Wolfgang Knöbl: Die Soziologie vor der Geschichte
Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 12.07.2022
Wolfgang Knöbl: Die Soziologie vor der Geschichte. Zur Kritik der Sozialtheorie.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2022.
316 Seiten.
ISBN 978-3-518-29975-3.
D: 22,00 EUR,
A: 22,70 EUR,
CH: 31,50 sFr.
Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft - 2375.
Thema
Prominente Prozessbegriffe wie Individualisierung, Globalisierung, Modernisierung, Demokratisierung oder Rationalisierung prägen die moderne sozialwissenschaftliche Debattenkultur nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern ebenso in der internationalen scientific community. Als Erklärungsmodelle sozialen Wandels besitzen sie eine hohe Strahlkraft und verschwistern sich mit „großen Erzählungen“ (S. 239). Ihre Plausibilität jedoch gerate in den letzten Jahrzehnten zunehmend unter Druck, da der Prozessbegriff die soziale Wirklichkeit in ihrer Kompliziertheit und in ihren Brüchen begrifflich nicht adäquat einfangen könne.
Damit wird die „Angemessenheit großflächiger Prozessbegriffe“ zum Thema gemacht und zwar entlang einer vom Autor ausgemachten Ambivalenz innerhalb der Konstruktionsparameter allgemeiner Wandlungsmodelle und ihrer praktischen Anwendung. Denn obwohl insbesondere die Soziologie von Anfang an nicht auf „robuste Prozessbegriffe“ verzichten konnte, „um ihre jeweilige Gegenwart zu erklären“, so seien diese doch zugleich „periodisch immer wieder kritisiert worden“ – aus Unsicherheit, „wie gut sich damit Vergangenheit und Gegenwart fassen lassen“ (S. 12 f.). Nach Knöbl seien die Sozialwissenschaften demnach entweder nicht in der Lage, ihr geschichtsphilosophisches Erbe des Deutschen Idealismus „abzuschütteln“ oder sie verzichteten schlicht darauf anzuerkennen, dass in ihren Ansätzen „eine gehörige Portion Geschichtsphilosophie steckte“ (S. 13). Zwischen diesen beiden Korridoren versucht das Werk die „Problematik der Prozessbegriffe systematisch zu stellen“, um zu sensibilisieren für einen reflektierten Umgang mit ebenjenen „‚isierungen’“ und ihren „geschichtsphilosophischen Ballast“.
Aufbau und Inhalt
Neben einer „Einleitung“, wo die zentrale These abgemessen wird, ist das Werk in zwei Hauptkapitel strukturiert. Das erste Kapitel „Sozialtheorie zwischen Geschichtsphilosophie und Historismus“ (S. 21-136) beginnt mit einem Spurenlesen sozialwissenschaftlicher Disziplingeschichte, macht aufmerksam auf „blinde Flecken in der Methodologie“ und das „beharrliche Ignorieren bestimmter Forschungsergebnisse“, womit in der perspektivischen Rückschau die Entwicklung des sozialwissenschaftlichen Denkens nicht als „linearer und bruchloser Wissenschaftsfortschritt“ gedeutet werden kann (S. 21). Darauf habe nicht nur Talcott Parsons hingewiesen (vgl. S. 21-32), entlang dessen Werk Knöbl problematisiert, dass die sehr einflussreichen theoretischen Begriffe des Handelns und der Ordnung zu einer „Pfadabhängigkeit“ geführt haben, Begriffe, die tendenziell abzielen auf „empirisch vorfindliche, irgendwie problemlos zugängliche soziale Tatsachen“, die nicht immer differenzieren, „ob man einen Trend oder eine Tendenz von einem Prozess unterscheiden“ könne, was das Prozesshafte an Prozessen wie Rationalisierung, Differenzierung etc. sei und „wie sich bei diesen Begriffen die Abgrenzung zu geschichtsphilosophischen Theoremen“ darstelle (S. 31 f.).
