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Peter Fässlacher: Die schwule Seele

Rezensiert von Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, 14.06.2022

Cover Peter Fässlacher: Die schwule Seele ISBN 978-3-903422-02-5

Peter Fässlacher: Die schwule Seele. Wie man wird, wer man ist. Luftschacht Verlag (Wien) 2022. 200 Seiten. ISBN 978-3-903422-02-5. D: 20,00 EUR, A: 20,00 EUR.

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Thema

Es geht dem Autor darum, die Situation schwuler Männer und ihren Weg zum Coming-out mit all seinen Hindernissen, aber auch mit der Befreiung, die darin liegen kann, zu schildern. Dabei geht es ihm weniger um Antworten und Empfehlungen, die er liefert, als vielmehr darum, Fragen zu stellen, die den Lesenden helfen, eine individuelle Antwort auf die Frage zu finden „Wer bin ich eigentlich?“ (S. 8).

Autor

Peter Fässlacher ist Moderator und Sendungsverantwortlicher des täglichen Magazins „Kultur Heute“ auf ORF III. Schwerpunkt seiner journalistischen Arbeit sind Interviews mit verschiedenen Künstler*innen. Ferner präsentiert er auf ORF III Live Events wie „Die Lange Nacht der Museen“ oder den „Österreichischen Filmpreis“. Seit 2017 ist er einer der Gastgeber und Moderatoren des wichtigsten Theaterpreises Österreichs, dem NESTROY. 2021 gestaltete er mit „Verbotener Liebe“ die erste TV-Dokumentation des ORF über die Geschichte der Homosexualität in Österreich. Er ist ferner zweifacher Staatsmeister der Zauberkunst.

Entstehungshintergrund

Mit seinem Buch verfolgt Peter Fässlacher, der 2014 im Alter von 28 Jahren mit dem Artikel „Reden ist Gold“ in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ sein öffentliches Coming-out hatte, das Ziel, schwulen Männern bei der Lösung der Frage „Wie wird man, wer man ist?“ (S. 7) behilflich zu sein und ihnen damit Hilfe bei ihrem Coming-out zu liefern. Der Autor betont, dass es keine wissenschaftliche Abhandlung, kein Fachbuch, kein Lehrbuch, keine Darstellung eines aktuellen Forschungsstandes ist und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern dass es ein „hochgradig subjektiver Blick auf das Leben und Fühlen schwuler Männer (ist), der dennoch mehr ist als nur meine persönliche Sicht“ (S. 8). Es sei ein „Ratgeber, der keiner sein will“ (S. 8). Es gehe ihm nicht in erster Linie um Antworten, sondern im Gegenteil um das Stellen von Fragen, im Letzten um die Kernfrage dieses Buches „Wer bin ich eigentlich?“ (S. 8).

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst die vier Teile „ich“, „die anderen“, „das coming-out“ und „ich und die anderen“, die je drei Unterkapitel enthalten. Einigen Kapiteln sind kurze Anekdoten aus dem Leben des Autors vorangestellt, in der das jeweilige Thema angesprochen ist. Die Ausführungen werden durch Passagen aus Interviews veranschaulicht, die der Autor mit schwulen Männern geführt hat. Den Abschluss des Buches bildet ein Nachwort der Schauspielerin Erika Pluhar.

Im 1. Unterkapitel des 1. Kapitels „ich“ schildert Peter Fässlacher die „Dynamik der schwulen Seele“. Ausgehend von Alfred Adlers Theorie des Minderwertigkeitsgefühls, das sich in unterschiedlicher Weise und unterschiedlicher Ausprägung bei allen Menschen findet, weist der Autor darauf hin, dass infolge der gesellschaftlichen Ablehnung der Homosexualität insbesondere das Schwul-Sein zu einem starken Gefühl der Minderwertigkeit führe. Da dieses Minderwertigkeitsgefühl auf die Dauer unerträglich ist, setzen schwule Männer verschiedene Strategien ein, um die Minderwertigkeit auszugleichen, indem sie sich beispielsweise bemühen, perfekt zu sein und dies auch von anderen, insbesondere von Partnern, fordern. Ein zentrales Gefühl bei ihnen ist ferner die Angst vor der Zurückweisung, die dazu führt, dass schwule Männer sich oft im Übermaß anderen anzupassen versuchen, alles Eigene unterdrücken und in der Anpassung so weit gehen, den von außen kommenden Hass zum Selbsthass zu machen. Nicht wenige dieser Männer suchen in der Community einen Ort, an dem sie sicher vor Zurückweisung sind, allerdings für den Preis, sich den dort geltenden Regeln anzupassen. Als einen weiteren Persönlichkeitszug beschreibt Peter Fässlacher die Angst der schwulen Männer vor dem Unterschied, weil „Anders-Sein“ von ihnen als der Hauptgrund für Ablehnung erlebt worden ist. Es sei bereits an dieser Stelle darauf verwiesen, dass der Autor am Ende seines Buches in einer persönlichen Notiz die Frage aufwirft – und beantwortet –, ob es so etwas wie eine „schwule Seele“ gebe (S. 186).

