Ingeborg Hedderich, Gottfried Biewer et al. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik
Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 23.08.2022

Ingeborg Hedderich, Gottfried Biewer, Judith Hollenweger, Reinhard Markowetz (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. UTB (Stuttgart) 2022. 2. aktual. u. erweiterte Auflage. 726 Seiten. ISBN 978-3-8252-8804-4. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 48,70 sFr.
Thema
Dieses Handbuch ist nun 6 Jahre nach seinem ersten Erscheinen in einer zweiten Auflage erschienen. Zu der Erstauflage gibt es bereits eine Rezension (https://www.socialnet.de/rezensionen/​19265.php), die im Wesentlichen auch für die zweite Auflage gilt, weil die Veränderungen gegenüber der ersten Auflage nicht gravierend sind.
Herausgeber:innen
Herausgegeben wurde das Buch von Autor:innen aus Zürich, Berlin bzw. München: Prof. Dr. Ingeborg Hedderich (Universität Zürich), Prof. Dr. Gottfried Biewer (Humboldt-Universität Berlin), Prof. Dr. Judith Hollenweger (Pädagogische Hochschule Zürich)und Prof. Dr. Reinhard Markowetz (Ludwig Maximilians Universität München).
Veränderungen gegenüber der Erstauflage
Der Umfang ist von 704 auf 726 Seiten gestiegen, aber das Inhaltsverzeichnis und der Aufbau des Buches sind gleich geblieben. Einige Verfasser_innen von Beiträgen der Erstauflage sind beruflich nicht mehr aktiv und dafür haben andere Kolleg_innen Beiträge verfasst, wobei sich die Überschriften des jeweiligen Beitrages und damit auch die inhaltlichen Vorgaben entweder gar nicht oder nur unwesentlich verändert haben. Das Buch hat demnach nach wie vor 117 Beiträge, verfasst von 138 Autor:innen. Die Autor:innen wurden gebeten, gegenüber der Erstauflage ihre Beiträge in den Bereichen Theorie, Forschung, gesellschaftliche Entwicklung und Literatur zu aktualisieren, was auch der Fall ist.
Aufbau
Die Herausgeber stellen in einer sehr kurzen Einführung Intention und Konzept des Handbuches vor (S. 15 f.). Das Buch ist insgesamt in 4 große Abschnitte unterteilt, wozu es weitere Unterkapitel und verschiedene Beiträge gibt. Die 4 Abschnitte sind:
- Sonderpädagogik als Wissenschaft im Wandel (19 ff.)
- Inklusion in Erziehungs- und Bildungsprozessen (173 ff.)
- Inklusion in der Gesellschaft (399 ff.)
- Neuere Zugänge zu Inklusion, Diversität und Behinderung (571 ff.)
Es folgen ein Sachregister (717 ff.) und ein Verzeichnis der Autor:innen (723 ff.).
Jedem dieser Abschnitte ist ein generalisierender Beitrag vorangestellt, der wesentliche Begrifflichkeiten aufgreift und erörtert, bevor das jeweilige Thema in den Unterkapitel mit den diversen Beiträgen vertieft und erweitert wird.
Der erste Abschnitt Sonderpädagogik als Wissenschaft im Wandel schlägt einen Bogen von Historie zu Theorie und Ethik, greift Leitbilder auf und thematisiert Klassifizierungssysteme und Behinderungsbegriffe. Unter der Überschrift Leitbilder werden Konzepte wie Normalisierung, Selbstbestimmung, Empowerment, Integration, Partizipation und Lebensqualität verstanden.
Inklusion in Erziehungs- und Bildungsprozessen ist das Leitthema des zweiten Abschnitts mit den Untergliederungen: Entwicklungslinien inklusiver Pädagogik, Entwicklungsbereiche und Förderschwerpunkte, Bildungsorte und Bildungsprozesse, Handlungsfelder und Herausforderungen. Im Bereich der Bildungsorte und Bildungsprozesse wäre ein Beitrag zu Kinder- und Jugendhilfe wünschenswert, denn Menschen mit Beeinträchtigungen sind auch dort vielfach anzutreffen und die (teil-) stationäre Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Ausdifferenzierungen ist ebenso als Bildungsort zu verstehen.
Der dritte Abschnitt hat eines der Hauptthemen des Buches zum Inhalt: Inklusion in der Gesellschaft. Hierzu gehören die Unterkapitel: Problemlagen, Lebensbereiche, Lebensspanne und Unterstützungsformen. Die Lebensbereiche greifen die Handlungsfelder Familie, Sexualität, Institutionalisiertes Leben, staatsbürgerliches Leben, Arbeit, Wohnen sowie Freizeit auf.