Um darauf eine Antwort zu finden, bringt der Autor Raymond Aron ins Spiel, dessen Beschäftigung mit der Geschichtsphilosophie einen soziologischen Hintergrund habe, der im folgenden herausgearbeitet wird. Laut Aron nähere sich die Soziologie „‚einer Theorie der Weltgeschichte’“, sie übernehme „‚den Ehrgeiz der Geschichtsphilosophie, im Lichte der Vergangenheit eine Antwort auf die beunruhigende Sorge der Gegenwart zu geben’“ (S. 33). Vor allem Klassiker wie Max und Alfred Weber aber auch Simmel, Dilthey oder Rickert würden von Aron begriffen „als Vertreter einer zeitbedingten Bewusstseinslage“, „in welcher die historische Variabilität philosophischer Systeme anerkannt und dementsprechend auch die Historizität von Wahrheit für unvermeidlich gehalten wird“ (S. 34). In diesem Sinne müsse die Soziologie ihre „weit verbreiteten verallgemeinernden Kausalsaussagen immer mit der (historischen) Kausalität des Einzelfalls abzugleichen“ verstehen auch, weil sich „Kontingenz“ nicht aus der Sozialwissenschaft verbannen ließe (S. 37). Skepsis sei also angesagt gegenüber „Letztursachen“, überhaupt müsse das Ganze, die Totalität „für uns“ als „nicht zugänglich“ gesehen werden, was auch hieße, dass wir „nie alle Ursachen kennen können“. Nach Aron seien aber doch alle Beobachter in der „paradoxen Situation, das historische Material gewissermaßen deterministisch organisieren zu müssen, um überhaupt eine sinnvolle Geschichte erzählen, um vergangene historische Wandlungen greifbar machen zu können“ (ebd.). Geschichtsphilosophie bedeute in diesem Kontext, dass Historiker wie Soziologen „die Welt stets objektivieren und dass sie in der Deutung des Geschehens diesem fast notgedrungen immer auch einen Sinn zuschreiben, also notwendig Geschichtsphilosophie betreiben müssen, und sei es dadurch, dass sie dieses Geschehen als Ausdruck des Geistes irgendeiner Epoche deuten“ (S. 38). Damit ist angerissen eine Perspektive, die das Handeln „aus der Perspektive der Denkmöglichkeit einer (normativen) sozialen Ordnung thematisiert“, wohingegen mit Aron der Weg in eine „historische Soziologie“ möglich gewesen sei, welche an Stelle der „Denknotwendigkeit von Ordnung“ „die historische Situiertheit des Akteurs zum Ausgangspunkt gemacht hätte“ (S. 50).
Im weiteren Verlauf wird herausgearbeitet, warum diese Entwicklung in den Sozialwissenschaften nicht aufgenommen worden ist. Vor allem die Soziologie habe „entschiedene Selbstabgrenzungsstrategie[n]“ gefahren, um sich den von Dilthey u.a. eingehandelten Vorwurf, bloß eine schlechte Geschichtsphilosophie zu sein, abzuwehren, was der Autor unter Aufnahme von Theodor Lessing, Ortega y Gasset und Valéry exemplifiziert (vgl. S. 54-61). Daran schließen sich an Ausführungen über die Geschichte der Geschichtsphilosophie, ihre Nähe zur „Universalgeschichte“ (S. 62) und die z.T. gescheiterten Emanzipationsversuche der Geschichtswissenschaft vom geschichtsphilosophischen Erbe, die sich abarbeiteten an der Frage, „wo das unwandelbare Substrat der Geschichte sei, an dem sich (historischer) Wandel ablesen lässt“ (S. 76). Eine Debatte, die gemeinhin unter dem Etikett Historismus sich vollzog und vielleicht am prominentesten von Ernst Troeltsch geführt wurde, der sich, wähnend in einer Kontinuität europäischer Geschichte, ebenso auf geschichtsphilosophische Hilfsmittel besann und die Chance auf „einen einheitlichen Bewertungsmaßstab“ gegenüber der eigenen Tradition nicht fallen lassen wollte (S. 94). Die noch offenen Probleme dieser Debatte wurden dann unter dem Vorzeichen der Wissenssoziologie und „Standortgebundenheit des Denkens“ weiter bespielt, wobei Karl Mannheim sich nicht mehr der „Analyse von Wandlungsprozessen“ widmete, die „Grundsatzfrage der Zugänglichkeit von Geschichte“ nicht berücksichtigte und damit das Vorhandensein geschichtlicher Prozesse als auch ihre Erkennbarkeit einfach unterstellte (S. 107 f.). Die Prozesssoziologie Norbert Elias’ knüpfte bekanntlich, und mit mahnenden Worten bezüglich der „Geschichtsvergessenheit der Soziologie“ (S. 119), daran an, wenn auch, nach Knöbl, Elias „allzu schnell eine Diffusion zivilisierter Verhaltensweisen unterstellt und einen unaufhaltsamen, ins Unendliche weitergetriebenen globalen Verflechtungsprozess postuliert, der im Rahmen einer auch den wirtschaftlichen Bereich erfassenden Monopolbildung letztlich zur globalen Pazifizierung führen wird“ (S. 118).
