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Tobias Foß: Relevanz im Arbeitsalltag

Rezensiert von Dr. Christian Geyer, 05.08.2022

Cover Tobias Foß: Relevanz im Arbeitsalltag ISBN 978-3-17-039640-1

Tobias Foß: Relevanz im Arbeitsalltag. Das diakonische Profil in der Perspektive von konfessionslosen Mitarbeitenden. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 379 Seiten. ISBN 978-3-17-039640-1. D: 52,00 EUR, A: 53,50 EUR, CH: 62,40 sFr.
Reihe: Diakonie - Band 22.

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Thema

Das diakonische Profil von Organisationen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft ist ein kontinuierliches Thema der unternehmerischen, verbandlichen, kirchlichen und wissenschaftlichen Beschäftigung. Ohne Zweifel sind Selbstverständigungsprozesse notwendig, zumal eine Vergewisserung über Sinn und Zweck der Dienstleistungsorganisation im Hinblick auf Organisationsstrukturen und Kulturen, Dienstleistungen und Mitarbeiter:innen-Versprechen, Führungs- und Verhaltensgrundsätze usw. von Bedeutung ist. Die Organisationen sind auf die Legitimation durch ihre Umwelten angewiesen, die ihrerseits auf einer Kongruenz von normativen Institutionen und sozialer Praxis der Organisation beruht. Mit anderen Worten: „Wenn Diakonie draufsteht, dann muss auch Diakonie drin sein.“ Was aber ist das Diakonische einer sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisation?

Die zu besprechende Qualifikationsarbeit beansprucht, dieser Frage, aus der Perspektive konfessionsloser Mitarbeiter:innen in diakonischen Organisationen in Sachsen-Anhalt, nachzugehen. Im Mittelpunkt der Publikation steht die Analyse der qualitativen Forschung (12 leitfadengestützte Interviews). Das eigentliche Thema ist aber die religionspädagogisch-missionarische Frage, „wie eine menschliche Bemühung um Kommunikation der Kraft des Evangeliums … vollzogen werden kann. Die Berücksichtigung der Sichtweise der konfessionslosen Mitarbeitenden soll diesbezüglich als ‚heilsames Korrektiv‘ fungieren“ (S. 327). In der Publikation wird betont, dass die diakonischen Organisationen ein Ort und Medium dieser Kommunikation sind, und die konfessionslosen Mitarbeiter:innen eine spezifische Zielgruppe für diese Kommunikation darstellen.

Autor

Tobias Foß hat Evangelische Theologie studiert und an der Forschungsstelle Religiöse Kommunikations- und Lernprozesse der Universität Halle/​Wittenberg mitgearbeitet. Dort wurde er mit der vorliegenden Arbeit promoviert. Derzeit arbeitet er als Vikar im Pfarrbereich Hohenthurm bei Halle (Saale).

Aufbau

Das Buch ist in sechs Kapitel untergliedert. Im Zentrum steht das 4. Kapitel, das sich der Analyse der zwölf leitfadengestützten Interviews widmet. Die Kapitel im Einzelnen:

  1. Einleitung (S. 11 – 16)
  2. Vorwissen als fundamentalwissenschaftlicher Ausgangshorizont (S. 17 – 50)
  3. Methodologie und Methodik (S. 51 – 89)
  4. Analyse (S. 91 – 325)
  5. Handlungsorientierende Perspektiven (S. 327 – 359)
  6. Ausblick (S. 361 – 366)

Inhalt

In der Einleitung steigt Tobias Foß auf der Makro-Ebene ein und skizziert den religions- bzw. kirchensoziologischen Befund, dass eine Entkirchlichung weiter Teile der deutschen Bevölkerung zu beobachten ist. Die Folge sind kirchliche/​christliche Traditionsabbrüche und die Diversifizierung der Mitarbeiter:innen in der Diakonie. Auch die Auswirkungen auf das kirchliche Arbeitsrecht werden angedeutet. Vor diesem Hintergrund wird die Frage aufgeworfen, was es für die „diakonisch-christliche Profilierung“ von Sozialunternehmen, insbesondere in Ostdeutschland, bedeutet, wenn „ein Großteil der eigenen Mitarbeitenden … keiner Konfession angehört und sich bereits in einer zweiten bzw. dritten Generation formaler Konfessionslosigkeit befindet“ (S. 12). Damit wird eine relevante Forschungsfrage auf der Meso-Ebene aufgerufen, die eine organisationswissenschaftliche Arbeit erwarten lässt.