Das 2. Unterkapitel ist dem „schwulen Dilemma“ gewidmet: „Es ist ein Bedürfnis jedes Menschen, gesehen zu werden. (…) Gesehen zu werden für das, was man ist und wer man ist. In seinem gesamten Sein. Gesehen werden kann man aber nur, wenn man sich zeigt. Dieses Bedürfnis ist das größte Dilemma, in dem sich schwule Männer befinden können: Wie vereinbare ich meine Sehnsucht gesehen zu werden, mit meiner Angst, mich zu zeigen?“ (S. 51). Hinter der Angst, sich zu zeigen, sieht Peter Fässlacher „die Angst vor dem Blick der anderen“ (S. 54), dem bösen, abwertenden, verurteilenden und durchschauenden Blick, dem ein enormes Gewicht beigemessen wird und der deshalb als so gefährlich empfunden wird. Die Dynamik der Ambivalenz zwischen dem Wunsch, sich zu zeigen und gesehen zu werden, und der Angst vor eben diesem Gesehen-Werden, sieht der Autor in der Beobachtung, dass viele schwule Männer leidenschaftliche Opernfans sind. Die Oper zeichne sich dadurch aus, dass es dort um – häufig starke – Emotionen gehe, die gezeigt und gesehen werden und dies mit einer gewissen Leichtigkeit geht, und dass angesichts der häufig schrecklichen Schicksale, die zusammen mit wunderbarer Musik gezeigt würden, „aus etwas Schmerzlichem etwas Schönes“ gemacht werde (S. 62) und dies am Ende mit Applaus belohnt werde. Die Faszination, die von Opern für viele schwule Männer ausgeht, ist gemäß Peter Fässlacher die Ermutigung, die eigenen Gefühle und Verletzbarkeiten zu zeigen im Sinne „Du darfst. Wenn ich es schaffe, dann kannst du es auch schaffen“ (S. 62).

Im 3. Unterkapitel behandelt der Autor das „Rezept für unglückliche Beziehungen“: die schwulen Männer in solchen Beziehungen gehen von der Überzeugung aus, wenig wert zu sein, sind von der geringen ihnen entgegengebrachten Zuneigung fasziniert, hoffen letztlich aber doch auf ein Happy End bedingungsloser Liebe, und enden schließlich bei der Unfähigkeit, Liebe anzunehmen, weil sie die Person, die ihnen uneingeschränkte Liebe entgegenbringt, unbewusst dafür verachten, dass sie „nicht sieht, wie wenig man in Wirklichkeit wert ist“ (S. 71).

Das 2. Hauptkapitel betrifft „die anderen“. Im 1. Unterkapitel „die übermächtigen anderen“ zeigt der Autor, dass wir Menschen als soziale Lebewesen auf Beziehungen angewiesen sind. Viele schwule Männer haben, insbesondere in der Vergangenheit, „die anderen“ als unterdrückend, pathologisierend, abwertend erlebt. So ist in ihnen die Meinung entstanden, der „andere“ habe „eine überdimensional große Macht über das Leben schwuler Männer“ (S. 76). Das Merkmal einer positiv erlebten Beziehung ist hingegen die Begegnung auf Augenhöhe. Im 2. Unterkapitel geht es deshalb um die „Augenhöhenangst“, die bei den „anderen“ in dem Moment entsteht, in dem schwule Männer nicht mehr die Rolle der Minderwertigen in der Gesellschaft einnehmen. Sie „aktivieren dadurch automatisch Gefühle der Minderwertigkeit in allen anderen. Warum? Weil es plötzlich den allgemeinen Konsens nicht mehr gibt, der die Gesellschaft in Bezug auf die sexuelle Identität in normal und abnormal eingeteilt hat“ (S. 80). Um Beziehungen auf Augenhöhe zu vermeiden, setzen „die anderen“ „unsichtbare Abwertungen“ ein, die sich beispielsweise in sprachlichen Formulierungen, welche die Gleichwertigkeit in Frage stellen, zeigen. Augenhöhe wird aber auch von schwulen Männern her untergraben, indem sie die permanenten Abwertungen verinnerlichen und schließlich an sich selbst zweifeln. Die Tatsache, dass in der Gegenwart in Diskussionen über Sprache, Identität und Gleichberechtigung häufig mit starker Emotionalität gestritten wird und es dabei immer wieder zu explosiver Empörung kommt, erklärt Peter Fässlacher dadurch, dass sich im jetzigen Moment, in dem sich jemand diskriminiert fühlt, nicht nur die Wut entlädt, die diesem Moment gilt. „Es entlädt sich zusätzlich die gesammelte und aufgestaute Wut jener Jahre, in denen man nicht aussprechen durfte, dass einem gerade Unrecht widerfährt. Ein vergleichsweise kleiner Moment der empfundenen Diskriminierung wird so zum Symbol einer gesamten Diskriminierungsgeschichte, die nie gewürdigt wurde“ (S. 88). Durch die explosive Empörung, die das Gegenüber oft in die Sprachlosigkeit treibt, gelinge es dem schwulen Mann, die anderen das erleben zu lassen, was ihm selbst in der Vergangenheit widerfahren ist: Die anderen „verstummen, aus Angst vor einer möglichen Konsequenz. Es ist die Wiederholung der eigenen traumatischen Erfahrung – diesmal aber mit dem Unterschied, dass man selbst als Sieger vom Feld geht“ (S. 89).