Im vierten Abschnitt geht es um Interdisziplinäre und transdisziplinäre Zugänge: Internationale Perspektiven und Fragestellungen, neuere Forschungszugänge zu Inklusion, Behinderung und Differenz sowie neuere Forschungszugänge zu Inklusion und Exklusion in sozialen Systemen.
Diskussion
Das Buch bietet eine große Breite der relevanten Themen im Kontext Inklusion und Behinderung(en). Neben den theoretischen und strukturellen Zusammenhängen kommen die diversen Lebenslagen und Handlungsfelder gut zur Sprache. Die vorgegebene Systematik der Artikel (vorweg immer eine kurze Zusammenfassung) sowie der systematische Aufbau erlauben den Leser_innen eine schnelle Orientierung.
Die Herausgeber:innen zeigen den Bogen auf, indem sie das „Prinzip ‚Inklusion‘ als ‚Anerkennung des Rechts auf Einbezogensein‘ und das Prinzip ‚Diversität‘ als Anerkennung des Rechts auf Anderssein‘“ (S. 15) umreißen als aktuelle Bezugspunkte von Behinderung, Vulnerabilität und gesellschaftlicher Beteiligung (vgl. ebd.).Es wäre hilfreich gewesen, wenn es -neben dem Beitrag ‚Inklusion/​Exklusion – theoretische Präzisierungen‘ (S. 409 ff.) einige Ausführungen der Herausgeber:innen zu Inklusion gegeben hätte, was den Bezugsrahmen des Buches über die kurzen Sätze in der Einleitung hinaus deutlich gemacht hätte.
Es mag in der Vita des Rezensenten begründet sein (Diplom-Sozialpäd. mit langer beruflicher Tätigkeit in der Behindertenhilfe wie auch Pflegevater von ‚besonderen‘ Kindern), dass hier ein weiterer Blick zugrunde gelegt wird, als nur auf Sonderpädagogik. Insofern fällt auf, dass der Fokus in den Beiträgen häufig auf Menschen mit intellektuellen oder physischen Beeinträchtigungen gerichtet ist und der Bereich der psychischen Behinderungen eher ausgespart wird. So gibt es zum Sachwort seelische Behinderung nur einen einzigen Verweis. Der Aufsatz ‚Emotionale und soziale Entwicklung‘ (S. 214 ff.) beispielsweise bezieht sich als Förderschwerpunkt nur auf den Bereich Schule.
Auch das Stichwort informelles Lernen oder auch lebenslanges Lernen ist im Sachwortregister gar nicht enthalten, dabei wird diesem Bereich doch inzwischen eine erhebliche Bedeutung zugewiesen – als Ergänzung bzw. Erweiterung zum institutionellen Lernen, aber auch als Teil einer Sozialisation.
Inklusion als Potenzial gesellschaftlicher Teilhabe ist bekanntlich ein Gesellschaftsprojekt für und an alle Menschen, z.B. auch im Kontext von zugewanderten und geflüchteten Menschen. Der Artikel zu ‚Migration‘ (S. 425 ff.) bezieht sich wiederum im Schwerpunkt nur auf Menschen mit Behinderungen und thematisiert kaum Inklusion als Zugang für unterschiedlichste Menschen in die Gesellschaft.
Vielleicht können einige genannte Aspekte bei einer weiteren Neuauflage berücksichtigt werden, aber dem Umfang eines Handbuches sind natürlich auch Grenzen gesetzt.
Fazit
Das Handbuch ist ohne Frage ein Standardwerk geworden, was mit seiner weitgesteckten Thematik und den diversen Fragestellungen und Handlungsfeldern auch berechtigt ist. Die sehr gute Systematik, sowohl von der Anlage des Buches her als auch der Aufbau der jeweiligen Beiträge, machen es den Leser:innen leicht, sich zurechtzufinden und Zusammenhänge zu erschließen und herzustellen. Das Buch ist einerseits als Nachschlagewerk so angelegt, dass Studierende und Lehrer:innen hier für eine Übersicht oder eine Orientierung hinsichtlich der Breite der Disziplin gute, fundierte Informationen finden und andererseits dass wissenschaftlich Tätige und Lehrende in diesem konzeptionellen Werk viele Hinweise und Ausblicke auf die bestehenden und anstehenden Forschungen und theoretischen Diskussionen finden. Insofern ist der Bogen zwischen Nachschlagewerk und fundiertem Handbuch hinsichtlich der Theorie- und Disziplinentwicklung sehr gut gelungen.
Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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