Geschichtsphilosophie, so eine weitere These, die Knöbl diskutiert, habe vor allem in Krisenzeiten Konjunktur, in einer Zeit, wo eine gesteigerte Nachfrage nach Sinngebung bestünde (S. 124). Das träfe zu auf die Weimarer Republik und Autoren wie Ernst Bloch, der zu einer Simplifizierung beigetragen habe, insofern als mit dem Rekurs auf die „‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen’“ der Blick auf das „höchst komplexe historische Geschehen“ „aufgegeben wurde zugunsten einer eindimensionalen Sichtweise: Geschichte folgt einer bestimmten Linie, sie verläuft nicht immer gleichmäßig, aber ‚in the long run’ doch in eine Richtung, wobei die Vorhut die Nachzügler mit sich ziehen wird“, ein Argument, was strukturgleich sei mit der Theorie Thorstein Veblens, wo dargestellt sei, „dass bestimmte Institutionen anderen Bereichen in ein und derselben Gesellschaft hinterherhinken“ (S. 122 f.). Erkenntnistheoretische Fragen, „die Aron angemahnt hatte“, wären in diesem Zusammenhang ignoriert worden. Überhaupt habe sich der Marxismus mit dem Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Soziologie beschäftigt. Hier kommt Knöbl auf Max Horkheimer und Walter Benjamin zu sprechen. Horkheimer, der sich mit dem Historismus beschäftigen musste, weil Karl Mannheim, „den man (.) als weltanschaulichen und theoretischen Konkurrenten sah“, an die Frankfurter Universität berufen wurde, habe Geschichtsphilosophie nicht kritisiert, sondern gemacht (S. 128). Seine Argumentation liefe darauf hinaus, „die vom Historismus gesäten Zweifel an der Erkennbarkeit der Geschichte (.) zu zerstreuen“, wofür man sich aber ganz auf die „Solidität“ und „Wertmaßstäbe“ der Marx’schen Theorie habe verlassen müssen, „was freilich den Frankfurtern mit der Zeit immer schwerer fiel, weshalb es nicht zufällig dann 1944 in der Dialektik der Aufklärung zu einer Zeitdiagnose kommen sollte, die auf [einer] waghalsigen und kaum mehr abgesicherten geschichtsphilosophischen These basierte“, die These, so Knöbl weiter, „eines sich über Jahrtausende erstreckenden Selbstzerstörungsprozess der Aufklärung und der aufklärerischen Vernunft“. Alles in allem „höchst fragwürdige Versuche“, „aus marxistischer Sicht die Probleme des Historismus anzugehen“, worüber schließlich Walter Benjamin verzweifelte, der in einer Art „‚philosophischen Extremismus’“ (Ralf Konersmann) einen „Bruch mit allen geschichtsphilosophisch angeleiteten Fortschrittskonzeptionen“ vollzog, die Vergangenheit aus der „unmittelbaren Gegenwart“ heraus dachte, eine Gegenwart, „selbst wenig klar und kaum theoretisierbar“. Überall zeichneten sich, neben häufigen Verweisen auf den „‚Augenblick’“ oder die „‚Jetztzeit’“ „Hinweise“ ab auf „religiöse Motive“, die „Rettung versprachen“ (S. 130 ff.).
Kapitel II mit dem Titel „Befreiung von Historismus und Geschichtsphilosophie – so oder so“ beschäftigt sich zunächst mit der in den 1950er Jahren einsetzenden „Hegemonie der Modernisierungstheorie“, die Knöbl einer kritischen Würdigung unterzieht. Die Debatte um die Theoretisierung sozialen Wandels sei in ein „Epochenkonzept“ gemündet, „das es schwierig machte, die Fragen nach den Voraussetzungen der Fassbarkeit des historischen Geschehens zu stellen“ (S. 140). Ab den 70er Jahren hält dann, darauf aufbauend, schließlich der Begriff der Moderne Einzug in die sozial- und geisteswisssenschaftliche Forschung und zwar mit seiner (und vom Autor ausführlich problematisierten) „Konstruktion von Epochen und das Ziehen von Epochengrenzen“ (S. 153). Dabei geht Knöbl bis auf die „literaturgeschichtlich inspirierte Definition“ Baudelaires zurück, dass die Modernität „’das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist’“ (S. 155), um dann u.a. auf die mit temporalisiernden Begriffen arbeitende Theorie von Koselleck zu stellen, um „Bedeutungsverschiebungen“ (S. 158) sichtbar zu machen, die mitunter dazu führten, dass „‚vormoderne’ Epochen notwendig als einigermaßen geschichtslos (.) erscheinen“ (S. 165).
