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Franz Schultheis, Stephan Egger (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Fotografie

Rezensiert von Michael Bertram-Maikath, 18.08.2023

Cover Franz Schultheis, Stephan Egger (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Fotografie ISBN 978-3-8376-5873-6

Franz Schultheis, Stephan Egger (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Fotografie. Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion. transcript (Bielefeld) 2021. 136 Seiten. ISBN 978-3-8376-5873-6. D: 29,00 EUR, A: 29,00 EUR, CH: 35,70 sFr.
Reihe: Bourdieu-Studien - 1.

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Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension

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Thema

Feld, Raum, Kapital(ien), Habitus – die von Pierre Bourdieu geprägten bzw. ergänzt und erweitert formulierten Konzepte haben Epoche gemacht, und das weit über die Grenzen der Soziologie hinaus. Es werden sich wohl nicht viele Sozialwissenschaften finden lassen, in denen nicht wenigstens einzelne Elemente aus Bourdieus Theorie der Praxis aufgegriffen wurden. Was jedoch außerhalb des Soziologie seltener wahrgenommen und diskutiert wird, ist die Kreativität und Innovativität, mit welcher Bourdieu seine Ideen über den gesamten Verlauf seines Schaffens (weiter-)entwickelt hat.

Neben dem Einsatz (und zum Teil der Entwicklung) statistischer Verfahren und verschiedener Gesprächs- bzw. Interviewformaten sind in diesem Zusammenhang vor allem die frühen ethnologischen Studien zu nennen. Sieht man von den Einsichten hab, welche sich aus diesen Arbeiten ergaben (und auf welche Bourdieu Zeit seines Lebens zurückkam), erweisen sich diese Feldforschungen auch aus 'handwerklicher' Perspektive als hochgradig interessant, fanden sie doch unter schwersten Bedingungen statt. Bereits in diesen frühen Texten zeigt sich der Wille zum Verstehen – und ja, auch von Empathie kann hier gesprochen werden –, die analytische Präzision, auch das konkrete praktische Engagement und somit wesentliche Charakteristika, die prägend für das gesamte folgende Werk geworden sind.

Es überrascht daher nicht, dass dem methodischen Vorgehen Aufmerksamkeit zukommt (z.B. Brake/​Bremer/​Lange-Vester 2013). Dabei blieb die Fotografie (als Erhebungsverfahren) und Fotografien (als Material), welche für die algerischen Studien sowie das gesamte Werk Bourdieus von zentraler Bedeutung waren, weitgehend unterbelichtet (die Arbeiten von Braun/​Wetzel zur Sozialreportage stellen eine der Ausnahmen dar). „Eine Schließung dieser Lücke ist deshalb nicht nur von Interesse für eine adäquate Rezeption der Bourdieu'schen Forschungspraxis und Theoriebildung. […] Andererseits kann eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit der visuellen Soziologie Bourdieus dazu dienen, den Gebrauch der Fotografie in der sozialwissenschaftlichen Praxis neu zu beleben“ (S. 16 f.).

Dieser durchaus ambitionierten Zielsetzung soll nicht ausschließlich mit dem hier besprochenen Band zugearbeitet werden. Er markiert vielmehr den Auftakt für eine Reihe von insgesamt fünf Publikationen, die jeweils unterschiedliche Aspekte der fotografischen Arbeit in der Kabylei in den Blick nehmen.

Herausgeber:innen

Dr. Franz Schultheis ist Senior Professor an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Er ist Präsident der Fondation Bourdieu und Mitherausgeber der Bourdieu Schriften im Suhrkamp Verlag.

Dr. Stephan Egger (1963–2021) war Research Fellow im Projekt „Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis“ an der Zepplin Universität Friedrichshafen und Mitherausgeber der Bourdieu Schriften im Suhrkampverlag. Er verstarb 2021 kurz vor der Drucklegung dieses Bandes.

