Andrea Roedig: Man kann Müttern nicht trauen
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Rudolf Schmitt, 10.10.2022
Andrea Roedig: Man kann Müttern nicht trauen. Deutscher Taschenbuch Verlag (München) 2022. 238 Seiten. ISBN 978-3-423-29013-5. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Die Beschreibung des Buches auf der Website des Deutschen Taschenbuchverlags (dtv) scheint sich einem affektive Sensationen suchenden Publikum anbiedern zu wollen: „Eine emotionale und erschütternde Auseinandersetzung mit der Leere, die das Verschwinden einer Mutter hinterlässt“. Selten dürfte ein komplexes Buch von seinem Verlag so missverständlich positioniert worden zu sein. Hier soll das Buch als Fachbuch besprochen werden, weil es neuere Schreibweisen qualitativer Forschung einerseits, der literarischen Biografie andererseits zu einem neuen Typus der Wissensvermittlung verbindet. Diese Erweiterung des Kanons versteht sich nicht von selbst und soll in zwei Hinsichten erläutert werden:
Wenn zu den Aufgaben qualitativer Forschung das Verstehen des Besonderen gehöre, aus dem erst das Allgemeine als erklärendes Muster abgeleitet werden kann, dann „geht es auch um das Muster, das verbindet, das Muster, das verständlich macht, das erklärt“, sagt der Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Jo Reichertz (2007: 284). Eine Wissenschaft, die auf ein solches Verstehen setzt (statt auf quantitative Methoden), bedarf anderer Gütekriterien als die der klassischen Trias von Objektivität, Reliabilität, Validität, die in der explorierenden Einzelfallstudie keine berechtigte Anwendung finden. Was aber verbürgt dann die Glaubwürdigkeit qualitativer Forschung? Eine Formulierung des Vertrauensproblems findet sich für die Ethnografie in den Forderungen von Cliffort Geertz, die Autor:innen müssten uns überzeugen, „daß [sic!] das, was sie sagen, ein Resultat davon ist, daß sie eine andere Lebensform wirklich durchdrungen haben […], davon, daß sie auf die eine oder andere Weise wahrhaft ‚dort‘ gewesen sind“ (Geertz 1990: 14 f.), und darüber hinaus, „daß wir, wenn wir dort gewesen wären, gesehen hätten, was sie sahen, empfunden hätten, was sie empfanden, gefolgert hätten, was sie folgerten“ (ebd.:23).
Die Darstellung einer fremden Kultur fordert also nicht nur eine Glaubhaftigkeit des Geschehens ab, sondern auch eine reflexive Durcharbeitung, welche die Lesenden und ihre potenziellen Zweifel und Einwände aufnimmt, was die Erhebung, Darstellung und Interpretation betrifft. – Der Untertitel von Geertz’ Werk „Der Anthropologe als Schriftsteller“ verweist auf eine weitere Entwicklung im Feld der qualitativen Forschung, welche die Brücke zum hier zu besprechenden Buch schlägt: die Autoethnographie, die explizit die Erfahrungen der forschenden Person im Feld als Ausgangspunkt zur Beschreibung sozialer Milieus nimmt (vgl. Ellis, Adams & Bochner 2010). Dass in der wichtigsten Zeitschrift zur qualitativen Forschung „FQS“ mehr als 100 Aufsätze zum Thema Autoethnograpie zu finden sind, belegt die Relevanz des Themas1.
Dieser Entwicklung neuer Forschungs- und Darstellungsformen in der qualitativen Forschung korrespondiert eine Entwicklung des literarischen Schreibens, der kürzlich in der Zeitschrift „WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung“ von Johannes Völz (2022) eine ganze Ausgabe gewidmet wurde: der Autofiktion. Als Genre, das die Gestaltungsmittel des Romans nutzt, um authentisches Leben darzustellen, dient sie in dieser genannten Ausgabe der Zeitschrift als Quelle neuerer sozialwissenschaftlicher Beschreibungen der Gesellschaft.