Die Debatte wandelt sich schließlich mit den 1980er Jahren langsam hin zu einem Prozessbegriff, der eine Absage darstellen wollte an „große Erzählungen“, überhaupt Skepsis ausdrückte gegenüber „des noch in den 1970er Jahren stark auftrumpfenden Marxismus“. Zwar wollte man der Geschichte nun nicht mehr eine eindeutige Sinngebung unterschieben, dafür fokussierte die Analyse stattdessen auf „Sinnzusammenhänge für begrenztere Räume und Zeiten“ (S. 199). „Eigendynamische Prozesse“ (S. 214) geben hier das Stichwort vor, die sich mit dem ebenso nicht weniger prominenten Handlungsbegriff verschwisterten, der die Akteure untereinander vermitteln und damit in die Struktur eben jener Prozesse einbinden sollte. Über Ausführungen zum Strukturalismus unter Bezugnahme auf u.a. Gurvitch und Giddens nimmt Knöbl Thesen von Michel Dobry auf, dem es darum ginge, die „teleologischen Elemente zwischen Ereignis – Prozess – Struktur auszuloten“ (S. 228), dabei die Autonomie des Prozesses gegenüber seinen Ursachen und Ergebnissen stark machend, woraus geschlussfolgert wird, „dass man einen Prozess nicht schon verstanden hat, wenn man seine Ursachen kennt“ (S. 221).
Ein Rekurs auf erzähltheoretische Debattenstränge schließt thematisch den weit gespannten Bogen des Werkes ab. Ohne einen „expliziten Erklärungsanspruch zu erheben“, kämen am Ende die sog. systematischen Sozialwissenschaften doch nicht ohne einen „narrativen Kern“ aus (S. 256). Sobald man bspw. von sozialem Wandel spräche, müssten „Anfangs- und Endpunkte“ gesetzt, bestimmte „Verbindungen und Verkettungen“, „Zeit- und Raumordnungen“ vorausgesetzt werden (S. 256 f.), was zur Gefahr eines „selection bias“ führt, wo „in der Regel nur die Vorkommnisse in die Erzählung aufgenommen und berücksichtigt werden, welche die Geschichte zu dem bekannten und zu erklärenden Endresultat vorwärtstreiben und hinführen“, „alles andere“ würde „vernachlässigt“ (S. 267). Zumal könnten sich Erzählungen wie auch Erzähltheorien nie eines wie auch immer gearteten soziopolitischen bzw. moralischen Kontextes erwehren (S. 267), da Narrativität unvermeidlich basiere auf „dem Wunsch nach Kohärenz, nach Kohäsion und nach einem sinnvollen Leben“ (S. 269). Exemplifiziert wird diese These im weiteren Verlauf am Prozessbegriff der Industrialisierung, der ebenso unter eine große historische Erzählung fällt und damit „normativen Grundannahmen aufsitzt“ (S. 274) als auch an der „Demokratisierung“. Zum letzten Aspekt meldet Knöbl mit Hinweis auf Charles Tilly seine Skepsis gegenüber „allzu robuste und zeitübergreifende Thesen zum Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus“ an, „weil mit Blick auf die Vergangenheit kaum verallgemeinernde Antworten auf die Frage der Schnelligkeit. der Gründlichkeit und der Endgültigkeit der Auflösung nichtökonomischer Ungleichheiten zu finden sind und weil „mit Blick auf die Gegenwart (und Zukunft) nicht auszuschließen ist, dass sich im Kapitalismus neue Dimensionen der Ungleichheit herauskristallisieren (.)“ (S. 287).