Aufbau und Inhalt

Der vorliegende Band soll, wie gesagt, der Einführung dienen. Da sich die Publikationsreihe auch auf die Systematisierung des Fotoarchivs und ältere Publikationen bezieht, wurden auch Texte aufgenommen, die bzgl. dieses Projektes Einordnungen vornehmen (Schultheis/​Frisighelli), auf Vergangenes rekurrieren (Frisinghelli), ergänzende Perspektiven auf das (fotografische) Werk Bourdieus (beide Beitäge von Egger sowie Kebaili, Yacine) einbringen und zum Teil schon an anderer Stelle veröffentlicht wurden. Die Herausgeber und Autor:innen eröffnen damit durchaus bemerkenswerte Blickwinkel. Im Rahmen dieser Besprechung soll dennoch auf eine Wiedergabe dieser Texte verzichtet werden, da die folgende Diskussion an der oben bezeichneten Zielstellung orientiert sein soll. Vor diesem Hintergrund steht im Folgenden der Beitrag von Franz Schultheis (15–42) im Zentrum.

Was ist also über Bourdieus Gebrauch der Kamera zu sagen? „Fotografie diente ihm sowohl als Instrument, Methode und Erkenntnismittel seines Forschens“ (15) und er „nutzt die Fotografie aktiv und systematisch als Teil seiner Forschungskonzepte zur Beobachtung, Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene, setzt sie konsequent als Instrument wissenschaftlicher Forschung ein“ (16).

Erinnert man sich der soziohistorischen Anfänge der Soziologie als Wissenschaft, wird deutlich, dass die klassischen Ansätze als Versuche zu interpretieren sind, soziale Wirklichkeiten zu verstehen und zu erklären, die sich in Umbrüchen und Transformationen befanden. Das kann sowohl für die theoretischen Ansätze gelten, die sich auf die von der Industrialisierung befindlichen europäischen Gesellschaften bezogen, als auch für ihre viel stärker empirische ausgerichteten Entsprechungen in den konfliktgebeutelten städtischen sozialen Räumen in den USA. Altes und Neues fand in dichter Gleichzeitigkeit statt. Strukturelle Widersprüche wurden zunehmend spühr- und sichtbar – so auch im kolonisierten Algerien: „brutale Durchsetzung fremder ökonomischer Prinzipien, rapider Verfall der traditionellen landwirtschaftlichen Produktionsweise, Entstehung eines neuen Subproletariats, ökonomische Prekarisierung und gesellschaftliche Entwurzelung breiter Bevölkerungsschichten“ (20), waren nur einige der Entwicklungen, die sich dem soziologischen Beobachter in der Kabylei offenbarten. Als „fremder“, „distanzierter Beobachter“ (Schütz) nutzte Bourdieu die Fotografie, um mit den unendlich vielen Eindrücken des Feldes zurechtzukommen, deren Systematik noch weitgehend im Dunkeln lag (vgl. 27).

Bemerkenswert ist dabei, dass das Hin und Her zwischen Theorie und Empirie, welches die fotografische (Forschungs-)Praxis Bourdieus kennzeichnete: „Es scheint ganz so, als ob dies die Funktion erfüllte, komplexe und teilweise schwer zugängliche theoretische Gegenstände durch visuelle Träger greifbarer und nachvollziehbarer zu machen“ (34).

Neben diesen ersten Pinselstrichen umreißt Schultheis auch den „Fahrplan“ des Projektes. Die „Fotografien werden als visuelle sozialwissenschaftliche Quellen in ihrer Bedeutung für ein vertieftes Verständnis der Themen, Fragestellungen, Haltungen und Methoden in Bourdieus Studien betrachtet und analysiert“ (38 ff.), wobei die Auswertung im Modus der Grounded Theory erfolgt (41). Dabei geht es insb. um „die Frage, inwiefern diese Methoden sich den spezifischen Phänomenen verdanken, welche Bourdieu ins Zentrum stellt, also inwiefern jene von ihm analysierten gesellschaftlich produzierten und habituell verkörperten Praktiken nach einer Kombination verschiedener Zugangsweisen verlangen“ (39). Dabei ist die Annahme leitend, dass gerade für die Rekonstruktion von Habitus neben diskursiven Quellen auch „materiales Material“ herangezogen werden müsse; ergänzend zur „dichten Beschreibung“ wären „dichte Bildkompositionen“ (39) zu erheben und zu rekonstruieren. „Anders gesagt soll nachvollzogen werden, welchen heuristischen Wert visuelle Dokumente bei der Generierung von sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien haben können“ (40).