An diese beiden Entwicklungen knüpft das Buch von Andrea Roedig an; es stellt einen Prototyp neuerer hoch reflexiver Beschreibungen des Erlebens und Bewältigens sozialer Lagen dar. Es konkurriert mit den herkömmlichen Darstellungen sozialwissenschaftlicher Texte und ergänzt sie in einem zentralen Punkt: Es überschreitet in der Perspektive vom erlebenden, erleidenden und bewältigenden Ich die fachliche Fiktion isolierter sozialer Probleme und stellt eine intersektionale Analyse mehrerer Problemebenen dar.
AutorIn
Andrea Roedig wurde 1962 in Düsseldorf geboren und studierte an der Freien Universität Berlin Philosophie. Sie promovierte mit einer vergleichenden Arbeit über Jean-Paul Sartre und Michel Foucault, war wissenschaftliche Mitarbeiterin dieser Universität und leitete fünf Jahre die Kulturredaktion der Wochenzeitung „der Freitag“. Sie lebt in Wien als freie Publizistin und ist Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift „Wespennest“. Sie erhielt den n-ost-Reportagepreis für die Reportage „Macht, dass ihr rüberkommt“ und den österreichischen Theodor-Körner-Preis für das Interview-Projekt „Bestandsaufnahmen aus der Provinz des Lebens“ (mit Sandra Lehmann 2015).
Inhalt
Die an dieser Stelle einer Rezension übliche Darstellung der Gliederung eines Buches und seiner argumentativen Entfaltung wird dem besprochenen Text nicht wirklich gerecht, denn im Anfang ist das Ende präsent und das Ende auf eine eigene Weise offen. Die folgende Übersicht fokussiert auf wichtige Szenen und nennt zentrale Quellen der Darstellung.
Fips
Die Autorin erinnert sich an ihre kindlichen Spiele, die lieb gewonnene Spielsachen einem Verlustrisiko aussetzen, und vergleicht sie szenisch mit dem Vorfall, in dem ihr Herzensdrache „Fips“ durch ein provozierendes Spiel der Mutter im Gully eines Schwimmbades unwiederbringlich verschwindet. Bindung und Verlust sind damit als Thema etabliert.
„Sie schlagen das Kind ja tot.“
Die Prügelorgien der kleinbürgerlichen, geschichtslosen Oma Adler gegenüber ihrer Tochter Lilo, der Mutter der Autorin, leitet eine erste biografische Übersicht über das Leben der Mutter ein. Diese will aus kleinbürgerlichen Verhältnissen „hoch hinaus“ und wird zur begehrten, sich schön (und rar) machenden Modefachverkäuferin.
Sie war die Schönste
Das Tagebuch der Mutter seit deren später Pubertät, das sie der Tochter später vererbt und das eine weitere Quelle der Rekonstruktion wird, entwickelt die Verliebtheiten und die Rolle des Modegeschäfts einer Frau, deren äußerliche Präsentation für die Tochter zwischen Doris Day und Jeanne Moreau changiert.
Hochzeitsnacht
Die folgenden familiären Erinnerungen erzählen davon, wie ihre Mutter den späteren Vater kennenlernt, von deren Flucht in der Hochzeitsnacht sowie der Rolle als Ehefrau und neue Chefin einer großen, wohlangesehenen Metzgerei – Aufstieg und Laufsteg in einem. Den Abschluss bildet die Bildanalyse eines Fotos von der kirchlichen Trauungszeremonie, in der sich die Schwiegerfamilie nicht begeistert zeigt: Die Mutter der Autorin wird ein Fremdkörper darin bleiben.
Zwei Kinder, ein Porsche
Der Autorin liegt eines jener vorstrukturierten Familienalben zur Kindesentwicklung vor, in der die eintragende Mutter nicht vorkommt, aber alle anderen familiären Umstände. Ihr fällt auf, dass sie und ihr Bruder wirken, wie die Kinder von Schauspielerinnen in Illustrierten: eine Bühne. Weitere Erinnerungen streifen die übergriffige sexuelle Freizügigkeit und den Egoismus des Vaters, der nach einem knapp überlebten Unfall im Sportwagen den nächsten ordert, und einen Wutausbruch, als sie das Auto in kindlicher Weise bemalt.