Diskussion
Erdrückend mag zunächst der kursorische Streifzug durch die Irrungen und Wirrungen jener Disziplin anmuten, die sich die Kontingenz des (sozial-)wissenschaftlichen Fortschritts ans Revers heftet. Fachidiome machen Schlagzeilen, erzeugen ihre eigenen Erzählungen und Reproduktionslogiken. Der Etikette folgend, hält man sich artig anschlussfähig an Diskurse, in denen geronnene Erkenntnisse in den Äther gepustet werden, nicht minder unter Austragung persönlicher Fehden, von denen die Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften ebenso reich wie satt ist. Wer hinter dieser Anspruchshaltung überwiegend Marketingstrategien von u.a. Antragsstellern auf abschmelzenden Schollen prekärer Existenz vermutet, wird in diesem Band eines Besseren belehrt. Allein ein Blick auf die im Werk nicht diskutierte und noch jüngere sog. Gedächtnissoziologie unterfüttert den in diesem konkreten Fall nicht ohne ironischen Witz erhärtenden Verdacht: man fährt auf gedächtnislose Sicht. Das darf zu disziplinkritischer Tonalität anhalten, was bei Knöbl, wie es in einer anderen Besprechung seines Buches in der Sueddeutschen Zeitung (18.05) heißt, mit „spürbar großer Sympathie“ für das Fach und ihre Arbeitsdrohnen geschieht. Ganz sicher regt die Vielzahl an bekannten und weniger bekannten Autoren sozialwissenschaftlicher Provenienz, die Knöbl z.T. aus der Versenkung hervorkehrt, an, sich nach der Lektüre intensiver im Spurenlesen zu üben.
Jenes erdrückende Gefühl zwängt sich aber auch dort auf, wo Dinge im Werk unausgesprochen bleiben. Liegt denn die eigentliche Expertise über Fragen der Kausalität, Teleologie und Geschichtsphilosophie zunächst nicht bei der Philosophie, die mit diesen Sachverhalten langwierig gerungen hat, um sie – wie auch immer geartet – auf den Begriff zu bringen? Einige Jahre vor den Schriften Arons finden sich bspw. noch im Werk von Hermann Broch (exemplarisch die einschlägige Schrift mit dem Titel „Theorie der Geschichtsschreibung und der Geschichtsphilosophie“) mitunter ganz ähnliche Versuche, sich von der in Misskredit geratenden Geschichtsphilosophie z.T. abzuwenden, um sie über etwaige Differenzierungsversuche vor dem vom Positivismus vorgetragenen Verdacht der „Unwissenschaftlichkeit“ zu befreien. Dort ist zwar auch der Hinweis zu lesen, der Geschichtsphilosophie falle gemeinhin die Aufgabe zu, „die Wirrnisse der Geschehnisse nach Sinn und Richtung aufzulösen (.), Fortschritt und Ziel der Geschichte als Funktion ihrer Gesetzlichkeit zu ergründen“. Dies sei eine durchaus „plausibel klingende“ allerdings „auch etwas vage Auffassung der geschichtsphilosophischen Aufgabe“, was u.a. deutlich gemacht wird am Begriff der Kontinuität, der durch die „Gemeinsamkeit des logischen Ortes“ bedingt sei und erst „durch die es konstituierenden Tatsachen“ zustande käme. Auch wenn Broch an dieser Stelle nicht durchdringt zu den gesellschaftlichen Konstitutionszusammenhängen, so bleibt doch mindestens implizit die Richtungsweisung dorthin offen, womit über die subjektive oder objektive Sinnzuweisung von „Geschichte“ hinaus verwiesen ist, während im bekannten „Wörterbuch der Philosophie“ von Fritz Mauthner aus dem Jahre 1910 der Geschichtsbegriff gleich ganz kassiert wird, der Kulturmensch sei eben ein Tier, „das seine Geschichte wissen möchte“. Im Romanwerk Brochs (u.a. „Die Schlafwandler“) wird dann noch deutlicher, wie Geschichtsphilosophie um jedweden Sinn bereinigt wird, Geschichte buchstäblich eine bedeutungslose Plausibilität erhält. Die dort verhandelte Thematik des „Wertezerfalls“ deutet schließlich darauf hin, dass es sich bei der Sinnzuschreibung nicht um eine bloß theoretische ‚Debatte’ handelt, sondern diese durch gesellschaftliche Bedingungen vermittelt ist, auf die Gesellschaftstheorie hinzielen könnte. Man muss sich dabei nicht gleich Heinrich Heine ins Gedächtnis rufen, der davon sprach, dass die „Köpfe, welche die Philosophie zum Nachdenken benutzt hat“ von der Revolution – ergo vom geschichtlichen Verlauf – „nachher zu beliebigen Zwecken“ abgeschlagen werden könnten, um zu sehen: Geschichtsphilosophie, überhaupt das Verhältnis von Sozialtheorie und Geschichte, lässt sich dann doch nicht so einfach auf den gemeinsamen theoretischen Nenner einer mit ‚Sinn’ unterlegten Historizität stutzen.
