Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht
Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Kleve, 09.11.2022
Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie.
UTB
(Stuttgart) 2022.
4. überarbeitete u. ergänzte Auflage.
314 Seiten.
ISBN 978-3-8252-5773-6.
D: 23,00 EUR,
A: 23,70 EUR,
CH: 29,90 sFr.
Reihe: Leicht gemacht.
Thema
Die soziologische Systemtheorie, die Niklas Luhmann zwischen den 1960er und 90er Jahren als Lehrstuhlinhaber an der Universität Bielefeld entwickelt hat, gilt nicht nur als ein äußerst komplexes Theorieprogramm, sondern zugleich als schwer rezipierbar. Die Hürde, in diese Theorie einzusteigen, sich einen Überblick zu verschaffen oder dieses Konzept gar als Werkzeug für eigene sozialwissenschaftliche Forschungen zu nutzen, erscheint sehr hoch. Dies hat mindestens mit dreierlei zu tun:
- Erstens kreierte Luhmann – zumeist im Anschluss an andere Disziplinen, wie etwa Biologie, Philosophie oder Mathematik – neue Theoriemodelle zur Beschreibung und Erklärung sozialer Zusammenhänge, die er zudem mit zumindest in den Sozialwissenschaften bis dahin unbekannten Begriffen (z.B. Autopoiesis oder strukturelle Koppelung) konzipierte.
- Zweitens ist das Theoriedesign, wie das Konzept, selbst zirkulär bzw. rekursiv gebaut, sodass das Theorieverständnis bei den Rezipierenden erst allmählich entsteht oder immer wieder neu eingestellt werden muss, da sich durch weitere Lektüre wiederum neue, ergänzende und differenzierende Zusammenhänge ergeben können.
- Und drittens ist das Werk Luhmanns extrem breit, hatte Luhmann doch den Anspruch, über alle sozialen Sachverhalte systemtheoretische Perspektiven zu entwickeln. So stellt sich dem Einsteiger die Frage, mit welcher Lektüre er beginnen soll, um die Luhmann-Rezeption zu starten.
Aufgrund dieser Situation bietet es sich an, Einführungen in die Luhmannsche Theorie zu schreiben, von denen es tatsächlich zahlreiche und recht unterschiedliche gibt; die hier vorliegende ist sicherlich eine der interessantesten. Denn die Autorin liefert nicht nur einen üblichen Text, sondern reichert diesen mit Bildern, Fotos und Comics an, die die „trockene“ Theorie in ansprechender Weise auch ästhetisch-künstlerisch veranschaulicht.
Autorin
Die Autorin dieser Einführung, Margot Berghaus (geb. 1943), ist Sozial- und Kommunikationswissenschaftlerin sowie habilitierte Soziologin, die zudem als Künstlerin von Fotomontagen und Gemälden tätig ist. Sie war von 1986 bis 2006 Professorin für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Diese medien- und kommunikationswissenschaftliche Expertise von Berghaus prägt das Buch, wie ich noch konkretisieren werde.
Aufbau und Inhalt
Das ca. 300 Seiten lange Werk, das 2001 in der 1. und nun in der 4., überarbeiteten und ergänzten Auflage vorliegt, ist in 21 Kapitel gegliedert.
Es startet im Kapitel 1 mit einer knappen Einführung zum Umgang mit der Lektüre selbst. Dabei wird ein Grundprinzip benannt und exemplarisch veranschaulicht, auf das alle unsere Weltzugänge nach der Systemtheorie basieren, eben auch diese Theorie und das vorliegende Buch: Reduktion von Komplexität.
Das Kapitel 2 befasst sich mit der Person und dem umfangreichen Werk von Niklas Luhmann, in dem die Erarbeitung einer Theorie der Gesellschaft im Mittelpunkt steht, also über alle sozialen und damit gesellschaftlichen Sachverhalte Beschreibungen und Erklärungen zu entwickeln, die sich wiederkehrenden Mustern einfügen.
Mit dem Kapitel 3 wird diese Theorie in groben Umrissen in ihren Grundlagen, etwa hinsichtlich der Unterscheidung von biologischen, psychischen und sozialen Systemen, vorgestellt.
Das Kapitel 4 widmet sich dem Grundbegriff „System“ und zeigt, dass es hier letztlich immer um eine Unterscheidung geht, nämlich jene zwischen System und Umwelt.
Da Luhmann vor allem soziale Systeme fokussiert, werden diese im Kapitel 5 ausführlicher unter die Lupe genommen.
Folglich bietet es sich an, die Operation, die das Soziale ausmacht, nämlich Kommunikation, in dem Verständnis der Luhmannschen Theorie im Kapitel 6 umfangreicher zu behandeln.