Oh lieb, oh lieb
Weiter ergibt sich anhand der Fotoalben die Suche nach einem Freund der Familie, der von der Hilflosigkeit der Mutter und der immer stärker auf Alkohol orientierten Feste erzählt. Die Großmutter wird wieder wichtiger, während die Mutter nicht nur vor den Weihnachtsfesten der Schwiegerfamilie flieht.
Frontstage – Backstage
Aus Gespräch und einem Spiel mit dem Bruder werden Teile des Mosaiks mütterlicher Eigenschaften rekonstruiert: das kurze Trösten, die Herrin hinter der Ladentheke, ihre Ängste, das Haus zu verlassen, und ein Arzt, der ihr Aufputsch-, Schmerz- und Schlafmittel verschreibt. Die Kinder holen die Rezepte, betteln bei Apotheken, wenn sie kein Rezept haben, und werden geschickt, Alkohol zu kaufen. Im betrunkenen Zustand fragt die Mutter die Kinder wieder und wieder, zu wem sie gehen, wenn sich die Eltern scheiden lassen würden.
Das Schäfchentribunal
Gemeinsame Erinnerungen sind die Quelle dieses Abschnitts: wie der Bruder in einem Strafritual wegen eines Fehlers doch eine Ohrfeige bekommt, wie seinem Lieblingsspielzeugschaf das Ohr abgeschnitten wird, die immer betrunkenen Sonntage, die Mutter und ihr Verhältnis zu „schönen Dingen“, der Vater als noch funktionierender Trinker.
„Kriese 74“
Nach dem auf einem Schuldenberg verbrachten Urlaub eröffnet der Vater den Kindern den Bankrott der Metzgerei; es folgt der Auszug in eine Mietswohnung, und hier beginnt die eigene Dokumentation der Autorin durch ihre Tagebücher, Briefe und selbst gezeichneten Comics. Die Mutter entwickelt Halluzinationen und glaubt sich mit selbst gebasteltem Schmuck verwirklichen zu können. Der findet jedoch keine Abnehmer:innen. Die Kinder werden immer stärker für das nach außen hin demonstrierte Funktionieren der Familie beansprucht (betteln darum, dass Einkäufe „angeschrieben werden“). Gleichzeitig begehren sie dagegen auf, wie eine kleine Serie von Kaufhausdiebstählen zeigt.
Zersprengt
Die Dreizehnjährige hat als Einzige den Brief mit der Ankündigung der Zwangsräumung gelesen, die Eltern waren dafür zu betrunken; sie nimmt alles an sich und mit zur Schule, was ihr wichtig ist. Es beginnt der Wechsel zwischen nicht bezahlten Hotels. Indirekt kann die Autorin der Leiterin einer katholischen Jugendgruppe das Fiasko vermitteln: Die Pfarrei setzt die Großeltern väterlicherseits unter Druck, die Kinder aufzunehmen, worauf sie ihren Sohn und die Enkel aufnehmen, die Mutter jedoch definitiv abweisen. Nach einem kurzen Intermezzo wird die Autorin in ein katholisches Internat vermittelt, der Bruder in ein Kinderheim. In einer städtischen Lagerhalle kann die Autorin ihren Besitz (u.a. die Tagebücher und einige Fotoalben) retten.
Ohne sie
Die Mutter ist verschwunden, das Internat wird von strengen Nonnen geführt und „der Wahnsinn der Pubertät tobt im Tagebuch“, das nun mit einem neuen Namen angeredet wird. Die Autorin attestiert sich ein manisches Schreiben, das psychologisierend um Angst, Schuld und Scham kreist; von einigen Müttern ihrer neuen Freundinnen fühlt sich sie angezogen und glaubt, sich nichts wünschen zu dürfen.
Die Nacht des Jägers
In dieser Zeit einer langsamen Konsolidierung darf und muss die Autorin an den Wochenenden in die „Heimat“, das ist nun die Mutter ihrer Mutter, die nett war, aber in der Nähe eine umfassende Kontrolle ausübt, was dem Erleben ihrer Mutter ähnelt. Nach drei Jahren Abwesenheit meldet sich die Mutter wieder und die Autorin schwankt zwischen Hin- und Abwendung. Die Mutter ist nun mit einem Spielhallenbesitzer liiert, den die Tochter nicht mag, der Besuch bei beiden in München vertieft die Ablehnung.
