Sarah Uhlmann: Reproduktionskämpfe in der Stadt
Rezensiert von Ellen Drutschmann, 27.06.2022
Sarah Uhlmann: Reproduktionskämpfe in der Stadt. Eine vergleichende Fallstudie urbaner sozialer Bewegungen in New York City, Buenos Aires und Hamburg.
Verlag Westfälisches Dampfboot
(Münster) 2022.
400 Seiten.
ISBN 978-3-89691-074-5.
D: 40,00 EUR,
A: 41,20 EUR.
Reihe: Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis - 40.
Thema
Teurer Wohnraum, Verdrängung, prekäre Wohnverhältnisse sowie die voranschreitende Kommodifizierung und Privatisierung städtischer Räume – überall auf der Welt bestimmen diese Verhältnisse das Leben der Menschen in der Stadt und mobilisieren diese zu Gegenprotesten. Die Autorin Sarah Uhlmann untersucht in ihrem Buch diese Bewegungen, die für die Erhaltung des öffentlichen Raumes sowie bezahlbaren Wohnraum protestieren, in Buenos Aires, New York City und Hamburg.
Aus einer bewegungssoziologischen Perspektive wird in diesem Forschungsprojekt auf politikökonomische, stadtsoziologische sowie raumtheoretische Ansätze zurückgegriffen um die ausgewählten Protestbewegungen in New York City, Buenos Aires und Hamburg im Hinblick auf ihre Praktiken und Inhalte zu analysieren und zu vergleichen. In der anschließenden Klassifizierung ordnet Sarah Uhlmann die urbanen Proteste den Klassenkämpfen zu. Dabei finden die Kämpfe nicht wie bei den Arbeiter*innenbewegungen in der Lohnsphäre, sondern in der Reproduktionssphäre statt. Somit können die sozialen Kämpfe in der Stadt um Wohn- und öffentlichen Raum als Reproduktionskämpfe charakterisiert werden.
Autorin
Sarah Uhlmann forscht derzeit als Postdoktorandin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena am Institut für Soziologie zur sozialen Bewegungsforschung und feministischer politischer Ökonomie. Sie studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Leipzig und Barcelona und promovierte an der Berlin Graduate School of Social Sciences der Humboldt-Universität.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um eine Dissertation, bei der die Forscherin die qualitative, vergleichende und raumbezogene Fallanalyse verwendet, um die ausgewählten sozialen Bewegungen zu untersuchen, miteinander in Beziehung zu setzen und dabei möglichst viele verschiedene Faktoren, insbesondere die ökonomischen Bedingungen, mitzuberücksichtigen. Sie wählte dabei einen explorativen Forschungszugang. In einem kreativen, reflexivem und sich wiederholenden Prozess werden Daten erhoben, analysiert und Theorien gebildet. Zentraler Gegenstand waren die von 2014 bis 2018 mit den Aktivist*innen und Organizer*innen ca. 50 geführten Interviews. Daneben wurden zahlreiche Dokumente und Veröffentlichungen der Bewegungen analysiert, teilnehmende Beobachtungen durchgeführt sowie Daten und Literatur zur jeweiligen Stadtentwicklung untersucht.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in drei große Teile. Im I. Teil wird in den Forschungsstand der sozialen Bewegungsforschung eingeführt und die theoretischen Grundlagen des Forschungsprojektes dargelegt (Kapitel 1–3). Darauf folgt die Auswahl des Forschungsdesigns sowie der angewendeten Methoden (Kapitel 4). Der II. Teil umfasst die Empirie, bei dem die ausgewählten Protestbewegungen in Buenos Aires, Hamburg und New York City analysiert werden (Kapitel 5–8). Daran schließt der Vergleich und die Charakterisierung dieser im III. Teil an und die urbanen sozialen Bewegungen werden zum Schluss als Reproduktionskämpfe und somit als erweiterte Klassenkämpfe verortet (Kapitel 9–11).
Inhalt
Mit dem Ziel die urbanen sozialen Bewegungen, die um Wohnraum kämpfen und die Stadt als Kollektivgut verteidigen, auf globaler Ebene entgegen einer eurozentristischen Perspektive zu untersuchen, hat Sarah Uhlmann die urbanen Proteste in Buenos Aires, Hamburg und New York City als Analysegegenstand ausgemacht.