Die Hypothese, ein Unternehmensprofil werde durch die Organisationsmitglieder geprägt (vgl. S. 13), führt den Autor jedoch zu der Frage nach individuellen Identifikationsprozessen und damit auf die Mikro-Ebene der konfessionslosen Mitarbeiter:innen. Die Leitfrage der Untersuchung soll nunmehr darauf ausgerichtet sein, „wie konfessionslose Mitarbeitende als aktive Akteure an Gestaltungsprozessen eines christlich-diakonischen Profils partizipieren können und wie sich in diesem Kontext am ehesten Kommunikations- und Identifikationsprozesse einstellen“ (S. 14). Die Frage nach dem Profil wird personalisiert und so kommt der sozialen Organisation diakonischer Profilierung die fundamentale Aufgabe zu, die Kommunikation des Evangeliums darzustellen, um individuelle Kontaktflächen zu eröffnen und so mittelbar die diakonische Profilierung sicherzustellen. Im Kern handelt es sich also um eine religionspädagogisch-missionarische und weniger um eine organisationssoziologische Fragestellung.

Der theologische Hintergrund dieser Untersuchung wird im zweiten Kapitel dargelegt. Der Autor klärt den zentralen Begriff „christliche Lebensform“ (S. 18 ff.), die als alltägliche Gestaltwerdung des christlichen Glaubens in Haltungen und Handlungen, Sprache, sozialen Interaktionen und Wirklichkeitsdeutungen über die Institution Kirche hinausgeht (vgl. S. 23). Diese christliche Lebensform ist im Kern missionarisch ausgerichtet. Mission wird im Anschluss an Reinhold Bernhardt als primär darstellendes Handeln definiert (vgl. S. 28), das zu individuellen Lernprozessen anregt und auf die „Subjektwerdung“ (S. 29) abzielt. Diese Subjektwerdung ist im Verständnis des Autors eine vorläufige Annäherung an das Reich Gottes, in dem Gott den Menschen letztlich vollenden wird (vgl. S. 31).

Der Begriff der Konfessionslosigkeit wird im Anschluss an die Arbeiten von Gert Pickel als religiöse Indifferenz verstanden, „die durch Aspekte wie Teilnahmslosigkeit, Irrelevanz oder Gleichgültigkeit charakterisiert“ (S. 35) ist und sich zu einer eigenen „Kultur“ (S. 36) entwickelt hat, die insbesondere in Ostdeutschland vorgefunden wird (vgl. S. 36 ff.).

Das zweite Kapitel schließt mit einem Abriss von neun empirischen Studien zu Fragen diakonischer Kultur und Identität, diakonischer Arbeitsbeziehungen oder religiöser Einstellungen und Haltungen (konfessionsloser) Mitarbeiter:innen in der Diakonie (vgl. S. 40 – 50). Damit gibt Tobias Foß einen strukturierten Überblick über Studien aus den Jahren 1991 bis 2020, der transparent macht, wie gering die empirische Forschung in diesem Feld bislang ausgeprägt ist.

Das dritte Kapitel legt Rechenschaft über die Methodologie und Methodik der qualitativen Forschung ab. Demnach wird ein „methodisch kontrolliertes Fremdverstehen“ (S. 59) „im Relevanz- und Erfahrungshorizont des Forschers“ (S. 58) angestrebt. Auf der Basis der Grounded Theory werden zwölf leidfadengestützte Interviews mit konfessionslosen Fachkräften in den Feldern der Sozial- und Gesundheitswirtschaft geführt. Es werden neuen weibliche und drei männliche Personen aus sieben Einrichtungen, die zu vier diakonischen Unternehmen gehören, interviewt (vgl. S. 84 f.).

In der Auswertung der zwölf Interviews (Kapitel 4) werden die individuellen Grundhaltungen der konfessionslosen Mitarbeiter:innen im Hinblick auf die christliche Lebensform im Arbeitskontext systematisiert. Zunächst konstatiert Tobias Foß, dass der Ausgangspunkt oder Rahmen der Frage nach der Zugänglichkeit konfessionsloser Mitarbeiter:innen zur christlichen Lebensform mit „Distanz“ und infolge „Distanzierungen“ (S. 99) zu beschreiben ist. Diese Distanz ist unterschiedlich begründet, wenngleich die nicht-christliche, areligiöse Sozialisation und der damit verbundene Traditionsabbruch einen allgemeinen Hintergrund bilden. Auch ein negatives Bild von Kirche, ohne konfessionelle Differenzierungen, das durch mediale Vermittlung wahrgenommen wird, trägt zur Distanzierung bei. Gleichzeitig ist eine hohe Erwartung gegenüber der christlichen Lebensform im Hinblick auf Kolleg:innen, Leitung und Organisation feststellbar.