Die „Logik des Aushaltens“ stellt das Thema des 3. Unterkapitels dar. Trotz aller Fortschritte hinsichtlich der Akzeptanz schwuler Orientierungen gibt es Dinge, die sich nur langsam ändern und ein gewisses Aushalten erfordern. Als Grund für den Widerstand, der sich oft, auch zwischen den Generationen in der Community, dagegen erhebt, nennt der Autor die Wut über die fehlende Würdigung der eigenen Diskriminierungsgeschichte. Hier komme es darauf an, den bisherigen Weg als eine gemeinsame Geschichte anzuerkennen, sie „stärkt das Rückgrat. Sie hilft beim Aushalten“ (S. 96).

Ausgehend von dem Bild „Das Reich der Lichter“ von René Magritte, das einen taghellen Himmel und ein darunter liegendes Haus im Dunkeln mit einer kleinen, nur ein bisschen Licht gebenden Laterne zeigt, thematisiert Peter Fässlacher im 3. Hauptkapitel das Thema „das coming-out“. In Analogie zu diesem Bild stellt das Leben vor dem Coming-out „Eine Welt in Schwarz und Weiß“ (1. Unterkapitel) dar. Einen wesentlichen Aspekt des eigenen Lebens zu verheimlichen, führe zu einer solchen Spaltung der Welt in „draußen“ und „drinnen“, im Modus ständiger Alarmbereitschaft, begleitet von dem Bedürfnis, möglichst alles zu kontrollieren, sich eine Scheinfreiheit zu schaffen und z.B. durch unverbindliche Sexbeziehungen Nähe zu simulieren, die de facto nicht besteht. Für den Prozess des Coming-out plädiert der Autor für das „Prinzip der Gleichwertigkeit“ (Coming-out oder kein Coming-out sind gleichwertige Wege, zu denen ein Mensch sich entscheiden kann) und Das „Konzept der freien Wahl“ (jede Person muss sich frei für den einen oder den anderen Weg entscheiden können).

Das 2. Unterkapitel ist dem Thema „Coming-out als Statement“ gewidmet. Der Autor charakterisiert das Coming-out als Aussage „Das bin ich“, es sei keine Frage, sondern ein Statement, das die Deutungshoheit über die eigene Person nicht anderen übergibt, sondern sie sich zurückholt. Da das Coming-out ein Prozess ist, wandelt es sich mit der Zeit vom Statement zu einer Haltung, mit der man durchs Leben geht. „Man verschweigt nicht mehr, wer man ist, man weicht nicht mehr aus“ (S. 122). Dabei spielen die Vorbilder eine wichtige Rolle, die es nicht zu imitieren gelte, sondern die zeigen „wie es möglich ist“ (S. 123). Bei der Diskussion eines unfreiwilligen Coming-outs (Zwangsouting) nennt Peter Fässlacher sechs Folgen: die eigene Minderwertigkeit wird für alle sichtbar, die Angst vor Zurückweisung ist nicht mehr kontrollierbar, der Blick der anderen trifft den Betreffenden ungeschützt, dem Opfer sind die Konsequenzen bewusst, die auf ihn zukommen, er ist nicht mehr Herr im eigenen Haus sowie das Gefühl der absoluten Ohnmacht.