Diskussion

Obgleich Pierre Bourdieu auch ca. 20 Jahre nach seinem Tod häufig zitiert wird und vielen empirischen und theoretischen Studien zur Grundlage, Orientierung oder auch Antithese dient, gibt es doch Aspekte seines Werks, die (noch) nicht hinreichend erschlossen, deren Potenziale nicht ausgeschöpft sind. Die Fotografie zählt zweifelsohne dazu. Dies auf die Agenda wissenschaftlichen Diskutierens zu setzen, haben sich die Herausgebenden mit diesem Projekt zur Aufgabe gemacht, und das ist – das zeigt schon dieser erste Beitrag – gut und richtig.

Vor allem die leitende Annahme, dass die Erforschung von Habitus neben diskursiven auch visuelle Erkenntnisquellen einbeziehen müsse, lässt sich ohne viel Phantasie auf weite Teile der – mittlerweile produktiven – Körpersoziologie und Ethnografie übertragen. Protokolle teilnehmender Beobachtungen und Forschungstagebücher mögen notwendige Strategien darstellen, wenn die Rekonstruktion einer konkreten (Praxis-)Situation von Interesse ist. Dass der systematische Einbezug von Fotografien (und anderen visuellen Quellen) geeignet sein dürfte, einen gewählten Gegenstandsbereich empirischer Wirklichkeit, wenn schon nicht zu komplettieren, so doch wenigstens zu ergänzen, bedarf trotz der Ausdiffernziertheit etablierter Methoden kaum einer Erwähnung. Welche Möglichkeiten die Fotografie noch bereithalten könnte, um einer „teilnehmenden bzw. beobachtenden Objektivierung“ näherzukommen, ist vor diesem Hintergrund tatsächlich eine spannende Fragestellung – und auch der Präsentation von Forschungsergebnissen sollte die Verwendung von Bildmaterial nur zuträglich sein.

Fazit

Die Herausgeber wollen mit dem Projekt „Pierre Boudieu und die Fotografie“ einerseits zur werkgerechten Würdigung Pierre Bourdieus beitragen und andererseits befruchtend auf den Diskurs empirischer Sozialforschung einwirken. Dieser Einführungsband stellt dazu einen gelungenen Aufschlag dar. Nicht nur Nachwuchswissenschafler:innen werden in ihm einige Anregungen finden. Vor allem die Kreativität mit der Bourdieu die Fotografie zur empirisch fundierten Erkenntnisgenese heranzog, drängt einen aufrichtig interessierten, für Verwunderungen offenen und engagierten Blick geradezu auf, der allen empirisch Forschenden gut zu Gesicht stehen würde.

Neben der Lektüre lohnt vor allem auch ein Blick in das online zur Verfügung gestellte Fotoarchiv (https://camera-austria.at/fotoarchiv-pierre-bourdieu/).

Literatur

Brake, A., Bremer, H., Vester-Lange, A. (Hg.): Empirisch Arbeiten mit Bourdieu

Theoretische und methodische Überlegungen, Konzeptionen und Erfahrungen, Weinheim/​Basel 2013

Braun, K.-H., Wetzel, K.: Sozialreportage. Einführung in eine Handlungs- und Forschungsmethode der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2010

Rezension von
Michael Bertram-Maikath
B.A. Soziale Arbeit, M.A. Soziologie/Politikwissenschaft
Beruflich in der Sozialen/politischen Arbeit mit geflüchteten Menschen tätig
Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg-Stendal
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Es gibt 23 Rezensionen von Michael Bertram-Maikath.

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ISSN 2190-9245