Überhaupt wäre der Sinnbegriff als Ausgangspunkt weitgehender zu hinterfragen. Mit dieser theoretischen Schablonisierung ist implizit immer auch der Maßstab ‚unserer‘ Zeit eingekauft, der dem zu analysierenden Gegenstand aufgestempelt wird. Die Interpretationsverantwortung trägt nach dieser Lesart dann aber allein der durchleuchtete Akteur, dem sein (persönliches) Verhältnis zur Geschichte, das nicht das ‚unsere‘ sein könne, zum Verhängnis wurde. Die Einsicht in das, was war, wird durch ‚Sinn‘ relativiert, was Erkenntnis über gesellschaftliche Konstitutionszusammenhänge verdeckt. Statthat eine Verengung auf den vermeintlich fremden Sinn, der sich dadurch im Subjekt, das darüber aufklären will, bloß wiederholt, da eine bestimmte Kausalitäts- und Geschichtslinie hineingelesen wird, die selbst als ‚sinngebende‘ und durch gesellschaftliche Produktionsverhältnisse vermittelte nicht mehr hinterfragt werden muss. So wird zur subjektiven Seite entschieden, was eigentlich erklärungsbedürftig ist, nämlich das Verhältnis zwischen Geschichte und Subjekt und wie sich darin Gesellschaftliches zeitigt, verselbständigt, mit Gewalt gegenüber den Menschen realisiert. Knöbls Tönung der Geschichtsphilosophie führt dann schließlich dazu, dass seine Forschungsthese keinen Unterschied mehr zu machen braucht zwischen einem Marxismus, der durch die Lassallische Sozialdemokratie vermittelt worden ist – und zum Steigbügelhalter für einen reduktionistischen Marxismus wurde – und einer auf Grundlage der „Kritik der politischen Ökonomie“ angeschobenen dialektischen Theorie, die sich bis in das Werk Ulrich Sonnemanns erstreckt, wo der Geschichtsbegriff im Anschluss an Adorno und Horkheimer, überhaupt das Verhältnis von Sozialtheorie und Geschichte nochmals sehr ausführlich und kritikgesättigt auftaucht.
‚Die‘ Geschichte zwingt ihre Subjekte offenbar dazu, sich zu ihr zu verhalten, Stellung zu nehmen. Aber warum ist das so? Hinweise darauf ließen sich erarbeiten, indem die Geschichtsphilosophie selber nochmal einer Historisierung unterzogen würde, um zu einem höheren ‚Differenzierungsgrad‘ der eingangs aufgestellten Forschungsthese zu gelangen. Denn, ob der Geschichte nun ein ‚Sinn‘ unterlegt oder in ihr ein ‚Gesetz‘ entdeckt wird: das ist doch dann wohl ein Unterschied ums Ganze. Nimmt man parallel die mittlerweile leider ebenfalls in Vergessenheit geratene „Geschichte des Materialismus“ von Friedrich Albert Lange wieder zur Hand, so zeigt sich, dass sich die Geschichtsphilosophie und ihre Grundlagen über die Entwicklung des Materialismus erhellen ließe gerade und vor allem dort, wo bspw. im französischen Materialismus (aber ggf. noch weiter zurückliegend) von Gesetzmäßigkeiten gesprochen ist, die man der (menschlichen) Natur, später dem Weltganzen abzutrotzen versuchte: erhellend darum, weil auch hier mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur (-geschichte) gerungen wird, worin Sozialität (welche und: cui bono?) auftaucht, mindestens immanent. So spricht la Mettrie („L‘homme machine“) davon, dass es ihm nicht darum ginge, mit „letzter Eindeutigkeit“ die Natur „zu entdecken“, aber eben den „größten Wahrscheinlichkeitsgrad dies betreffend zu erreichen“. Diesem noch mechanischen Materialismus ging es also nicht um einen festgestellten Sinn, sondern um erkennbare Gesetze, womit theoretische Vorarbeit geleistet wurde für das, was Ernst Bloch dann später in der Rückschau im Begriff „menschenhistorische“, „bewusste Materie“ zusammenfasste. Das Erkenntnisinteresse richtete sich auf das Dechiffrieren von Beweggründen zunächst der physikalischen Natur, später dann der gesellschaftlichen „zweiten Natur“ (Hegel), wobei, mit Engels gesprochen, und über den mechanischen Materialismus hinausgehend, „alles, was die Menschen in Bewegung setzt“, durch ihren Kopf hindurch müsse. Abzielend auf gesellschaftliche Zusammenhänge sei