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Angelika Wiehl, Frank Steinwachs (Hrsg.): Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik

Rezensiert von Prof. Dr. Heiner Ullrich, 13.07.2022

Cover Angelika Wiehl, Frank Steinwachs (Hrsg.): Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik ISBN 978-3-8252-5822-1

Angelika Wiehl, Frank Steinwachs (Hrsg.): Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik. UTB (Stuttgart) 2022. 319 Seiten. ISBN 978-3-8252-5822-1. D: 21,90 EUR, A: 22,60 EUR, CH: 29,50 sFr.

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Thema

Es ist das Anliegen der Herausgeber, für Studierende der Waldorfpädagogik an Seminaren und Hochschulen sowie für Lehrende und Praktizierende der Jugend- und Schulpädagogik einen aktuellen Überblick zu geben über die anthropologischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen der Waldorf-Jugendpädagogik und ihre Ausstrahlung auf Bildungserfahrungen in Religion, Philosophie, Kunst, digitale Lebenswelten, Fragen von Gender und Identität. Der vorliegende Band ergänzt die beiden bisher erschienenen Sammelbände “Waldorf-Schulpädagogik“ (2019) und „Waldorf-Kindheitspädagogik“ (2020).

Herausgeberin und Herausgeber

Dr. Angelika Wiehl ist Dozentin für Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der Alanus Hochschule am Studienzentrum Mannheim. Sie hat eine Dissertation mit dem Titel „Propädeutik der Unterrichtsmethoden in der Waldorfpädagogik“ (2015) vorgelegt, die sich nahezu ausschließlich auf das Werk Rudolf Steiners bezieht.

Dr. Frank Steinwachs ist Dozent für Literatur- und Geschichtsdidaktik und für Grundlagen der Waldorfpädagogik am Seminar für Waldorfpädagogik Hamburg. Er hat promoviert mit einer Dissertation zum Thema „Mittelalterliche Literatur an Waldorfschulen“ (2020).

Entstehungshintergrund

Im Jahre 2019 beging die Waldorfpädagogik ihren 100. Geburtstag. Als der Anthroposoph und Lebensreformer Rudolf Steiner im September 1919 für die Kinder der Arbeiterschaft der Waldorf-Astoria Zigarrenfabrik in Stuttgart die erste Freie Waldorfschule eröffnete, hätte er sich auch in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass es heute weltweit ca. 1.200 Waldorfschulen gibt, davon ca. 250 in Deutschland. Unter den Privatschulen mit besonderer pädagogischer Prägung, deren Wurzeln in der Epoche der Reformpädagogik liegen (z.B. Waldorf-, Montessori-, Jenaplan- und Freie Alternativschulen), gibt es seit 1973 in Deutschland einzig für die Waldorfschulen eine eigene grundständige Lehrerausbildung. Sie erfolgte über drei Jahrzehnte in einem seminaristischen Rahmen, den die an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten stattfindende zweiphasige staatliche Lehrerbildung schon lange hinter sich gelassen hatte. In den Seminaren für Waldorfpädagogik werden nach wie vor die meisten Lehrpersonen an Waldorfschulen in Vollzeitkursen oder berufsbegleitend ausgebildet. Im Zusammenhang mit der Umstellung auf konsekutive Bachelor- und Masterstudiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses konnten auch zwei frühere waldorfpädagogische Bildungsstätten durch erfolgreiche Akkreditierungen ihrer Studiengänge den Hochschulstatus erlangen (Freie Hochschule Stuttgart, Alanus-Hochschule Alfter). Sie gelten heute als die Leuchttürme einer nunmehr programmatisch auch wissenschaftlich ausgerichteten Waldorflehrer-Ausbildung in Deutschland; eine dritte Hochschulgründung in Mannheim wurde vom Wissenschaftsrat im Jahre 2011 untersagt, weil sie „auf einer grundsätzlichen Ebene nicht die für eine Hochschule erforderliche Wissenschaftlichkeit [erreicht]“ (Wissenschaftsrat Drucksache 1010–11, 28.01.2011) [1]. Die Eigentümlichkeit der Ausbildungsgänge zum Waldorflehrer – seien Sie seminaristisch oder auf Hochschulniveau – liegt einerseits in ihrer Einphasigkeit und andererseits in ihrer „Ganzheitlichkeit“, genauer: in der Gleichzeitigkeit des Studiums von Bildungswissenschaften und waldorfpädagogischer Anthropologie, der Einübung in künstlerische Tätigkeiten (Sprachgestaltung, Singen, Eurythmie, Malen, Zeichnen und Plastizieren usw.) und der praktischen Bewährung im Unterricht einer Waldorfschule. Ihrem Wissenschaftsanspruch gemäß betonen die Lehrpersonen an den Freien Hochschulen, dass sie die für die Waldorfpädagogik grundlegende Anthroposophie Rudolf Steiners nicht dogmatisch-einengend, sondern „heuristisch“, d.h. den Forschungsstand der Humanwissenschaften erweiternd, lehren (Loebell 2013).

