Judith Miggelbrink, Daniel Mullis (Hrsg.): Lokal extrem Rechts
Rezensiert von Viktoria Kamuf, 18.12.2023

Judith Miggelbrink, Daniel Mullis (Hrsg.): Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen.
transcript
(Bielefeld) 2022.
284 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5684-8.
D: 29,00 EUR,
A: 29,00 EUR,
CH: 35,70 sFr.
Reihe: Sozial- und Kulturgeographie - 48.
Thema
Seit einigen Jahren lässt sich ein generelles Erstarken des Rechtsextremismus beobachten, von den Parlamenten über Straßenproteste hin zu alltäglichen Erfahrungen rechtsmotivierter Abwertung und Gewalt. Über die Ursachen dieser Regressionen wird teils kontrovers diskutiert. Dabei finden oftmals Verkürzungen statt, die der Komplexität des Problems nicht gerecht werden. So erscheint in der deutschen Debatte mal Rechtsextremismus als ein Problem allein “des Ostens”, mal wird extrem rechte Gewalt als Folge vor allem individuell-biografischer Brüche der Täter*innen erklärt. Doch die Ursachen extrem rechter Entwicklungen lassen sich weder pauschalisieren noch individualisieren.
Mit dem Sammelband “Lokal extrem rechts” gelingt den Herausgeber*innen Daniel Mullis und Judith Miggelbrink ein differenzierter Beitrag zu dieser sowohl öffentlich als auch in den Sozialwissenschaften geführten Debatte, der die Komplexität konkret abbildet. Sie sehen im Lokalen, also der Analyse lokaler gesellschaftlicher Ordnungen zwischen Alltag, zivilgesellschaftlicher Organisation, politischen Konstellationen und behördlichem Handeln, einen zentralen Ansatzpunkt, um extrem rechte Agitation und ihre gesellschaftliche Normalisierung nachvollziehen und erklären zu können. Dabei begreifen sie das Lokale als “Orte der Verdichtung von Gesellschaft und Herrschaftsverhältnissen mit all ihren Widersprüchen” (S. 10). Die Beiträge des Bandes stellen somit keine Aneinanderreihung voneinander isolierter lokaler Geschichten dar, sondern verdeutlichen aus der Perspektive vor allem qualitativer Forschungsansätze die gesellschaftliche Produktion und Einbettung lokaler (rechter) Konstellationen.
Herausgeber*innen
Beide Herausgeber*innen sind Humangeograph*innen. Daniel Mullis ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Er forscht dort unter anderem zu Geographien des Rechtsextremismus sowie dem Erstarken regressiver Politiken. Judith Miggelbrink lehrt und forscht an der TU Dresden unter anderem zu regionalen Peripherisierungsprozessen sowie zu Sicherheit und Grenzen.
Entstehungshintergrund
Die Initiative für den Sammelband entstand anschließend an eine Diskussion beim Fachforum “Der autoritäre Populismus in der Raumfalle” beim Deutschen Kongress für Geographie 2019 in Kiel und aufgrund der großen Resonanz auf einen Call für den Themenschwerpunkt “Rechte Raumnahme” in der Geographischen Zeitschrift.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband beginnt mit zwei einleitenden Kapiteln, in denen Zielsetzung und theoretische Rahmung des Bandes erläutert werden. Mullis und Miggelbrink nehmen im zweiten dieser Kapitel eine analytische Operationalisierung des Lokalen vor, das sie nicht nur als einen physischen Ort, an dem Dinge passieren, sondern als “Ort der Produktion von Gesellschaft” (S. 21) begreifen. Sie situieren den Band in der Tradition eines poststrukturalistischen Verständnisses von Subjektivierungsprozessen, die den Aushandlungsprozess zwischen gesellschaftlichen Normen, Strukturen und Machtgefügen sowie individuellen Identitätsfindungen und -deutungen beschreiben. Subjektivierung wird dabei als “notwendigerweise räumlich situierte Praxis” (S. 22) verstanden. Folglich werden drei Zugänge zum Lokalen herausgearbeitet:
- die Lokalisierbarkeit (rechter) Gesellschaftsmilieus, die einen räumlich situierten Resonanzraum für das Erstarken und die Normalisierung der extremen Rechten bieten können,
- die gebaute Umwelt, körperzentrierte Interaktionen sowie wahrgenommene alltägliche Normen als prägende und rahmengebende Gelegenheitsstrukturen für Subjektivierungsprozesse,
- multiskalare Kontexte des Lokalen, mittels derer die lokalen Ausprägungen gesellschaftlicher Strukturen analysiert werden können.
Die folgenden zwölf Beiträge betrachten die Verschränkungen, Interaktionen und die gegenseitige Bedingung dieser drei Perspektiven. Sie sind in drei Abschnitte gegliedert.
Der erste Abschnitt versammelt vier Beiträge, die sich mit der räumlichen Differenzierung rechter Einstellungen auseinandersetzen und dabei vor allem gegen einen Stadt-Land-Dualismus aussprechen. So wird zwar festgestellt, dass sich die Gelegenheitsstrukturen für rechte Normalisierungsgewinne zwischen großstädtischen und ländlich-kleinstädtischen Räumen grundlegend unterscheiden – entscheidend für den (Miss-)Erfolg extrem rechter Akteur*innen ist jedoch nicht die Größe des Ortes, sondern “die Konfliktfähigkeit von Stadtgesellschaften und Gemeinden” (Freiheit/​Sitzer/​Heitmeyer, S. 77). Angelehnt an Adorno ist somit Provinzialität als “zunächst raumunabhängige Geisteshaltung” zu verstehen, die sich “noch immer eher auf dem Land findet” (Belina, S. 56), jedoch nicht auf dieses beschränkt und genauso wenig deterministisch mit diesem verbunden ist.