dahingehend zu eruieren, „welche treibenden Kräfte wieder hinter diesen Beweggründen stehen, welche geschichtlichen Ursachen es sind, die sich in den Köpfen der Handelnden zu solchen Beweggründen formen“. Die dialektische Anstrengung des Begriffs, die sich hier nur programmatisch andeutet, wird und wurde meistenteils in den Wind geschlagen zugunsten des Vorwurfs einer falschen Kausalität, die Ursache und Wirkung schicksalhaft miteinander verwebt. Abgesehen ist von den konkreten Bedingungen ihrer Reproduktion, um Begriff A (Produktionsverhältnisse) und Begriff B (Produktivkräfte) in seiner je eigenen Sphäre unvermittelt abzuschließen, was in einer ‚Kritik‘ daran weiter festgeschnallt wird. Ob dieser grobe Hieb in Richtung Marxistischer Theorie (bei Knöbl vor allem in Richtung Bloch) nicht selbst etwas Dogmatisches mitführt, ist als Überlegung allein nicht nur deshalb interessant, weil die (frühen) Studien zum „Autoritären Charakter“ des Instituts für Sozialforschung ja frühzeitig (d.h. vor der Machtübernahme durch die NSDAP) eine Blaupause erkennen ließen, wie sich in den Charakterstrukturen der Befragten der Faschismus dialektisch anbahnte und später offen bahnbrach. So gesehen ging es aus ‚Marxistischer‘ Sicht nicht um Probleme des ‚Historismus‘ (s.o.), vielmehr um ganz konkrete Probleme gesellschaftlicher Art mit bitteren Konsequenzen für bestimmte Menschengruppen, die zum Feindbild deklariert wurden und immer noch werden.
Es scheint so, als ob die Hauptthese Knöbls nicht bloß dem Diskussionsstand der (zunächst) bürgerlichen Geschichtsphilosophie nicht ganz gerecht werden kann, was auch schlicht Ausweis darüber sein könnte, dass sich Soziologie und Philosophie im laufenden Betrieb gegenseitig nichts mehr zu sagen haben, trotz aller marketingtauglichen Begriffs-Deckelchen wie Interdisziplinarität. Nun muss das der Anlage des Werkes aber noch keinen Abbruch tun, wenn die dort verhandelten Autoren selbst die o. g. Begriffsfolie von Geschichtsphilosophie abpausten. Spätestens wenn Knöbl allerdings auf die materialistische Geschichtsphilosophie zu sprechen kommt, bekommt die Folie ernsthaft risse und man fängt dann doch an zu stutzen, wie Hegel, Marx, Bloch und die ‚Frankfurter Schule’ frank und frei über ein und denselben Leisten geschlagen werden. Ein genauerer Blick auf Ernst Bloch mag zunächst hilfreich sein, dem der Vorwurf der politischen Instrumentalisierung wie Simplifizierung angetragen wird (s. o). Dafür zieht Knöbl ein Zitat aus „Erbschaft dieser Zeit“ heran (S. 212), um dann die Blochschen Reflexionen über „Klassenwidersprüche“ als „eindimensionale Sicht“ festzuschreiben, da dort die Geschichte einer „bestimmten Linie“ folge, ohne erkenntnistheoretisches Fundament (S. 123). Das letzteres an vielen anderen Stellen und sehr ausführlich im Werke Blochs diskutiert ist, und zwar vor allem dort, wo es um das Verhältnis von Subjekt und Objekt geht, soll hier nicht rezipiert werden, darum gleich der Verweis auf das von Knöbl verwendete Zitat, das auf der nächsten Seite bei Bloch wie folgt kontinuiert: Die subjektive Erscheinung des Arbeiters, so heißt es da, „sein subjektiver Faktor sind nicht gestaute Wut, sondern der klassenbewußte revolutionäre Prolet. Seine objektive Erscheinung, sein objektiver Faktor sind nicht untergehender Rest oder auch unaufgearbeitete Vergangenheit, sondern verhinderte Zukunft. Nämlich das Dasein des Proletariers selbst, das Mißverhältnis zwischen kapitalistisch entfesselten Produktivkräften zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die Krise“. Hier geht es keineswegs um politische Agitation. Zum Thema gemacht ist das geschichtliche Unterlaufen eines klassenbewussten Gedächtnisses und wie dieser Umstand in einem Subjekt unheilvoll prozessiert, das Einsicht in seine Produktionsbedingungen erlangen will, aber daran scheitert. Was bessere Zukunft sein könnte, dämmert