Aufbau

Auch auf die Frage, ob und wie Waldorfpädagogik an einer wissenschaftlichen Hochschule im Dialog mit den Bildungswissenschaften, insbesondere mit der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Adoleszenz und Jugend, nicht dogmatisch-beschränkend, sondern „heuristisch“-erweiternd gelehrt werden kann, gibt der von Angelika Wiehl und Frank Steinwachs herausgegebene Sammelband „Studienbuch Waldorf-Jugend“ keine einheitlichen Antworten. Er beansprucht, neben der Neuakzentuierung bekannter Themen der Waldorfpädagogik „aktuelle Diskurse – wie phänomenologische Seelenkunde, Fähigkeitenpotenzial, Latenz, Spiritualität, Übergangsrituale, Postkolonialismus, Dialogkultur und Wertschätzung, Gender, Jugend an den Rändern, individuelle Stimmen der Jugend – mit Blick auf die Weiterentwicklung der (Waldorf-)Jugendpädagogik“ [zu behandeln] (8). Alle Beitragenden sollen „bewusst anthroposophische Gesichtspunkte“ einbeziehen, um deren Relevanz für das von ihnen behandelte Thema zu erweisen. Von den zweiundzwanzig Beiträgern des wiederum sorgfältig redigierten und übersichtlich aufgebauten Bandes sind allein sieben Lehrende tätig am Studienzentrum Mannheim, fünf sind Dozenten an Waldorfseminaren, vier Lehrpersonen an Waldorfschulen und zwei Mitarbeiter:innen an der Jugendsektion des Goetheanums in Dornach. Naturgemäß kann hier im bescheidenen Rahmen einer Rezension nicht jeder einzelne Beitrag des Bandes erwähnt und separat gewürdigt werden.

Inhalt

1. Den kognitiven Kern des Bandes bildet das anthroposophische Konzept des Jugendalters als physischer, psychischer und geistiger Metamorphose der Person. Zu Beginn des dritten Jahrsiebts erlangt das Ich des jungen Menschen gemäß der okkult-spirituellen Menschenkunde Rudolf Steiners im Prozess seiner (Re-)Inkarnation die „Erdenreife“. Mit der nun erfolgenden „Geburt des Astralleibes“ werden die „geistigen Bildekräfte“ frei und verlangen nach individueller Gestaltung. Nunmehr wird der heranwachsende Mensch aus dem inneren geistigen Leben in die äußere Welt hinausgeworfen und „erwacht im Fühlen für das eigene Entscheiden und die Brisanz der damit verbundenen Verantwortung für sich und die Welt“ (Stemplinger, S. 22). Die sich nur einer „phänomenologisch-goetheanistischen Seelenkunde“ erschließende Metamorphose der Person vollzieht sich physisch durch die Dominanz des „Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems“, die in der hormonell bedingten Reifung der Geschlechtsorgane und im Längenwachstum zum Ausdruck gelangt. Gleichzeitig erwacht im heranwachsenden Menschen eine neue innere Instanz zum Selbstbewusstsein: die Seele. „Damit wandelt sich sein Lebensgefühl: Autoritäten werden zurückgewiesen, tradierte Normen in Frage gestellt. … In dieser dramatischen Phase kann eine Orientierung nicht mehr von außen kommen, sondern allein von innen“ (Schmelzer/​Wellershoff-Schuur, S. 88). Im „Erlebnis der Freiheit“ entwirft der Jugendliche seine neue Identität und setzt sich dabei intensiv mit menschheitlichen Idealen auseinander. Dabei spielen spirituelle Erfahrungen eine zentrale Rolle, in denen eine „Begegnung mit den universalistischen Idealen menschlicher Solidarität, zwischenmenschlicher Wertschätzung und freien Erkenntnisbemühens“ (ebd. S. 83) geschieht.