Die unterschiedlichen Qualitäten einer Zugänglichkeit zur christlichen Lebensform werden im Feld der Distanz sichtbar und sind i.d.R. mit dem Arbeitskontext verbunden. So unterscheidet Foß Zugänglichkeiten im Hinblick auf

  • zwischenmenschliche Handlungsvollzüge und
  • transzendente Bezüge.

Die beiden Gruppen der Zugänglichkeit werden in (a) Widerständigkeiten und (b) Zugänge unterschieden, wobei auch die Widerständigkeiten eine Form der Zugänglichkeit sind. Es überrascht nicht, dass zwei Drittel der Befragten der Zugänglichkeit im Hinblick auf zwischenmenschliche Handlungsvollzüge zuzuordnen sind. Im Kern wird die christliche Lebensform in diesem Cluster von den Befragten als Mitmenschlichkeit gedeutet und ist so in einem humanistischen Sinne für pflegerische und sozialpädagogische Professionelle anschlussfähig, ohne eine transzendente Dimension zu integrieren. Widerständigkeiten beziehen sich darauf, dass Anspruch (christliche Lebensform) und Wirklichkeit (Arbeitssituation/​Rahmenbedingungen, Führungshandeln) in der Wahrnehmung der Befragten nicht übereinstimmen.

Ein Drittel der Befragten lässt sich einer transzendenten Zugänglichkeit zuordnen, wenngleich hier die Widerständigkeit dominiert, die zwischen Faszination und Nachvollziehbarkeit einerseits und Widersinnigkeit und Gleichgültigkeit andererseits changiert. Und bei den Zugängen ist auffällig, dass eine Person insbesondere von einer konkreten Diakonisse beeindruckt ist, die als vorbildliche Repräsentantin der christlichen Lebensform wahrgenommen wird, weshalb die Befragte vorsichtig aussagt: „‘Ich denke, man kann schon ein Stückchen Kraft draus [christlicher Glaube, CG] tanken, ja. Das kann man vielleicht woanders nicht‘“ (S. 290). Die andere Person findet ihren Zugang zu einer transzendenten Dimension über den Buddhismus.

In der Zusammenfassung der Analyse (vgl. S. 320 ff.) hebt Tobias Foß einerseits die grundsätzliche Distanz zur christlichen Lebensform bei den konfessionslosen Mitarbeiter:innen hervor und andererseits die Zugänglichkeit zwischenmenschlicher Art, weil er hier eine Relevanz der christlichen Lebensform für den Arbeitsalltag der Befragten erkennt. Dass es sich dabei um eine professionelle, nicht-transzendente, im Grunde humanistische Zugänglichkeit zur christlichen Lebensform aufgrund des diakonischen Arbeitskontextes handelt, wird nicht reflektiert. Die Befragten stellen aus Sicht des Rezensenten auf einer kognitiven Ebene eine Korrelation zwischen den eigenen (professionellen) Werten und Haltungen und der christlichen Lebensform fest, die es ihnen ermöglicht, ihre Überzeugungen mit denen der Organisation (lose) zu koppeln, um die eigene Integrität zu wahren.

Es überrascht ebenso wenig, dass durch den Arbeitskontext per se eine Zugänglichkeit gegeben ist, wie die Feststellung, es handle sich um unterschiedliche Grade der Zugänglichkeit. Ein Ergebnis am Rande ist die Beobachtung, dass der Grad der Zugänglichkeit maßgeblich durch die Kultur der Zusammenarbeit, die Strukturen und Abläufe, die Art und Weise der Kommunikation des Evangeliums und auch durch die Integrität der Repräsentat:innen der christlichen Lebensform als Kolleg:in oder Chef:in bestimmt wird.