Ein Wort, und ich bring mich um
Ein weiterer Besuch zu Weihnachten und der Sommerurlaub mit dem neuen Mann der Mutter erlebt die Autorin als Nötigung zur Übernahme einer Frauenrolle, die ihr nicht passt: Schminke und hochhackige Schuhe. Inzwischen besitzt er ein marodes Gasthaus, in dem die schwierige Großmutter nun auch mit von der Partie ist. Hier setzen umfangreichere Rekonstruktionen des Lebens der Mutter anhand von späten Interviews mit Verwandten ein; die Mutter deutet nur eine Inhaftierung an und droht, dass davon niemand erfahren dürfe, sonst bringe sie sich um. Der Vater hat sich auf eine prekäre Weise stabilisiert und Unterkunft bei seinen Eltern gefunden.
Kein Herz
Anhand eines Kartenspiels wird die Frage, wer „Herz“ habe, zur erklärungsbedürftigen Metapher – nur in flapsiger Form können Bedürfnisse geäußert werden. Der Partner der Mutter suizidiert sich; die Mutter betreibt mit der Großmutter die Gaststätte. Aus der vergeblichen Konkurrenz mit dem Bruder wird das endgültige Bündnis mit ihm. Nach langer Bemühung sagt er: Sie ist gefühlskalt. Der Bund mit ihm bedeutet: Wir sind uns Familie.
Heinz und das Rhinophym
In der Gaststätte lernt die Mutter unter den einheimischen Geschäftsleuten einen neuen Mann kennen, der ein Bettengeschäft betreibt, in das sie sich einarbeitet und das zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt wird. Die Autorin billigt die neue Heirat nicht, sieht es als Selbstverkauf der Mutter, aber der neue Partner ist „ohne Harm“. Ein Gedicht der Mutter und die Spiegelung des Familienmusters in einer therapeutischen Aufstellung dienen als Material, ferner die Analyse eines Fotos von einem Treffen nach längerer Unterbrechung der Besuche und nachdem sich beide Nicht-mehr-Kinder als homosexuell geoutet haben.
Das dänische Bettenhaus
Das Kapitel beschreibt den Niedergang des Geschäfts durch moderne Konkurrenz sowie das Altern der Mutter und ihres Partners.
Die Grafologin
Ein weiteres Experiment – es ist sozusagen der zweite projektive Test nach der Familienaufstellung – unternimmt die Autorin mit drei Schriftproben der Mutter aus unterschiedlichen Zeiten. Die Grafologin vermutet, der Bruch sei während der ersten Ehe passiert.
Ein armes Schwein
Der körperliche Verfall der Mutter und ihres Mannes korrespondiert mit ihrer Abwehr eines Besuches. Angesichts eines Krankenaufenthalts wird es ein Hausbesuch in einem völlig unaufgeräumten Chaos; überall findet die Autorin Kinderbilder von sich und ihrem Bruder. Gespräche mit zwei Ärzten bringen deren Perspektive auf die beiden alten Menschen ein.
Ihr wart das Beste
Der Wechsel zwischen Krankenhaus, Pflegeheim, Wohnung und den medizinischen Institutionen füllen den vorletzten Abschnitt. Er endet mit dem Besuch der Autorin bei ihrer Mutter, Berührungen und Hilfestellungen, ohne dass noch ein Gespräch möglich ist; die Mutter halluziniert wie zu Zeiten ihrer Tablettenabhängigkeit. Es folgen ein letztes Telefonat und ihr Tod.
„Es war nicht meine Schuld“
Nach dem Tod des Partners der Mutter findet die Autorin in ihrer Sammlung einen zornigen Brief von ihr an die Mutter, in dem sie sich über deren Unzugänglichkeit beschwert. Die Mutter hatte mit der Erinnerung geantwortet, dass die Kinder ja nicht mit ihr mitgekommen seien, als sie von ihren Schwiegereltern weggeschickt wurde. „Das ist ihre Wahrheit. Sie ist fortgejagt worden, und wir sind nicht mit ihr gegangen.“ Das Buch endet mit Reflexionen über das Schreiben und Erzählen, um an die Gefühle heranzukommen, die nicht mitgeteilt werden konnten; hier rekurriert die Autorin auf Bowlby.