Das Kapitel 7 ist gerade für eine Luhmann-Einführung naheliegend, die kommunikations- und medienwissenschaftlich ausgerichtet ist; denn hier geht es um das Thema „Anschlusskommunikation“. Kommunikation, hat sie einmal begonnen, läuft und läuft – selbst dann, wenn sie gestoppt werden soll, wirkt dies kommunikativ.
Die Kapitel 8 („Doppelte Kontingenz und Medien“) und 9 („Sinn“) skizzieren, wie Kommunikation sich ordnet, wie trotz Komplexität Strukturen entstehen, also Redundanzen von Handlungen.
Die Kapitel 10 bis 19 zeigen mit aller Deutlichkeit, dass das Buch von einer Wissenschaftlerin verfasst ist, die den Blick auf die öffentliche Kommunikation legt, denn hier werden folgende Themen bearbeitet: Sprache (Kapitel 10), Schrift (Kapitel 11), Buchdruck (Kapitel 12), Elektronische Medien (Kapitel 13), Massenmedien (Kapitel 14), Nachrichten und Berichte (Kapitel 15), Werbung (Kapitel 16), Unterhaltung (Kapitel 17), Massenmedien, Fortsetzung (Kapitel 18) und Öffentliche Meinung (Kapitel 19).
Das Buch endet mit zwei abschließenden Kapiteln: Im Fazit I wird die gesellschaftliche Selbstbeschreibung als Konstruktion der bzw. durch die Gesellschaft veranschaulicht und im Fazit II erfolgt eine abschließende Beschäftigung mit der Evolution von Kommunikation und der Gesellschaft. Wie geht es mit Luhmanns Theorie weiter bzw. mit der Gesellschaft, auf welche sie sich diese bezieht, ist die Frage am schließlich fokussiert wird?
Diskussion
Wir leben in einer äußerst komplexen Gesellschaft, die trotz aller Differenzierungen, regionalen, strukturellen, personellen, kollektiven oder gruppenbezogenen Spaltungen, durch Kommunikation zusammengehalten wird. Kommunikation ist das umfassende soziale Medium, das über Mitteilungen Informationen erzeugt, die von den zahlreichen Rezipienten, psychischen wie sozialen Systemen, in je eigener Weise verstanden werden. Dabei verläuft Kommunikation in den unterschiedlichen Systemen der Gesellschaft auch sehr unterschiedlich, etwa über die Kanäle der digitalen Techniken, des Buchdrucks, der Schrift, der Sprache, der bildlichen Darstellungen oder – ganz archaisch – nonverbal. Die Stärke dieses Buches ist es, dass es Kommunikation in seiner fundamentalen Bedeutung für die Gesellschaft auf Basis der Systemtheorie Luhmanns kenntlich macht.
Mit dem kommunikationstheoretischen Schwerpunkt hat Margot Berghaus einen naheliegenden Fokus gesetzt. Dieser ist nicht nur deshalb so passend, weil er die zentrale Operation sozialer Systeme nach der soziologischen Systemtheorie ins Zentrum stellt, sondern auch daher, weil sich zentrale Probleme unserer heutigen sozialen Welt um die Chancen und Grenzen von Kommunikation drehen. Niemals hatten wir solche vielfältigen Möglichkeiten, Kommunikationen, also Mitteilungen von Informationen, zu erzeugen und zu empfangen. In welcher Weise wir diese Kommunikationen verstehen, wie wir also aus der Komplexität der sozialen Welt auswählen und das Ausgewählte in für uns rezipierbarer Form reduzieren und rezipieren, versteht sich keineswegs von selbst, ist höchst unsicher und kontingent, also innerhalb bestimmter Möglichkeitsräume immer auch anders realisierbar. Genau das wird in dem Einführungsbuch systematisch und gut lesbar vorgeführt.
Wer sich durch dieses Buch hindurchbewegt hat, ist gut gerüstet, Luhmann im Original zu lesen – vielleicht bietet es sich für einige Leser/​innen auch an, dies parallel zur Einführungslektüre bereits zu versuchen.
Fazit
Wer eine Einführung in die Luhmannsche Theorie sucht, in der vor allem die kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektive leitend ist, findet in dem Werk von Margot Berghaus eine passende wie sehr anregende Lektüre. Neben der eingängigen und gut lesbaren Schreibweise der Autorin lockern die vielen Visualisierungen, die Bilder, Übersichten, Grafiken und Comics, das Lesen in hilfreicher Weise auf. Es handelt sich also um einen ersten Zugang zur soziologischen Systemtheorie, den ich ohne Einschränkungen empfehlen kann.
Rezension von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
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Zitiervorschlag
Heiko Kleve. Rezension vom 09.11.2022 zu:
Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. UTB
(Stuttgart) 2022. 4. überarbeitete u. ergänzte Auflage.
ISBN 978-3-8252-5773-6.
Reihe: Leicht gemacht.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29376.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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