Die handlungsorientierenden Perspektiven schließen sich an die Analyse der empirischen Daten an (Kapitel 5). Es werden vier Perspektiven entfaltet. In der ersten Perspektive betont Tobias Foß die Relevanzhypothese, wonach der Arbeitskontext für die Zugänglichkeit zur christlichen Lebensform von fundamentaler Bedeutung ist („conditio sine qua non“, S. 330) und eine Kommunikation des Evangeliums nicht davon abstrahieren sollte. Ob Relevanz allerdings heißen muss, dass sich der christliche Glaube für die konfessionslosen Mitarbeiter:innen im Arbeitskontext als „lebensdienlich und arbeitsunterstützend erweist“ (S. 330), konnte anhand des Datenmaterials nicht aufgezeigt werden. Hinter dieser Behauptung steht beim Autor das Verständnis evangelischer Religionspädagogik als „Initiierung von Lernprozessen“ (S. 332), mit dem Ziel, in der christlichen Lebensform eine „befreiende Hilfe und Unterstützung im Leben und im Arbeitsalltag“ (S. 331) zu erkennen und zu erfahren. So wird in einer zweiten Perspektive die christliche Lebensform als Empowerment zur Subjektwerdung (vgl. S. 333 ff.) entfaltet, um in einer dritten Perspektive die „organisatorisch-strukturelle“ (S. 337) Dimension diakonischer Unternehmen im Hinblick auf die Kommunikation des Evangeliums zu skizzieren (vgl. S. 338 ff.). Dazu entwirft der Autor „ein fiktives diakonisches Unternehmen“ (S. 338) und trägt fünf Topoi des diakonischen Profils bzw. der christlichen Lebensform im Arbeitskontext zusammen:

Ausgehend vom Diktum der Lebenshilfe wird die (1.) christliche Seelsorge in und durch diakonische Unternehmen und Verbände sowohl in personaler Interaktion (Mikro-Ebene), professionellen Strukturen, wie z.B. Supervision (Meso-Ebene), als auch sozialpolitischer Einflussnahme (Makro-Ebene) verortet. Hinzu kommt (2.) eine „(theologische) Geschäftsführung“ (S. 343), die eine Fehlerfreundlichkeit praktiziert, im Gespräch mit Kolleg:innen „auf niedrigeren Hierarchiebenen“ (S. 344) ist und in diesen Gesprächen nicht anklagt, sondern ein „solidarisches Angebot angesichts der arbeitsalltäglichen Vulnerabilität“ (S. 344) macht. Darüber hinaus schlägt Tobias Foß vor, dass es die Aufgabe einer theologischen Geschäftsführung sei, „Netzwerke mit christlichen Gemeinden“ aufzubauen. Ein dritter Ort sind die Mitarbeiter:innen, die mit der christlichen Lebensform vertraut und sprachfähig sind. Und schließlich werden (4.) Begegnungsmöglichkeiten aufgelistet, die von einem Unternehmenschor über Gottesdienste bis zu einer Yoga-Meditation mit Bekreuzigung (vgl. S. 348) reichen. Feste als Ausdruck der Dankbarkeit (5.) runden den Reigen der Topoi diakonischer Lebensform im fiktiven diakonischen Unternehmen ab.

Die vierte und letzte handlungsorientierende Perspektive fokussiert die Bedeutung der transzendenten Dimension christlicher Lebensform. „Gott als Glaubensgegenstand“ (S. 351) soll, trotz der Distanzierung der konfessionslosen Mitarbeiter:innen von transzendenten Bezügen, in den Lernprozessen und in der Kommunikation christlicher Lebensform verankert sein.

Das sechste und letzte Kapitel ist mit Ausblick überschrieben. Der Autor schließt an seine Einleitung an und fasst nochmals wesentliche Ergebnisse der Studie zusammen.

Diskussion

Es ist immer wieder erstaunlich, wie gering die empirische Forschungslage im Hinblick auf Einstellungen, Haltungen, Motivationen und Erwartungen von Mitarbeiter:innen in diakonischen Unternehmen ist. Auch zur Frage, wie Mitarbeiter:innen die diakonische Identität und Kultur der Organisationen wahrnehmen und verstehen, liegen kaum quantitative oder qualitative Untersuchungen vor. Erst recht nicht in Bezug auf Grundhaltungen konfessionsloser Mitarbeiter:innen zum christlichen Glauben und einer entsprechenden Lebenspraxis in Organisationen. Tobias Foß fokussiert mit seiner qualitativen Studie genau diese Personengruppe und kann erstmals zeigen, dass konfessionslose Mitarbeiter:innen auf Basis einer allgemeinen Distanz für die christliche Lebensform zugänglich sind. Er entwickelt eine nachvollziehbare Systematisierung von Grundhaltungen in zwei Gruppen der Zugänglichkeit, die innerhalb der Gruppen nochmals nach Widerständigkeit und Zugang differenziert werden. Auch wenn die Deutung des Autors, insbesondere bei der Untergruppe der Widerständigkeiten, hin und wieder überpointiert ausfällt, werden zahlreiche und bedenkenswerte Erkenntnisse zutage gefördert, die es lohnen, vertieft diakoniewissenschaftlich und/oder religionspädagogisch reflektiert zu werden.