2. In der ersten kognitiven Zone gleichsam um diesen Kern herum bzw. im ersten Teil des Bandes („Grundlagen der Waldorf-Jugendpädagogik“) wird dieses dogmatische Konzept der Jugendphase als seelischer Metamorphose der Person und als Beginn einer idealistischen (Selbst-)Erziehung zur Freiheit weitgehend Steiner-immanent entfaltet. Angelika Wiehl führt zur methodischen Begründung der anthroposophischen Jugendforschung auf Steiners Goethe-Verständnis zurückgehend ein „neues Denken“ in „lebendigen Begriffen“ ein, das im nachbildenden Anschauen der Phänomene das sie von innen bestimmende Seelisch-Geistige erkennen soll. Denn in den Gestalten der Natur und in der Entwicklung des Menschen wirken dieselben Ideen bzw. kosmischen Wesenskräfte. Dieses intuitive „lebendige Denken“ soll nach Wiehl als eine für die Bildung der Person wichtige Form des Wissens gerade im Jugendalter pädagogisch vermittelt und eingeübt werden. Petra Stemplinger rekonstruiert mit den „lebendigen Begriffen“ ihrer phänomenologischen Seelenkunde en détail Steiners okkultes („Geburt des Astralleibs“) und zugleich idealistisches („Empfänglichkeit für ideale Gebilde“) Konzept des Jugendalters. Wie schon zuvor Angelika Wiehl bezieht sie sich dabei fast ausnahmslos auf anthroposophische Literatur. Der Beitrag von Albrecht Hüttig über anthropologische Grundlagen des Erkenntnisaktes wirkt etwas erratisch. Er führt exegetisch in die idealistisch-theosophische Erkenntnistheorie und Denkmethodik Steiners ein, ohne deren besondere Relevanz für eine Waldorf-Jugendpädagogik konkret zu verdeutlichen. Eine für die waldorfpädagogische Anthropologie des Jugendalters wichtige „entwicklungspsychologische Annahme“ – die allerdings der normalwissenschaftlichen Erkenntnis nicht zugänglich ist – betrifft das Phänomen der „latenten Fragen“. Frank Steinwachs beschreibt diese „nicht konkret fassbare, erlebte Sehnsucht nach Kenntnissen und Erkenntnissen, die als Teil des Individuationsprozess angesehen werden kann“ (45). Die pädagogischen Antworten der Lehrpersonen auf die von den Schüler:innen nicht gestellten Fragen helfen jenen dabei, ihre Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Mit seinen, noch ganz im Bereich der okkulten Spekulation verbleibenden Reflexionen leitet Steinwachs schon über in den pädagogisch ergiebigeren zweiten Teil des Bandes.

