Ausdrücke anscheinend synonym verwendet werden.) – An das Thema Theorie-Praxis/​praktische Solidarität schließen sich spannende Fragen dazu an, was genau eine wirklich emanzipatorische feministische Praxis/​Solidarität ausmacht. Notz betont, dass es keinen „konservativen Feminismus“ geben könne (s.o.), gleichwohl aber gibt es Formen von ‚Feminismus‘, welche helfen, dieses Gesellschaftssystem zu konservieren. Wie auch andere emanzipatorische Bewegungen steht der Feminismus stets in der Gefahr, durch und in das gesellschaftliche Herrschaftssystem integriert zu werden, was Yves Müller etwa am Beispiel der „Neuen Mütterlichkeit“ darstellt. Gründliche Theoriearbeit ist nötig, um eine ‚falsche‘, Protest integrierende Praxis zu verhindern. Grundlegende Begriffe wünschte man sich daher genauer behandelt, was aber nicht Aufgabe dieser Festschrift war. – Allerdings merkt man auf, wenn Notz auf die Frage, ob ‚links sein‘ für sie ‚sozialistisch sein‘ bedeute, keine prägnante Antwort geben mag: „Ich passe auch in keine Schublade. […] Aber ich finde es nicht so furchtbar schlimm. Ich vertrete einen emanzipatorischen Feminismus.“ (S. 26) Angesichts dessen aber, dass auch aus der Frauenbewegung heraus entpolitisierende und „neutralisierende[], zumindest ihre revolutionäre, gesellschaftstransformierende Kraft“ (S. 83) abschwächende Tendenzen erwuchsen, wie Müller unter Verweis auf Frigga Haug feststellt, ist die Frage danach, was genau unter einem „emanzipatorischen“ Feminismus verstanden wird, berechtigt. Denn dadurch muss sich bestimmen lassen, was eine tatsächlich auf die Abschaffung gesellschaftlicher Herrschaft zielende Perspektive von einer solchen unterscheidet, die etwa ebenso in „‚Frage[n] individueller Sinnstiftung‘“ (S. 84) aufgelöst werden kann. Wenn die Überzeugung der feministischen Kommunistin Clara Zetkin weiter Gültigkeit hat, dann muss die Frage nach dem Sozialismus notwendig gestellt und die Emanzipation der Frau im Kontext der Emanzipation der Arbeiter*innenklasse behandelt werden: „Die Emanzipation der Frau wie die des ganzen Menschengeschlechtes wird ausschließlich das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein. Nur in der sozialistischen Gesellschaft werden die Frauen wie die Arbeiter in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.“ (Clara Zetkin: Für die Befreiung der Frau! Rede auf dem Internationalen Arbeiterkongreß zu Paris 1889)
Fazit
Die Textsammlung für Gisela Notz vermittelt einen Eindruck vom Werk und von der Person Notz, der neugierig macht. Sowohl über die Geschichte der Frauenbewegung, einige klassische Grundlagen und Probleme als auch über aktuelle Themen kann man sich informieren und findet zahlreiche Anregungen für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema. Der mit seinen kurzen, pointierten Beiträgen eingängig geschriebene Band würdigt Notz’ Werk und kann zugleich als breite Einführung in ihre Schwerpunktthemen gelesen werden: Die Geschichte der Frauen- und Arbeiter*innenbewegungen.
Rezension von
Sabine Hollewedde
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Zitiervorschlag
Sabine Hollewedde. Rezension vom 28.04.2023 zu:
Redaktionskollektiv Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Feministische Theorie nur mit feministischer Solidarität. AG SPAK Bücher
(Neu Ulm) 2022.
ISBN 978-3-945959-61-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29346.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
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