„Das erste und das zweite Coming-out“ stellt das Thema des 3. Unterkapitels dar. War der erste Schritt, aufzuhören sich zu verstecken, so geht es im zweiten Schritt darum zu beginnen, sich zu zeigen.

Im 4. Hauptkapitel beschäftigt der Autor sich mit dem Thema „ich und die anderen“. Um den Prozess des Coming-out positiv zu gestalten, braucht es nach Peter Fässlacher ein „belastbares Ich“, das im 1. Unterkapitel behandelt wird. „Um herauszufinden, wie es um das eigene emotionale Gewicht bestellt ist, muss man sich nur die Frage stellen: Wie viel Wert messe ich der Meinung der anderen bei, und wie viel Wert messe ich im Vergleich dazu meiner eigenen Meinung bei? Hat das, was die anderen sagen, eine größere Bedeutung für mich als das, was ich selbst zu sagen habe?“ (S. 142). Als Dreh- und Angelpunkt eines belastbaren Ichs beschreibt der Autor „die Fähigkeit, Dinge auszuhalten“ (S. 143). Je belastbarer das eigene Ich, desto eher ist ein Mensch fähig, Kritik, die Blicke anderer, Ambivalenzen, Zurückweisungen, emotionale Abhängigkeiten, Ungerechtigkeiten, Unperfektheit, Zweifel und vieles andere auszuhalten. Das belastbare Ich verhilft dem Menschen, den anderen standzuhalten. Es entwickelt sich, „wenn man beginnt eigene Impulse und Bedürfnisse wahrzunehmen und dabei gleichzeitig den Blick von den anderen für einen kurzen Moment abwendet“ (S. 148). Als „Bausteine“ des belastbaren Ichs nennt der Autor: das Streben nach Perfektion mildern, Ambivalenzen aushalten lernen, den Blick auf sich selbst und andere mildern, mit Kritik umgehen lernen, das Gefühl der Minderwertigkeit mildern, Verantwortung für sich übernehmen, innerlich zur Ruhe kommen und sich von den anderen unabhängig machen. Die unbewussten Hindernisse auf diesem Weg sind die historisch bedingte Angst vor den Konsequenzen und die Angst, von anderen definiert zu werden (wie es in der Vergangenheit Justiz, Medizin, Kirchen und Sexualwissenschaften getan haben).

Das 2. Unterkapitel ist überschrieben mit „Das Notizbuch“, womit das Führen eines Tagebuchs gemeint ist. Als Gründe für ein solches Tagebuchs nennt Peter Fässlacher die Gleichwertigkeit (verschiedene Dinge stehen hier gleichwertig nebeneinander), kontrollierter Kontrollverlust (die eigenen Gedanken werden in der Außenwelt formuliert bei gleichzeitiger Kontrolle über sie), es besteht hier keine Angst vor Bewertungen und ein Überblick über die Eintragungen lässt Entwicklungen sichtbar werden.

Zum Thema „ich und die anderen“ gehört für den Autor auch die Möglichkeit einer Psychotherapie, in der korrigierende emotionale Erfahrungen gemacht werden können. Diesem Thema geht er im 3. Unterkapitel „Wie funktioniert Therapie?“ nach. Dabei geht es zum einen darum, dass Personen, die sich in eine Psychotherapie begeben, lernen, dass sie als soziale Wesen immer auf andere Menschen bezogen sind und im Sinne Martin Bubers am Du zum Ich werden, dass sie vielfach die Dinge so annehmen müssen wie sie sind und dass es wichtig ist, Ängste auszusprechen und sich mit den unbewussten Anteilen dieser auch in der Therapie auftauchenden Ängste auseinanderzusetzen. Eine Frage, die sich schwule Männer in diesem Zusammenhang oft stellen, ist die, ob schwule Patienten einen schwulen oder zumindest einen gayfriendly Therapeuten brauchen. Die Antwort des Autors lautet: „Es gibt (…) kein Richtig oder Falsch. (…) das wirklich Wirksame in der Therapie (ist) die Qualität der Beziehung zum Therapeuten. Egal ob er schwul ist oder nicht“ (S. 184).