3. in der zweiten, kognitiven Zone stehen im Fokus immer noch stark von anthroposophischen Prämissen bestimmte Gestaltungsformen bedeutsamer Bildungserfahrungen für die Jugendlichen in und außerhalb des Unterrichts. Albert Schmelzer und Ilse Wellershoff-Schuur gehen in ihrem inhaltlich dichten und schlüssigen Beitrag „Spiritualität im Jugendalter – eine Spurensuche“ davon aus, dass spirituelle Erfahrungen bei der Identitätsfindung Jugendlicher eine zentrale Rolle spielen. An einem Fallbeispiel interkultureller und interreligiöser Begegnung arbeiten sie heraus, welche „universalistischen Ideale“ hier für die sinnsuchenden Jugendlichen erfahrbar werden. Hier „erleben junge Menschen die Möglichkeiten, die in ihrer eigenen Spiritualität liegen […] als eine solche Erfahrung der Kohärenz, aus der sie immer wieder gestärkt hervorgehen können“ (92). Die übrigen Texte dieses Teils sind stärker schulpädagogisch ausgerichtet. Michael Knöbel entfaltet gut nachvollziehbar die „phänomenologisch-goetheanistischen Grundlagen des naturwissenschaftlichen Unterrichts“ am Beispiel der Pflanzenmetamorphose, die von ihm in einen engen Zusammenhang gestellt wird mit der „seelischen Metamorphose“ im Jugendalter. Gemäß Goethes idealistischer Morphologie gelangt der Forschende hier durch das Anschauen der Gestalten der Natur (natura naturata) zur geistigen Teilhabe an ihren Schaffenskräften (natura naturans), die nach Steiner auch die seelische Entwicklung des jugendlichen Menschen bestimmen. „Wenn es gingt, dass dieses Nachschaffen den Nachschaffenden bewusst wird, sind wir dem Geheimnis des Lebendigen ein Stück näher gekommen. (110). Den „physischen Augen“ einer messenden Normalwissenschaft bleibe dagegen dies alles verborgen; sie generiere eben nur Verfügungswissen anstelle des anthroposophischen Bildungswissens. Um das Erleben der Metamorphose geht es auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern. Im Deutschunterricht der elften Klasse steht die „Parzival-Epoche“ im Mittelpunkt. Sophie Pannitschka schildert anhand einer Szene aus dem mittelalterlichen Roman von Wolfram von Eschenbach „Parzivals Lebensweg als Exempel biografischen Lernens“. Für die Lernenden ist „die Beschäftigung mit dem Parzival-Roman eine Hinleitung zur aktiven Selbstermächtigung des eigenen Lebenslaufs“ (200). Manchem Leser stellt sich hier die Frage, ob diese in hochkultureller Tradition stehende Wahl des Bildungsinhalts wirklich für heutige Jugendliche noch Gegenwartsbedeutung beanspruchen kann. Diese ist sicher fraglos gegeben beim Thema des Beitrags von Christine Veicht „Performative Bildungspotenziale der Theaterspiele an Waldorfschulen“. Als ein herausragendes Proprium der Waldorfpädagogik dürfen die in den achten und zwölften Klassen an den bildungsbiografisch bedeutsamen Übergängen stattfindenden mehrwöchigen Theaterprojekte gelten. Das Zwölftklass-Spiel eröffnet den Jugendlichen „einen multikreativen Freiraum, in dem sie ihre vielfältigen künstlerischen Neigungen und Fähigkeiten erproben und diese synenergetisch im gemeinschaftlichen Spiel der Künste […] in Erscheinung bringen können“ (164). Das Theater bietet in der Schule einen Freiraum für die Erprobung neuer grenzüberschreitender Formen der Identität vor der Zuschauerschaft der Eltern und Peers. Es reiht sich ein in die Vielzahl der strikt festgelegten performativen Riten und Übergangsrituale an der Waldorfschule – vom täglichen Sprechen des Morgenspruchs über die Monatsfeiern, Klassenfahrten und Praktika bis zu den Klassenspielen. Hierüber handelt sehr instruktiv der ergänzende Beitrag der Herausgeberin Angelika Wiehl „Übergangsrituale und Individuation im Jugendalter“. Schließlich sei zur Abrundung uns zugleich Überschreitung des strikt waldorfpädagogischen Drehbuchs noch auf die in ihrer undogmatischen Offenheit bemerkenswerten Texte „Jugendpädagogik einer digitalen Lebenswelt“ von Robin Schmidt und „Jugend in einer digitalen Welt“ von Ulrike Sievers verwiesen. Sie sind nicht allein von dem kulturkritisch getönten Ruf nach möglichst langer Medienabstinenz des Mainstreams der anthroposophischen Medienpädagogik bestimmt, sondern auch von der Zielsetzung der Mediensouveränität und des kreativen Umgangs mit den digitalen Medien im Jugendalter. Mit Fug und Recht gehen beide davon aus, dass es für Jugendliche heute schwieriger wird, eine von Digitalisierung und Kommerzialisierung unabhängige Identität auszubilden. Wenn „das Leben im Digitalen“ zur primären Wirklichkeit wird, dann werden einerseits die Ermöglichung unmittelbarer Erfahrung der Um- und Mitwelt, der Arbeit an der eigenen Biografie und der realen Begegnung mit Anderen zu pädagogische Herausforderungen. Andererseits sollte sich die Waldorf-Jugendpädagogik – so Ulrike Sievers – nicht „auf Maßnahmen der Schadensbegrenzung konzentrieren [… und] die Chancen der digitalen Technik dafür nutzen, Jugendliche miteinander in Verbindung zu bringen“ (247). Auch und gerade über digitale Verbindungen kann Gemeinschaft erlebt werden und Arbeit an interessanten Aufgaben erfolgen. Robin Schmidt entfaltet in seinem sachkundigen Beitrag systematisch das Spektrum der medienpädagogischen Lernfelder: Mediensouveränität (Kompetenzerwerb), Einführung in die Informatik (computer science) sowie Sicherheit und Gesundheit (Präventionspädagogik).