nicht auf, weil die Spannung zwischen dem was ist, und dem was sein könnte, aber noch nicht wurde, durch langwierige und historisch entwickelte Konstitutionszusammenhänge von Lohnarbeit und Kapitallogik (die freilich weiter auszufalten wäre) vermittelt ist. Dabei legt sich die Analyse Blochs nicht dogmatisch auf eine „tendenzielle Linearität“ (S. 121) fest. Die Richtung der Geschichte, und das ist doch immer die eigentliche theoretische Pointe bei Bloch gewesen, bleibt unentschieden. Als Voraussetzung dafür müsste sich Theorie in die Lage versetzen, die nach Franz Mehring nicht immer sinnfällige Tatsache zu antizipieren, dass mit dem Militarismus (oder anderen Erscheinungen) „eine furchtbare Maschine vorhanden ist, deren Kurbel nur von irgendwelchen Narren oder Verbrechern gedreht zu werden braucht, um die mühsame Kulturarbeit von Jahrzehnten niederzuschmettern“. Erst unter dieser Bedingung bleibt theoretisch begründbar jenes „Prinzip Hoffnung“, das als Lebensader auch Praxis durchläuft, mindestens durchlaufen kann, ohne Geschichtsphilosophie auf – und gerade mit Blick auf das Werk Walter Benjamins – einen abschneidenden „philosophischen Extremismus“ (s.o.) zu verkürzen.
Dahingehend lässt sich in der bisherigen kapitalistischen Geschichte, so ein materialistischer Einwand, vielleicht doch eine empirisch (und vielfach historisch belegte, siehe die Studien von E. P. Thompson u.a.) gesellschaftlich vermittelte Kontinuität (nicht Linearität!) festhalten im Sinne einer Wiederkehr von Krisenerscheinungen und Bruchlinien, die sich nicht aus der Historie wegtheoretisieren lassen und das harte Brot derjenigen Gelackmeierten war und ist, die sich unter den reproduzierenden Widersprüchen nicht einfach hinwegducken können. Trotz anhaltender Produktivitätssteigerungen: Wohnungsfrage, Geldentwertung, Neurose und Krieg scheinen die kapitalistische Gegenwart immer wieder (und immer noch) heimzusuchen. Erklärungsversuche darüber, woher eigentlich diese „Hundstage der Weltgeschichte“ (Herwegh) konkret rühren, müssten problematisieren, dass die von Aron angemahnten „erkenntnistheoretischen Fragen“, die einfach „ignoriert“ würden, in vielen Fällen realgeschichtlich und auf brutale Art und Weise getilgt werden, wie das abermalige Auslöschen von menschlicher Potentialität in der (nun) Ukraine (und anderswo) zeigt. Diese Anspruchshaltung wäre einzupflegen in das Verhältnis von Theorie und Historizität. Ansonsten würde der „Soziologie vor der Geschichte“ bloß eine weitere Geschichte (unter vielen anderen) angeflickt, womit der Unterschied zwischen bürgerlicher und dialektischer Geschichtsphilosophie grau würde. Damit ginge Theorie einer geschichtsphilosophischen Willkür auf dem Leim, die von der Resignation gegenüber einer (kapitalistischen) Geschichte kündigt, für die das Subjekt dann keinerlei Haftung mehr übernehmen müsste.
Fazit
Wolfgang Knöbl legt hier einen im besten Sinne voraussetzungsvollen Beitrag vor zum Verhältnis von Sozialtheorie und Geschichte, der sich als historische Entwicklung des sozialwissenschaftlichen Denkens lesen lässt. Problematisiert wird eine immer noch im Werden befindliche Disziplin im Lichte ihrer z.T. unterbliebenen Reflexion über sich selbst. Erinnert wird man dabei unweigerlich an Friedrich Tenbruck und sein Postulat, dass es nicht Aufklärung durch die Sozialwissenschaften benötige, sondern Aufklärung über die Sozialwissenschaften.
Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 12.07.2022 zu:
Wolfgang Knöbl: Die Soziologie vor der Geschichte. Zur Kritik der Sozialtheorie. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2022.
ISBN 978-3-518-29975-3.
Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft - 2375.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29365.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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