Diskussion
Es ist ein multiples Sachbuch zu den biografischen Traumata der Kriegs- und Nachkriegszeit, personifiziert durch eine prügelnde Großmutter; es geht um das Aufwachsen der Enkelin in einer scheinbaren Passung der Eltern, die in Alkohol- und Tablettenabhängigkeit führt und über Zwangsräumung und Zerstreuung von Eltern und Kindern schließlich in den Niedergang der Familie mündet. Eine jugendkriminelle Verwahrlosung der Kinder droht während ihrer wechselnden Fremdunterbringung. Ihre Jugend endet, während die Eltern – inzwischen getrennt und die Mutter zeitweise verschwunden, dann neu liiert – sich auf eine prekäre Weise stabilisieren. Es ist ein Sachbuch über das sadistisch anmutende Anbieten und Verweigern von Beziehung durch die im späteren Verlauf tablettenabhängige Mutter und einen irrelevant werdenden, selbstbezogenen trinkenden Vater, über den Missbrauch kindlicher Loyalität, das Aufwachsen in Scham, die Abwesenheit tragender Angebote der Sozialen Arbeit und die eingeschränkten Hilfen im konfessionellen Milieu. Es ist auch ein Buch über eine rheinisch-katholische Lebenswelt der 1950er bis 1980er Jahre, über das Lesen und Schreiben als Widerstand und Selbstrettung und nicht zuletzt ein Buch über weibliche Identitätsfindung. Und es ist eine Spurensuche nach der Person der Mutter, die über drei Jahre völlig verschwindet und auch sonst nicht wirklich greifbar ist – es sei denn, sie greift nach den Kindern, um sie in einer neuen und ähnlich desaströsen Partnerbeziehung zur Inszenierung von Familie zu gebrauchen: ein Vorhaben, das sich aus der inneren Dynamik ihrer sozialen Situation selbst zerstört. Zurück bleibt ein schreibendes Ich, das exemplarische Szenen rekonstruiert, mit weiteren verbindet, auf ihren Zusammenhang prüft, spätere Fundstücke, Fotoalben und Interviews mit Bekannten und Verwandten erhellend auswertet und die Auswirkungen auf sich reflektiert. Die drei oft gegenteilig gebrauchten Adjektive schonungslos, nüchtern und sensibel passen hier gleichzeitig, auch kann man sich der Komik der Situation nicht entziehen, wenn das 14-jährige Ich im katholischen Internat auf die Frage, welche Sakramente es neben der Ehe gebe, in den Raum ruft: „Die Scheidung!“. Der Text öffnet das Erleben bis in schmerzhaft intime Details und ist doch völlig kontrolliert – kein Wort zu viel, vor allem kein bewertendes Wort zu viel. Diese Sprache erinnert an eine Bemerkung, dass die Sprache das klare Wasser sein solle, das über den Kiesel in einem Bachbett spiele, ein Wasser, das zugleich bewege und durchsichtig sei. In diesem Sinn gestaltet die Sprache dieses Buchs die kaum aushaltbaren sozialen Phänomene deutlich und durchsichtig. An ganz wenigen Stellen gibt die Autorin diese Distanz auf und kommentiert den Kontrollverlust auch gleich wieder. Durch diese klarsichtige Schreibweise explodieren die Geschichten erst im Kopf der Lesenden.