In der dritten und zugleich äußersten kognitiven Zone des Sammelbandes finden sich Beiträge, die über die waldorfpädagogische Sinnprovinz hinausgehen und mit ihren Themen an aktuelle bildungswissenschaftliche Diskurse anschließen. Dirk Rohde gibt in seinem Beitrag „Naturwissenschaften und Waldorfpädagogik im Jugendalter“ einen souveränen Überblick über die Aufgaben einer naturwissenschaftlichen Bildung heute und über die inhaltlichen, methodischen und organisatorischen Eigentümlichkeiten des in vielerlei Hinsicht „alternativen“ naturwissenschaftlichen Unterricht an Waldorfschulen. Dabei werden auch die Anschlüsse an das genetisch-exemplarische Lehren Martin Wagenscheins und an die Lehrkunstdidaktik deutlich betont. Lesenswert ist auch der durchaus auch waldorfkritische Text von Martin Rawson „Postkolonialismus – ein für die Selbstwerdung relevantes Thema“. Rawson geht von einem weiten Begriff von „Postkolonialismus“ aus, der „die Erfahrungen von Menschen [umfasst], die in den letzten 500 Jahren dem europäischen Kolonialismus unterworfen waren und deren Leben dadurch bis in die Gegenwart geprägt ist“ (208). Diese Marginalisierung durch eurozentrische, weiße und männliche Perspektiven umfasst auch die Formen des Wissens, der Kunst und der Religion. Rawson fordert von den Waldorfschulen die Entwicklung eines Verständnisses für postkoloniale Themen und von den Waldorfpädagogen, den heranwachsenden Schüler*innen für ihre „Selbstwerdung“ anstelle des eurozentrischen Verständnisses von Kulturgeschichte und Evolution den Zugang zu Werken anderer Kulturen zu ermöglichen. Einen ähnlichen Weg zu neuen Ufern in der Waldorf-Jugendpädagogik entwirft Larissa Beckel in ihrem Beitrag „Gender und Identität – Verständnisgrundlagen mit Bezug zur Waldorfpädagogik“. Sie rekonstruiert ideengeschichtlich stringent die Entstehung der Gender Studies und macht dann Vorschläge, wie die Waldorfschule „zu einem sicheren Ort“ werden kann, an dem Jugendliche offen zur eigenen sexuellen Identität stehen können und keiner Diskriminierung ausgesetzt werden. Dazu allerdings „bedürfen die Unterrichtskonzepte und –materialien einer gänzlichen Überarbeitung, um das Themenfeld Gender und Identität adäquat und zeitgemäß bearbeiten zu können“ (284). Einen, in seiner liberal-humanitären Ausrichtung und jugendpädagogischen Konkretisierung dazu passenden Beitrag über „Sexuelle Bildung – ein neues Paradigma“ liefert Ulrich Kaiser. Er bezieht sich – trotz seiner formalen Anlehnung an Schemata aus Steiners Anthropologie – inhaltlich gänzlich auf das „neue Paradigma“ einer umfassenden Sexualpädagogik für alle Lebensalter: „Dabei rücken Fragen nach dem Zusammenhang von Sexualität, Liebe und dem Beziehungsleben in den Vordergrund, ohne dass die nicht-direktive Aufgabe sexueller Erziehung verschwindet“ (72). Den Kern seiner Überlegungen fasst er in einer Tabelle der „Sexuellen Kompetenten“ (74) nach Karlheinz Valtl zusammen.

