Nikolas Schall: Solidarität als Praxis
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 21.06.2022

Nikolas Schall: Solidarität als Praxis. Die Verhandlung von Diversität im Weltsozialforum.
transcript
(Bielefeld) 2022.
280 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5972-6.
D: 45,00 EUR,
A: 45,00 EUR,
CH: 54,90 sFr.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
Thema
Was bedeutet Solidarität in der internationalen Zusammenarbeit von Akteuren aus dem „globalen Norden“ und dem „globalen Süden“? Dieser Frage wird im Buch auf Basis einer ethnografischen Feldstudie nachgegangen. Das untersuchte Feld ist das globalisierungskritische Gipfeltreffen, das Weltsozialforum, auf dem empirisch zu beobachten ist, wie Solidarität zwischen Aktivist*innen, Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften aus allen Teilen der Erde praktisch realisiert und reflexiv verhandelt wird.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in drei große Abschnitte unterteilt, die den Aufbau der Arbeit tätigkeitsorientiert beschreiben: Startpunkte bestimmen (Teil 1), Arenen beschreiten (Teil 2) und Beobachtungen reflektieren (Teil 3).
Im ersten Teil geht es dem Autor darum, auszuloten, von welcher theoretischen und methodologischen Perspektive aus Solidaritätspraktiken betrachtet werden sollten. In diesem Zusammenhang und über das gesamte Buch hinweg spielt immer wieder die eigene Reflexion der Rolle als akademischer, weißer, heterosexueller Cis-Mann aus dem ‚globalen Norden‘ in der Wissensproduktion eine Rolle. So wird einleitend mit einem persönlichen Bezug deutlich gemacht, wie der Autor auf die Frage nach Solidarität zwischen unterschiedlich privilegierten Partnern kommt.
Hintergrund – so der Autor – war zum einen sein Engagement in einem entwicklungspolitischen Bildungsprogramm, in dem europäische Studierende im ‚globalen Süden‘ Praktika absolvieren konnten. Der Umbau des Programms zu einer partnerschaftlichen, gleichberechtigten Zusammenarbeit warf die Frage auf, wie trotz globaler struktureller Ungleichheiten eine gleichberechtigte Partnerschaft realisiert werden kann. Zum anderen war es der Sommer 2015, in dem viele Menschen aus Syrien nach Deutschland flüchteten und es eine kontroverse Diskussion um die Aufnahme dieser Menschen gab. Um der Frage nach möglichen Solidaritätspraktiken nachzuspüren, knüpft Schall an das Konzept der ‚Solidarität in Diversität‘ an, aus dem sich die Unterfragen ableiten lassen, was unter Diversität und Solidarität jeweils verstanden wird, wie sie im praktischen Handlungsvollzug konstruiert werden und wie strukturelle Machtverhältnisse in diesen Konstruktionsprozess hineinwirken. Um empirisch Aushandlungsprozesse zu beobachten, wählt der Autor das Weltsozialforum.
Das Weltsozialforum ist das ein- bis zweijährig stattfindendes globalisierungskritisches Gipfeltreffen von zivilgesellschaftlichen Akteuren aus dem ‚globalen Norden‘ und ‚globalen Süden‘, die miteinander in einen Austausch treten, wie eine andere Welt ermöglicht werden kann. Hauptuntersuchungsort der vorliegenden Arbeit ist der Weltsozialforumsevent, der im Jahr 2016 zum ersten Mal im ‚globalen Norden‘, in Montreal, Kanada stattgefunden hat. Insgesamt basieren die Erkenntnis jedoch auf einem 21 monatelangem Forschungsprojekt mit physischen und virtuellen teilnehmenden Beobachtungen sowie 17 semi-strukturierten Interviews. In Anlehnung an die anthropologischen Ansätze von Rabinow (Anthropologie des Aktuellen) und Ingold (‚spekulative‘ Anthropologie) werden forschungsmethodisch partizipative, kollaborative und experimentelle Ansätze verfolgt, um Solidarität in Diversität nachzuspüren. Dazu gehört u.a. der methodische Ansatz, selbst in der überwiegend schriftlich geführten Debatte zu Solidaritätspraktiken im Weltsozialforum eine eigene schriftliche Publikation in Zusammenarbeit mit einer der Organisator*innen des Weltsozialforumsevents in Montreal zu verfassen und diese Praktik des kollaborativen Schreibens zu reflektieren und analytisch auszuwerten.