Was macht das Lesen nicht nur aushaltbar, sondern erzeugt eine Spannung, die dazu führt, dass man das Buch in zwei Tagen durchliest? Roedigs literarisches Verfahren fragmentiert die amorph-bedrückende Masse von Kindheit, das Formlose gewinnt in der Zergliederung seine Bewältigung: Es sind (in großer Schrift) acht bis 16 Seiten pro Kapitel. Diese Kapitel sind selbst Sammlungen von Kleinstgeschichten, folgen entweder chronologisch oder reflexiv ergänzend und werden von einer thematischen Hauptüberschrift und einem darauf bezogenen kommentierenden Schlusssatz gerahmt. Sie sind immer beendet, bevor man zu viel Verstörung erlebt. Des Weiteren sprechen die Passagen darüber, wie die Autorin zu den Materialien kommt (u.a. zum Tagebuch der Mutter), welche Materialien verloren sind (Tonband und Film), welche Gespräche sie mit weiteren Personen führte (u.a. mit dem angeblichen Liebhaber der Mutter, mit ihrem Bruder und anderen), ein detektivisch-forschendes Motiv an, das Lesenden eine reflexive Pause von dem rohen Leben beschert. Der bereits erwähnte wiederkehrende Vergleich von Szenen auf Gemeinsamkeiten und Differenzen erlaubt ebenfalls eine affektive Abstandnahme, aber auch kognitive Annäherung.
Theoretische und literarische Einordnung
Das Buch verbindet Ansätze der Autoethnographie und der Autofiktion. Die Einordnung in das Genre „Autobiografie“ würde die methodische Qualität des Textes verfehlen und ebenso den Bruch mit einer narrativen Illusion verkennen, denn die Grenzen des Wissbaren werden immer wieder aufgezeigt. Man kann das Buch als zeitgemäße Parodie auf Simone de Beauvoirs „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ (1984, org. 1958) lesen; Beauvoir überschritt Philosophie und Literatur hin zu einer retrospektiven Erforschung des eigenen Lebens in öffentlich-eingreifender Absicht – aber was hat sich alles geändert! Statt des gehobenen bürgerlichen Milieus der soziale Absturz; statt der linearen Erzählung eine szenische Hermeneutik, welche die drei Generationen von Großmutter, Mutter und Kind in ihren Brechungen und Gegenbewegungen rekonstruiert; und eine fortwährende Kritik der Erinnerung, welche die Sicherung und Erhebung von Material sowie seine perspektivischen Einschränkungen reflektiert. So werden oft mehrere Lesarten der Fotografien entwickelt und auch offen gelassen, welche Deutung die stimmigere ist. Man wird an Annie Ernaux (u.a. 2021) erinnert, die sich als Ethnologin ihres Selbst bezeichnete, aber dieser Text hier ist reflexiv gebrochener; mehr noch an Didier Eribon (2016), mit dem Andrea Roedig auch die Frage nach der Richtung des eigenen Begehrens verbindet. Von beiden trennt sie das eher psychologische als soziologische Interesse, auch wenn letzteres nie ganz fehlt.
Explizit werden Bowlby und seine Überlegungen zu Bindung, Affekt und Versprachlichung zitiert: „Was der Mutter nicht mitgeteilt werden kann, kann nicht an das Selbst weitergegeben werden.“ (S. 238) Die von der Autorin erwähnten frühen Tagebücher aus der Zeit ihrer Pubertät, die einen Frauennamen erhielten und in briefartiger Form angeschrieben wurden, und dieses Buch gehen über Bowlbys düstere Einschätzung hinaus; es fallen einem Winnicotts Übergangsobjekte ein, die im Schreiben und als Schreiben entstehen können.
Mit welcher Methode aus dem Kanon der qualitativen Sozialforschung lässt sich die literarische Methode der Autorin vergleichen? Es scheint mir die szenische Hermeneutik nach den frühen Schriften von Alfred Lorenzer zu sein (u.a. 1976), eine Neuinterpretation der Psychoanalyse, in der es darum ging, zwischen den verschiedenen Szenen das Gemeinsame, das Gesagte wie das Fehlende durch Vergleiche zu rekonstruieren und dabei die (Gegen-) Übertragungen der Interpretierenden als szenisches Material einzubringen (nicht zu verwechseln mit späteren Varianten des Assoziierens in Gruppen, die zeitweise unter dem gleichen Begriff firmierten).
Diese analytische Einstellung der Autorin sei an einem Beispiel skizziert: Eine der Kriegsgeschichten der Mutter, die zu einer pädagogischen Fabel wurde, erzählt die Geschichten von zwei Kriegsheimkehrern: Der eine hat ein Bein verloren und kommt zerlumpt zurück, hat aber seiner Tochter ein aus einer Streichholzschachtel gebasteltes Puppenbett mitgebracht; der andere kommt gut gekleidet, mit Blumenstrauß und teurer Puppe zurück. Wer ist der bessere Vater? Es war klar, was die Kinder auf die Frage zu antworten hatten, und die Kinder bastelten die Puppenbetten aus Streichholzschachteln nach.