Obwohl der Titel der Studie das „diakonische Profil“ prominent aufgreift und in der Untersuchung immer wieder auf diesen Begriff rekuriert wird, verzichtet der Autor auf eine Begriffsklärung und Einordnung in den Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Weder werden organisationssoziologische Diskurse zur Identität von Organisationen noch die diakoniewissenschaftliche Organisationsforschung erwähnt (vgl. z.B. Luhmann 2006, Haas/Starnitzke 2015, Moos 2019, Dröge 2019). Infolgedessen unterscheidet Tobias Foß nicht explizit eine personengebundene und eine systemische Begründung der Organisationsidentität. Implizit wird an vielen Stellen der Studie deutlich, dass der Autor dem klassischen Verständnis folgt und die diakonische Organisationsidentität an der religiösen Motivation, Einstellung oder Zugänglichkeit der Mitarbeiter:innen und der Führungskräfte festmacht. Die Diakonizität der Organisation wird so implizit auf der Handlungsebene („Arbeitsalltag“) und in der Verknüpfung von sozialer Dienstleistung und Spiritualität verortet. Die Auseinandersetzung mit einem systemischen Verständnis von Organisationsidentität hätte die Möglichkeit eröffnet, die Deutung diakonischer Identität als interdependentem Kommunikationsgeschehen relevanter Anspruchsgruppen vor dem Hintergrund selbstreferentieller Prozesse in Betracht zu ziehen. Mit der Fokussierung konfessionsloser Mitarbeiter:innen und ihrer Perspektive auf das diakonische Profil deutet der Autor an, für einen solchen Diskurs offen zu sein.

Überhaupt verwundert es, dass auch der theologisch-diakoniewissenschaftliche Diskurs über das diakonische Profil/​Proprium nicht zur Kenntnis genommen wird (vgl. einerseits gegen ein spezifisches Profil: Haslinger 2008, Rüegger/​Sigrist 2011, Hauschildt 2000 und 2014; andererseits für ein spezifisches Profil: Turre 2004, Körtner 2010, Wettreck/​Drews-Galle 2013, Liedke 2015; oder vermittelnd: Moos 2013). Dadurch bleibt es dem:der Leser:in überlassen, die Studie einzuordnen. Für die Studie selbst hat es einerseits die Konsequenz, dass zwischen der Zugänglichkeit zur christlichen Lebensform und dem diakonischen Profil der Organisation nicht unterschieden wird. Und andererseits können die Befunde nicht auf die unterschiedlichen theoretischen Entwürfe bezogen und diskutiert werden. Dabei wäre insbesondere die Diskussion nicht-transzendenter/​zwischenmenschlicher und divers-transzendenter Zugänglichkeit von theoretischem und konzeptionellem Interesse.

Auch die handlungsorientierenden Perspektiven (Kapitel 5) hätten von einem Diskurs der empirischen Befunde mit den diakoniewissenschaftlichen Positionen profitiert. In diesem Fall wäre es argumentativ nicht einfach möglich gewesen, das diakonische Profil ausschließlich auf einer Handlungsebene zu verorten. Die Handlungsempfehlungen selbst sind von unterschiedlicher Qualität. So sind die Empfehlungen, die Tobias Foß für ein fiktives Diakonieunternehmen zusammenstellt, organisations-, diakoniewissenschaftlich und religionspädagogisch unterkomplex. Sie werden auch den empirischen Befunden nicht gerecht. Stattdessen wäre ein religionspädagogisch-didaktisches Konzept diakonischer Bildung, das die Einstellungen und Sichtweisen konfessionsloser Mitarbeiter:innen zum Ausgangs- und Zielpunkt macht, als Beitrag zur diakonischen Profilierung folgerichtig. Es stellt ein Desiderat der vorliegenden Studie dar.