Der zweite Teil des Buches besteht in der ethnografischen Beschreibung anhand von Vignetten zu den Praktiken des solidarischen Zusammenkommens in Diversität im Weltsozialforum. Dazu werden vom Autor drei ‚Arenen‘ der Verhandlung von Solidarität identifiziert, die das Weltsozialforum (1.) als Raum des Experimentierens mit Vorstellungen von Solidarität, (2.) als Brennglas zur Aushandlung virulenter gesellschaftlicher Fragen des jeweiligen Veranstaltungsortes und (3.) als Reflexionsraum über eigene Positionierung und Selbstbeschreibungen charakterisiert.
Zur ersten Arena (Kapitel 5) zeigt der Autor, wie präfigurative Solidarität im Organisationsprozess und auch auf den Veranstaltungen umgesetzt wird, indem kollektiv erprobt wird, wie unterschiedliche Verständnisse von Solidarität und Diversität überbrückt werden können. Die zweite Arena (Kapitel 6 und 7) verweist auf den historischen Kontext des Kolonialismus bei der Zusammenarbeit von indigenen (‚First Nations‘) und nicht-indigenen Teilnehmer*innen (‚Siedler*innen‘) auf dem Weltsozialforum in Montreal. Die dritte Arena (Kapitel 8) greift die andauernde (selbst-)kritische Diskussion von Selbstbeschreibungen und Definitionsversuchen dessen auf, was das Weltsozialforum ist und welche politische Wirkung es (noch) zu entfalten vermag, auf. Dabei wird direkt und indirekt auch über Solidarität verhandelt. Den Befürworter*innen einer Neuausrichtung des Weltsozialforums geht es darum, eine abgestimmte Position im Weltsozialforum zu globalen Ungerechtigkeiten zu finden und im Namen des Weltsozialforums nach außen zu tragen. Die Befürworter*innen bekräftigen die Epistemologie des ‚offenen Raumes‘ des Weltsozialforum, die eine Anerkennung von Differenz in den Mittelpunkt solidarischen Handeln rückt, indem die Konstruktion eines gemeinsamen Standpunktes als zweitrangig erachtet wird.
Im Fazit der Arbeit (Kapitel 9) werden die Praktiken der Herstellung von Wissen zu Solidarität in Diversität im Weltsozialforum reflexiv betrachtet und zusammenfassend dargestellt. Das Resümee der Arbeit kristallisiert in der Aussage: „Kernstück und Grundlage von Solidaritätspraktiken in Diversität ist ein Commitment der Beteiligten zu einem produktiven Umgang mit Konflikten in den entstehenden Beziehungen“ (S. 252–253).
Diskussion
Nach einigen – auf Deutsch – publizierten Forschungsstudien in den vergangenen Jahren zum empirischen Fall Weltsozialforum (u.a. Schröder 2015; Manthe 2020) beleuchtet diese Arbeit einen spannenden neuen Aspekt im Weltsozialforumskontext: die Herstellung von Solidarität in Diversität. Das mit vielen ethnografischen Vignetten ausgestaltete Buch verdeutlicht insbesondere die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen Akteuren vor dem Hintergrund einer gewaltvollen Kolonialgeschichte und fortbestehender asymmetrischer Machtstrukturen. Wer Best-Practice-Modelle zu Solidaritätspraktiken erwartet, wird allerdings enttäuscht. Das Fazit hält gerade einen uneindeutigen Begriff von Solidarität (und auch von Diversität) aufrecht. Dieser vage Begriff systematisiert sich in Spannungsfeldern und lädt so dazu ein, (selbst-)kritisch die eigene Positionierung im weltgesellschaftlichen Kontext zu reflektieren. Ein weiterer spannender Aspekt sind die Einblicke in die Reflexion der kollaborativen Genese von Wissen in Forschungskontexten und die daraus folgenden Forschungsmethoden, die der Autor wählt.
Fazit
Der Autor legt eine spannende Einsicht in die Praktiken der Verhandlung von Solidarität unter zivilgesellschaftlichen Akteuren im Kontext des Weltsozialforums vor. Auch – und gerade – weil die Arbeit nicht mir einer eindeutigen Antwort oder Handlungsanweisung für Praktiken im Umgang mit Solidarität in Diversität endet, lädt sie ein, über das historische Gewordenseins ungleicher Machtverhältnisse und den eigenen (privilegierten) Positionierungen nachzudenken, um daraus Solidaritätspraktiken (selbst-)kritisch zu entwickeln.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 21.06.2022 zu:
Nikolas Schall: Solidarität als Praxis. Die Verhandlung von Diversität im Weltsozialforum. transcript
(Bielefeld) 2022.
ISBN 978-3-8376-5972-6.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29388.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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