Diskussion

Aufs Ganze gesehen haben Wiehl und Steinwachs einen thematisch breit angelegten und inhaltlich anspruchsvollen Sammelband zur Waldorf-Jugendpädagogik herausgegeben, der besonders in seinen praxisbezogenen Texten viele Anregungen vor allem für die Schulpädagogik bereithält. Es fehlen allerdings weitgehend jugendpädagogische Beiträge zu außerschulischen Erziehungsbereichen. Der Hauptmangel des Bandes liegt in seiner theoretischen Engführung auf die vorwissenschaftliche Entwicklungslehre und auf das einseitig idealistisch-hochkulturelle Jugendbild Rudolf Steiners. Wenn anthroposophische Erkenntnisse dazu diene sollen, die sozialwissenschaftliche Jugendforschung zu erweitern, dann sollte diese zuvor auch den Autor*innen und Leserinnen des Bandes geläufig sein. Deshalb ist es m.E. unumgänglich, für die Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik eine Brücke zu den aktuellen theoretischen Ansätzen der Jugendforschung zu schlagen – z.B. zu den Konzepten der Adoleszenzkrise (Kramer/​Helsper 2013) und der Entwicklungsaufgaben der Jugendphase (Hurrelmann 2022) oder zumindest zu Standardlehrbüchern über das Jugendalter (Göppel 2019). Hier besteht dringender Nachholbedarf für Lehre und Forschung in der Waldorf-Jugendpädagogik.

Fazit

Literatur

Göppel, Rolf (2019): Das Jugendalter. Theorien, Perspektiven, Deutungsmuster. Stuttgart u.a.: Kohlhammer.

Hurrelmann, Klaus (2022): Lebensphase Jugend. 14. Aufl. Weinheim: Beltz Juventa.

Kramer, Rolf-Torsten, Helsper, Werner u.a. (2013): Das 7. Schuljahr. Wiesbaden: Springer VS.

Loebell, P. (2013): Zur wissenschaftlichen Ausbildung von Waldorflehrern. In: Barz, H. (Hrsg.): Unterrichten an Waldorfschulen. Wiesbaden: VS, S. 211–230.

[1] Der Mannheimer Lehrkörper wurde daraufhin auf dem Weg einer Institutsgründung von der Alanus Hochschule aufgenommen, und die ursprünglich als Hochschule geplante Einrichtung fungiert seitdem als Studienzentrum Mannheim der Alanus Hochschule. Am Seminar für Waldorfpädagogik in Hamburg können die Studierenden sowohl den traditionellen seminaristischen Studiengang als auch den Bachelor-Studiengang der Freien Hochschule Stuttgart absolvieren.

Rezension von
Prof. Dr. Heiner Ullrich
Institut für Erziehungswissenschaft
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Es gibt 4 Rezensionen von Heiner Ullrich.

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Zitiervorschlag
Heiner Ullrich. Rezension vom 13.07.2022 zu: Angelika Wiehl, Frank Steinwachs (Hrsg.): Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik. UTB (Stuttgart) 2022. ISBN 978-3-8252-5822-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29382.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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