Fazit

Die qualitative Studie eröffnet einen guten Einblick in Grundhaltungen konfessionsloser Mitarbeiter:innen in diakonischen Organisationen in Sachsen-Anhalt im Hinblick auf den christlichen Glauben und die Frage, was ihre Zugänglichkeit zu dieser Lebensform beeinflusst. Das diakonische Organisationsprofil, in der Perspektive der konfessionslosen Mitarbeiter:innen, spielt hingegen eine untergeordnete Rolle.

Literatur

Dröge, Markus (2019): Evangelische Identität und Pluralität. Perspektiven für die Gestaltung von Kirche und Diakonie in einer pluraler werdenden Welt, In: Diakonie Deutschland (Hrsg.), Evangelische Identität und Pluralität. Perspektiven für die Gestaltung von Kirche und Diakonie in einer pluraler werdenden Welt, Diakonie-Texte 02.2019, 4 – 9, online: https://www.diakonie.de/fileadmin/​user_upload/​Diakonie/PDFs/Diakonie-Texte_PDF/​02_2019_Identita__t_und_Pluralitaet_Druck.pdf (letzter Zugriff: 31.08.2022).

Haas, Hanns-Stephan/​Starnitzke, Dierk (Hrsg.) (2015): Diversität und Identität. Konfessionsbindung und Überzeugungspluralismus in caritativen und diakonischen Unternehmen, Reihe DIAKONIE, Band 14, Stuttgart: Kohlhammer.

Haslinger, Herbert (2008): Die Frage nach dem Proprium kirchlicher Diakonie. In: Herrmann, Volker/​Horstmann, Martin (Hrsg.), Studienbuch Diakonik, Band 2, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 160 – 174.

Hauschildt, Eberhard (2000): Wider die Identifikation von Diakonie und Kirche. Skizze vom Nutzen einer veränderten Verhältnisbestimmung. In: Pastoraltheologie, 89. Jg., H. 9, 411 – 415.

Hauschildt, Eberhard (2014): Anschlussfähigkeit und Proprium von „Diakonie“. Zwischen Fachlichkeit, Ethik und Theologie. In: Glaube und Lernen, 29. Jg., H. 1, 44 – 62.

Körtner, Ulrich H.J. (2010): Diakonie im Spannungsfeld zwischen Qualität, christlichem Selbstverständnis und Wirtschaftlichkeit. Theologisch-ethische Reflexionen. In: Wege zum Menschen, 62. Jg., H. 2, 155 – 167.

Liedke, Ulf (2015): Profil als Prozess. Grundzüge eines diakonischen Profildialogs. In: Pastoraltheologie, 104. Jg., H. 1, 3 – 21.

Luhmann, Niklas (2006): Organisation und Entscheidung, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag.

Moos, Thorsten (2013): Kirche bei Bedarf. Zum Verhältnis von Diakonie und Kirche aus theologischer Sicht. In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, 58. Jg., H. 3-4; 253 – 279.

Moos, Thorsten (2019): Identität und Pluralität – Konsequenzen für das Selbstverständnis und die Organisationsform der Diakonie. In: Diakonie Deutschland (Hrsg.), Evangelische Identität und Pluralität. Perspektiven für die Gestaltung von Kirche und Diakonie in einer pluraler werdenden Welt, Diakonie-Texte 02.2019, 10 – 17 online: https://www.diakonie.de/fileadmin/​user_upload/​Diakonie/PDFs/Diakonie-Texte_PDF/​02_2019_Identita__t_und_Pluralitaet_Druck.pdf (letzter Zugriff: 31.08.2022).

Rüegger, Heinz/​Sigrist, Christoph (2011): Diakonie – eine Einführung. Zur theologischen Begründung helfenden Handelns, Zürich: TVZ.

Turre, Reinhard (2004): Diakonie. Eine Ausprägung christlicher Religion. In: Schibilsky, Michael/Zitt, Renate (Hrsg.), Theologie und Diakonie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 458 – 464.

Wettreck, Rainer/​Drews-Galle, Veronika (2013): Diakonie als Vertrauensmarke gestalten. Zur strategischen Notwendigkeit integraler Kulturentwicklung diakonischer Unternehmen. In: Praktische Theologie, 48. Jg., H. 4, 236 – 251.

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Rezension von
Dr. Christian Geyer
Fachlicher Vorstand Bathildisheim e.V., Bad Arolsen und Lehrbeauftragter der Hochschule Fulda
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Es gibt 12 Rezensionen von Christian Geyer.

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ISSN 2190-9245