In der Darlegung des Forschungsstands zu sozialen Bewegungen, spricht sie Manuel Castells eine bedeutende Rolle für die postmarxistische Stadtforschung zu und greift auf den von ihm eingeführten Begriff der urbanen sozialen Bewegungen zurück. Dieser müsse sich jedoch von seiner normativen Färbung und der damit verbundenen Einschränkung, was überhaupt als urbane soziale Bewegung gilt lösen, um nicht nur die Ergebnisse und Erfolge in den Blick zunehmen, sondern vielmehr den Prozess der Mobilisierung.
Um die urbanen sozialen Bewegungen im Verhältnis zum gesellschaftlichen Kontext untersuchen zu können, wählt die Autorin die ‚Political-Process-Theory‘ (PPT) nach Charles Tilly, Sidney G. Tarrow und Dough McAdam. Mit dieser Akteurszentrierten Perspektive werden in den Fallanalysen die kognitiven und relationalen Faktoren der Protestbewegungen herausgearbeitet. Für die Verortung der Proteste in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang erweitert Sarah Uhlmann die in dem PPT-Modell beschriebenen kontextbezogenen Mechanismen und schließt damit die ökonomischen Entwicklungen insbesondere die in der Stadt mit ein.
Die Untersuchung der Entwicklung des Kapitalismus Uhlmanns zeigt, dass die Krise des Fordismus eine neue Form, die des finanzialisierten Akkumulationsregime hervorgebracht hat. Durch den Niedergang der Profite in Produktion und im Gewerbe wurde verstärkt Kapital in den Finanzmarkt und in den Immobiliensektor eingesetzt. Dies ging mit einer enormen Wertsteigerung des Bodens und Wohnraums einher, welche wiederum die Mieten stark ansteigen ließen. Zur Abfederung der Krise wurden parallel dazu Regelungen zur sozialen Sicherung zurückgenommen. Kosten zur Lebenserhaltung stiegen an und zugleich stagnierten die Löhne der Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Wenn auch zeitlich versetzt und in unterschiedlicher Ausprägung, so zeigt die Autorin, dass diese Entwicklungen in allen Städten der Untersuchung sichtbar werden und der Druck auf die unteren Einkommensschichten immens steigt. Dass dieser Prozess Restrukturierungs- und Aufwertungsprozesse in Stadtteilen in Gang setzt und somit in die Raumproduktion direkt eingegriffen wird, schildert die Autorin detailliert in den Fällen Hamburg, Buenos Aires und New York City. Wohnraum wird nicht mehr ausschließlich als Gebrauchswert für die Absicherung der sozialen Reproduktion wahrgenommen, sondern zunehmend als Tauschwert und somit als Geldanlage veräußert. Mittels raumtheoretischer Ansätze wird in ihrem Werk dementsprechend die Beziehung zwischen ökonomischen Verhältnissen sowie Entwicklungen und sozialen Ungleichheiten sichtbar, da sich diese „[…] sozialräumlich ausdrücken und in der Stadt materialisieren“ (Uhlmann 2022, S. 24). Doch Raum ist auch für die Protestbewegungen von elementarer Bedeutung. So greifen diese auf ihn als Medium mittels der Verortung im Stadtteil und der Entwicklung einer kollektiven Identität zurück, sowie als Ressource zur eigenen Raumproduktion bspw. durch die Besetzung und Schaffung von Freiräumen, die sie nicht kommerziell organisieren und somit der gängigen Verwertungslogik entziehen.