Diese szenische Allegorie nimmt die Autorin nun auseinander und deutet sie unter anderem im Hinblick auf die erlebte Mittellosigkeit der Mutter, eine Moral des großen Gefühls und ihre versteckte Ambivalenz, von Reichtum angezogen zu sein und ihn zugleich zu verachten. Liebe und Wert der Gabe werden in eins gesetzt und mit anderen Gaben in anderen Geschichten vergleichend analysiert: Der Schmerz beim Geben entscheidet. Aus der Fabel, erzählt in pädagogischer Absicht, entwickelt die Autorin eine szenisch-vergleichende Analyse dieser und anderer Geschichten in aufschließender Absicht: einer Umkehr von Erziehung.
Fazit
Das Buch „funktioniert“ auch als Literatur, aber das wäre zu wenig. Es ist eine fachliche Provokation der sozialwissenschaftlichen Darstellungskonventionen, besonders der qualitativen Forschung und der Sozialen Arbeit. Es verabschiedet sich von der Fiktion isolierter sozialer Probleme und öffnet den Blick auf ihre Bewältigung aus der Perspektive eines Sinn und Bindung suchenden Subjekts. In seiner Zugänglichkeit ist es auch im Grundstudium der Sozialen Arbeit zu verwenden, in seinem Anspruch zielt es auf qualitativ Forschende, die auf der Suche nach neuen Darstellungsmöglichkeiten sind.
Danksagung
Für hilfreiche Diskussion des Buchs danke ich Bianka Bönsch, für eine produktive Durchsicht des Textes Ines Eifler.
Literaturverzeichnis
De Beauvoir, Simone (2014). Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Übersetzt von Eva Rechel-Mertens. Hamburg: Rowohlt (Orginal: Mémoires d’une jeune fille rangée, 1958).
Ellis, Carolyn; Adams, Tony E. & Bochner, Arthur P. (2010). Autoethnography: An Overview. Forum Qualitative Sozialforschung/​Forum: Qualitative Social Research, 12 (1), [online] https://doi.org/10.17169/fqs-12.1.1589 [04.09.2022].
Eribon, Didier (2016). Rückkehr nach Reims: Berlin: Suhrkamp.
Ernaux, Annie (2021). Eine Frau. Berlin: Suhrkamp.
Geertz, Clifford (1990). Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. München: Hanser.
Lorenzer, Alfred (1976). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Reichertz, Jo (2007). Qualitative Forschung auch jenseits des interpretativen Paradigmas? Vermutungen. Erwägen Wissen Ethik, 18 (2), S. 276–293.
Roedig, Andrea (2021). „Ich köpf jeden der das ließt!“ – Sechs Fragen an das Tagebuch. SWR2 Essay, [online] https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/ich-koepf-jeden-der-das-liesst-sechs-fragen-an-das-tagebuch-swr2-essay-2021-09-26-100.html [04.09.2022].
Roedig, Andrea; Lehmann, Sandra (2015). Bestandsaufnahme Kopfarbeit. Wien: Klever.
Völz, Johannes (Hrsg., 2022). Autofiktion und die Poetiken der Singularität. West-End, Neue Zeitschrift für Sozialforschung. Heft 1/2022, [online] https://www.campus.de/produkt-detail/westend_1_2022_autofiktion_und_die_poetiken_der_singularitaet-17133.html [05.10.2022].
Rezension von
Prof. Dr. habil. Rudolf Schmitt
Sozialwissenschaftler
Website
Mailformular
Es gibt 4 Rezensionen von Rudolf Schmitt.
Zitiervorschlag
Rudolf Schmitt. Rezension vom 10.10.2022 zu:
Andrea Roedig: Man kann Müttern nicht trauen. Deutscher Taschenbuch Verlag
(München) 2022.
ISBN 978-3-423-29013-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29393.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.