Am Ende seines Buches wirft Peter Fässlacher in einer persönlichen Notiz die Frage auf: „Gibt es sie überhaupt, die schwule Seele? Ich habe oft darüber nachgedacht. Meine Antwort lautet: ja und nein. Es gibt sicherlich Themen, die bei schwulen Männern auf einer viel höheren Betriebstemperatur verhandelt werden als bei Heterosexuellen. (…) Wahrscheinlich hat sogar jede Generation ihre eigene schwule Seele. (…) Die schwule Seele ist also eher so etwas wie eine dynamische Metapher, die sich immer im Wandel befindet. Auf der anderen Seite sind die Themen des Buches allgemeingültig und betreffen alle Menschen. Egal ob schwul oder hetero. Egal ob jung oder alt. Egal ob Frau, Mann oder wie jede*r die eigene Identität und Sexualität selbst bezeichnen, verstehen und leben möchte“ (S. 186/187). Daraus ergibt sich für den Autor die Frage, mit der das Buch schließt: „Geht es in diesem Buch eigentlich wirklich um das Schwulsein – oder geht es eher um das Menschsein?“ (S. 187).

In diesem Sinne ist auch das Nachwort von der Schauspielerin Erika Pluhar verfasst. Sie betont, dass ihr in den verschiedensten Kreisen stets „das alle Vorurteile überwindende Selbstverständnis menschlicher Gemeinschaft“ (S. 191) wichtig war, und schließt ihre Ausführungen mit dem Satz „Und das ist es für mich: in allen menschlichen Entwürfen mit Anstand schlicht Mensch sein zu dürfen“ (S. 191).

Diskussion

Ein Buch, dessen Titel zuerst etwas irritiert: Was ist das, eine schwule Seele? Gibt es so etwas überhaupt? Eine Frage, die Peter Fässlacher sich selbst auch stellt und mit „ja und nein“ beantwortet. Es ist die immer wieder diskutierte Frage, ob queere Menschen in mancher Hinsicht „anders“ sind als cis/heterosexuelle Menschen. Auf der einen Seite geht es, wie der Autor am Ende seines Buches schreibt, letztlich „um das Menschsein“ (S. 187). Andererseits aber weist das Aufwachsen und Leben in unserer cis-/heteronormativen Gesellschaft eine spezifische Dynamik auf und führt zu spezifischen Konflikten. Insofern ist es keineswegs ein Zeichen besonderer Offenheit und Akzeptanz zu meinen, Mensch sei Mensch, unabhängig von der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität. Um diese Besonderheiten und ihre Bedeutung für ein Coming-out geht es dem Autor in diesem Buch. Was mich beeindruckt, ist der im besten Sinne journalistische Stil, in dem es geschrieben ist, d.h. die Verständlichkeit und Leichtigkeit des Textes, bei dem man jedoch auf Schritt und Tritt die dahinter stehende Fachkenntnis des Autors spürt. In eindrücklicher Weise gelingt es Peter Fässlacher, unter Verzicht auf Fachausdrücke in anschaulicher Weise die Dynamik schwulen Lebens und Erlebens darzustellen und Hinweise zu geben, wie schwule Männer ihren Coming-out-Prozess gestalten können, welche Schwierigkeiten sich oft dabei ergeben, aber auch welche Bereicherung ihr Leben dadurch erfahren kann. Dabei erweist sich die tiefenpsychologische Theorie Alfred Adlers als hilfreiches Modell, weil es mit der Theorie der Minderwertigkeitsgefühle und des Umgangs damit einen zentralen Konflikt schwuler Männer thematisiert, die unter ihrem „Anderssein“ und der im Verlauf ihrer Entwicklung erlebten Ausgrenzung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft vielfach in ihrem Selbstwerterleben verletzt worden sind. Dieses Buch ist ein wertvoller Rat-Geber für Männer, die ihren Coming-out-Prozess verstehen wollen, ebenso wie für Fachpersonen, die in Beratung und Therapie mit schwulen Männern arbeiten.

Fazit

Ein sehr lesenswertes, fachlich fundiertes Buch, das eine Fülle von Anregungen für das Verständnis und die konstruktive Gestaltung des Coming-out-Prozesses schwuler Männer vermittelt und Schwulen selbst ebenso wie Fachpersonen für die Begleitung schwuler Männer zu empfehlen ist.

Rezension von
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DPG, DGPT). Ehem. Leitender Psychologe Psychiatrische Universitätspoliklinik Basel. In privater psychotherapeutischer Praxis.
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Es gibt 14 Rezensionen von Udo Rauchfleisch.

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Zitiervorschlag
Udo Rauchfleisch. Rezension vom 14.06.2022 zu: Peter Fässlacher: Die schwule Seele. Wie man wird, wer man ist. Luftschacht Verlag (Wien) 2022. ISBN 978-3-903422-02-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29387.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.


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