In der Analyse und im Vergleich der urbanen sozialen Bewegungen werden die Differenzen sichtbar, die von den politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der einzelnen Länder und Städte beeinflusst werden. So sind beispielsweise Systeme zur sozialen Sicherung und Regelungen zum Schutz von Mieter*innen in Deutschland am stärksten ausgeprägt. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Deutschland ist Argentiniens Stellung in der globalen Wirtschaftsordnung gering(er), absolute Armut sowie die sozialräumliche Polarisierung sind hingegen am stärksten ausgeprägt. Die Bewegungen sind vor allem von Arbeiter*innen und von Menschen aus niedrigeren Einkommensschichten organisiert. Auch in New York City sind ärmere und tendenziell von Verdrängung betroffene Bewohner*innen stark in den Bewegungen durch Nichtregierungsorganisationen und Mietergewerkschaften eingebunden. In Hamburg hingegen bestehen die einzelnen Protestbewegungen und Initiativen mehrheitlich aus Angehörigen der Mittelschicht. Trotz der vielen Unterschiede hinsichtlich der Forderungen, Strategien und Praktiken der urbanen sozialen Bewegungen können nach Uhlmann drei verschiedene Artikulationsformen identifiziert werden. Die erste Gruppe bilden stadtpolitische und institutionalisierte Akteur*innen, die zweite sind wohnungspolitische und nachbarschaftliche Gruppen und die dritte besteht aus sozio-territorialen Organisationen und Projekten.
Um die urbanen sozialen Bewegungen als ökonomisch bedingte Protestakteur*innen theoretisch zu deuten und einzuordnen, nimmt Sarah Uhlmann im Anschluss die Verortung der Bewegungen als erweiterte Klassenkämpfe vor. Dabei bezieht sie sich auf den Ansatz der sozialen Reproduktion, welcher die Sphäre der Reproduktion als elementare Voraussetzung für die Herstellung von Arbeitskraft und für den Fortbestand des kapitalistischen Systems herausstellt. Wie die Analyse der ökonomischen Entwicklungen zeigt, werden immer weiter vorher nicht-marktförmig organisierte Teile der Gesellschaft in den Markt integriert und wirken sich dementsprechend auf die Reproduktionssphäre aus. Aus dieser Verflechtung der Produktion und Reproduktion leitet die Autorin die Notwendigkeit ab, die Reproduktionssphäre in die Analyse sozialer Kämpfe einzubinden und auch die Protestbewegungen für bessere Wohn- und Lebensbedingungen als Klassenauseinandersetzungen zu deuten.
Diskussion
Das Buch ist sehr lesenswert und es kann an dieser Stelle eine ausdrückliche Empfehlung zur Lektüre ausgesprochen werden. Besonders interessant war für mich die Analyse der sozioterritorialen Bewegungen in Buenos Aires in den irregulären Siedlungen, den Villas. Diese übernehmen Aufgaben der sozialen Reproduktion und zur Aufrechterhaltung der sozialen Infrastruktur und wurden aufgrund ihres Wirkens in der alltäglichen Sphäre, so Uhlmann, oftmals nicht als soziale Bewegungen wahrgenommen. Der Bezug auf diese als soziale Kämpfe erweitert und schärft den Blick für das Verständnis von politischem Handeln. Er verbleibt nicht in einer institutionalisierten Ebene, bei der der Schwerpunkt auf die Verabschiedung von staatlichen Regulierungen und Gesetzen abzielt.
Fazit
Durch die Verknüpfung von politikökonomischen, stadtsoziologischen sowie raumtheoretischen Ansätzen hat Sarah Uhlmann einen sehr fruchtbaren Zugang zu den urbanen Protestbewegungen gefunden. Ohne dabei eine einseitig strukturalistische Perspektive einzunehmen, gelingt ihr die Charakterisierung der urbanen sozialen Bewegungen mit dem Rückgriff auf die Theorie der sozialen Reproduktion als erweiterte Klassenkämpfe und leistet somit einen wichtigen Beitrag für die soziologische Bewegungsforschung, die sich zu einem materialistischem Gesellschaftsverständnis zurückbesinnen sollte.
Rezension von
Ellen Drutschmann
Studium der Politikwissenschaft und der Sozialen Arbeit (B.A.)
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Ellen Drutschmann.
Zitiervorschlag
Ellen Drutschmann. Rezension vom 27.06.2022 zu:
Sarah Uhlmann: Reproduktionskämpfe in der Stadt. Eine vergleichende Fallstudie urbaner sozialer Bewegungen in New York City, Buenos Aires und Hamburg. Verlag Westfälisches Dampfboot
(Münster) 2022.
ISBN 978-3-89691-074-5.
Reihe: Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis - 40.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29398.php, Datum des Zugriffs 17.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.