Im zweiten Abschnitt stellen fünf Beiträge Beispiele rechter Raumaneignungen vor. Besonders deutlich werden hierbei die Gelegenheitsstrukturen für historische und aktuelle Normalisierungen extrem rechter Einstellungen, Aktivitäten und Ideologien herausgearbeitet. Sei es die “eingeübte Konfliktarmut und Entpolitisierung” (Dietrich/​Schuhmacher, S. 197) in ländlich-kleinstädtischen Gemeinden, die „positive Bewertung von Kompromissfindung, Synthese, Effizienz und Harmonie in den kommunalen Entscheidungsgremien” (Domann/​Nuissl, S. 212), der “Vorwurf der Nestbeschmutzung” (Salheiser/​Quent, S. 176) gegenüber antifaschistischen Akteur*innen, die Ermöglichung extrem rechter Dominanz im Zuge der akzeptierenden Jugendarbeit der 1990er Jahre (Zschoke) oder tourismusorientiertes Stadtmarketing als strategisches Einfallstor für revisionistische Geschichtsbilder und exkludierende Identitätsangebote (Kübler/Schilk/​Schwarz) – extrem rechte Normalisierungsgewinne sind immer durch gesellschaftliche Normen, Strukturen und Machtgefüge gerahmt und produziert.
Der dritte Abschnitt beleuchtet in drei Beiträgen methodische Herausforderungen für eine qualitative Rechtsextremismusforschung anhand der Möglichkeiten geoinformationeller Datenanalysen (Helal), der Beobachtung des Stickerns als räumliche und kommunikative Praxis von rechten Akteur*innen und ihren Gegner*innen (Altmeyer) sowie der teilnehmenden Beobachtung von Gegenprotesten (Zimmer). Der Beitrag von Zimmer sticht dabei besonders durch seine vertiefte Reflexion des Selbstverständnisses des Autors als Forscher, Pädagoge und Demonstrationsteilnehmer hervor.
Diskussion
Der Sammelband besticht vor allem durch seine Aufhebung und (im positivsten Sinne) Verkomplizierung dichotomer Erklärungsansätze, die Rechtsextremismus auf Stadt-Land- und Ost-West-Unterschiede oder die Frage von sozioökonomischen versus identitätspolitische Ursachen reduzieren. Dadurch werden raumfetischisierende Perspektiven überwunden und trotzdem die stets räumliche Situierung sozialer Praktiken und Subjektivierungsprozesse verdeutlicht. Auch wenn die meisten der diskutierten Beispiele in (Ost-)Deutschland verortet sind, zeichnet sich der Sammelband durch eine große Diversität an Fallstudien aus, durch die sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in der Etablierung und Normalisierung der extremen Rechten konkret und differenziert aufgezeigt werden.
Eine besondere Stärke des Bandes ist zudem die immer wieder erfolgende Hervorhebung der Widerstände gegen extrem rechte Einstellungen, Strukturen und Aktivitäten. Rechte Raumnahmen werden somit nie als etwas Endgültiges oder Unausweichliches dargestellt und erscheinen nicht als Eingriff in einen zuvor “leeren Raum”. Stattdessen werden in den Beiträgen die Aushandlungsprozesse verdeutlicht, in denen stets auch die Möglichkeit von Brüchen und Zurückweisungen rechter Agitationen besteht. Die Analysen eröffnen somit auch Handlungsperspektiven und Möglichkeitsräume, durch die einem Erstarken des Rechtsextremismus aktiv entgegengetreten werden kann.
Abschließend schneidet der Band verschiedene Debatten an, die eine vertiefende Betrachtung verdienen und Möglichkeiten für weitergehende Analysen aufzeigen. Dies betrifft sowohl die Rolle von Polizei und staatlichen Behörden in der Ermöglichung (aber auch Verhinderung) rechter Raumnahmen als auch eine intensivere Analyse der Verbindung und Interaktion verschiedener räumlicher scales, insbesondere den Auswirkungen globaler Neoliberalisierungsprozesse auf das Lokale. In diesem Kontext fällt auf, dass die Interaktion von Online- und Offline-Welt fast keine Rolle in den meisten Beiträgen spielt. Es wäre jedoch wichtig, für ein besseres Verständnis gesellschaftlicher Regressionsdynamiken, auch aus raumtheoretischer Perspektive die Bedeutung des digitalen Raums mit einzufangen. Insgesamt bleibt die methodische Reflexion der qualitativen Forschungsansätze, obwohl ihr ein eigener Abschnitt gewidmet wurde, leider recht kurz.
Fazit
Der Sammelband ist ein innovativer und gewinnbringender Beitrag, der die Debatte um die Ursachen von Rechtsextremismus um einen differenzierten Blick erweitert und der Komplexität des Themas gerecht wird. Die Lektüre ist somit nicht nur Forscher*innen zu empfehlen, die sich selbst mit räumlichen Verortungen des Rechtsextremismus auseinandersetzen, sondern allen, die an einem tiefergehenden Verständnis der vielschichtigen gesellschaftlichen Dynamiken, die ein Erstarken des Rechtsextremismus befördern, interessiert sind.
Rezension von
Viktoria Kamuf
Studium der Politischen Soziologie (M.Sc.) an der London School of Economics and Political Science
2021-2024: wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena
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