Lea Wedewardt, Anja Cantzler: Sich seiner selbst bewusst sein
Rezensiert von Alexandra Großer, 13.09.2022

Lea Wedewardt, Anja Cantzler: Sich seiner selbst bewusst sein. Biografische Selbstreflexion für pädagogische Fachkräfte.
Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2022.
176 Seiten.
ISBN 978-3-451-39290-0.
D: 15,00 EUR,
A: 15,50 EUR,
CH: 21,90 sFr.
Reihe: Supplement: ISBN: 9783451399206 .
Thema
Im Mittelpunkt des Buchs steht die biografische Selbstreflexion pädagogischer Fachkräfte in der Kinderbetreuung. Denn die biografischen Erfahrungen haben Einfluss auf die Beziehungen und Interaktionen mit den betreuten Kindern. Beleuchtet werden u.a. die Motivation der Berufswahl, die eigenen wunden Punkte, die eigene professionelle Haltung und Beziehungserfahrungen. Kernthema des Buchs ist, sich der eigenen Vergangenheit sowie deren Einfluss, die diese auf das heutige pädagogische Handeln hat, bewusster zu werden, um weitere Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Autorinnen
Lea Wedewardt ist Kindheitspädagogin (BA) und hat Praxisforschung in der Pädagogik (MA) studiert. Sie berät und coacht pädagogische Fachkräfte und Teams rund um die Themen zur bedürfnisorientierten Pädagogik. Zudem betreibt sie neben ihrem Kita-Podcast einen Blog zur bedürfnisorientierten Pädagogik.
Anja Cantzler ist Diplom-Sozialpädagogin, Coach (DGfC), Supervisorin (DGSv), Autorin und Weiterbildnerin für pädagogische Fachkräfte. Sie betreibt einen Blog und veröffentlicht regelmäßig KitaTalks auf ihrem YouTubeKanal.
Entstehungshintergrund
Lea Wedewardt und Anja Cantzler lernten sich im Sommer 2020 über Social Media kennen. Beide Autorinnen engagieren sich für eine „gewaltfreie, achtsame und bedürfnisorientierte Pädagogik“ (S. 9). Die Autorinnen sind unabhängig voneinander in der Beratung und Fortbildung tätig und kennen auch die Missstände in der Praxis. Aufgrund ihrer eigenen biografischen Selbsterfahrungen, die beide Frauen unabhängig voneinander in ihren Ausbildungen machten, Lea Wedewardt während dem Studium, Anja Cantzler während ihrer Coaching- und Supervisionsausbildung, steht für beide Frauen fest, dass eine Veränderung in der Praxis der Kinderbetreuung nur über den Weg der biografischen Selbstreflexion pädagogischer Fachkräfte geht. Neben den dringend notwendigen strukturellen Verbesserungen. Mit dem Fachbuch möchten die Autorinnen pädagogische Fachkräfte dazu ermuntern sich mit ihrer Lebensgeschichte und den „eigenen Denk- und Verhaltensmustern“ (S. 10) auseinanderzusetzen, damit sie ihr eigenes „Fühlen, Denken und Handeln“ (ebd.) besser verstehen.
Aufbau
Neben Vorwort und Einleitung umfasst das Buch insgesamt elf Kapitel mit Unterkapiteln. Jedes Hauptkapitel wird mit einem Zitat eingeleitet. Insgesamt ist das Buch übersichtlich und gut strukturiert aufgebaut. Grafiken und unterschiedlich farblich abgesetzte Kästen beinhalten Begriffsklärungen, Praxisbeispiele sowie Impulse zur Selbstreflexion. Am Ende einiger Kapitel finden sich Hinweise zu thematisch passenden Blogartikel, Podcasts und KitaTalks der Autorinnen. Einige Kapitel enthalten zudem Verweise zu weiteren Reflexionsübungen des gleichnamigen Workbooks.
Inhalt
Die Autorinnen begründen im ersten Kapitel die „Relevanz biografischer Selbstreflexion für die pädagogische Arbeit“. Anhand des Eisbergmodells erklären sie, wie die eigene Biografie das professionelle Handeln im Alltag beeinflusst. Sich selbst gut zu kennen, als auch die Beschäftigung mit der eigenen Biografie, ist für die Autorinnen „eine wesentliche Grundvoraussetzung für das professionelle Handeln“ (S. 16) pädagogischer Fachkräfte. Eindrücklich zeigen sie in diesem Kapitel auf, dass der Einfluss pädagogischer Fachkräfte als „Vorbild und Handlungsmodell“ (S. 18) auf die Kinder nicht zu unterschätzen ist. Gleichzeitig werben sie für eine wohlwollende Fehlerkultur gegenüber sich selbst im eigenen Reflexions- und Veränderungsprozess. Mit einer Geschichte über Veränderung endet das erste Kapitel.
Im zweiten Kapitel „Die Haltung als Ausdruck pädagogischer Professionalität“ setzen sich die Autorinnen mit verschiedenen Ebenen der professionellen Haltung und deren Aspekte auseinander. Jede pädagogische Fachkraft muss zwei Haltungsebenen miteinander verbinden, „zum einen die Haltung, die die Fachkraft aufgrund der eigenen Erlebnisse und Erfahrungen verinnerlicht und als Routine übernommen hat, und zum anderen die Haltung, die sie aufgrund von theoretischem Wissen kritisch reflektiert hat (vgl. Stricker u.a. 2020)“ (S. 31).
Weitere Punkte mit denen sich jede Fachkraft in der Selbstreflexion auseinandersetzen sollte, sind die eigene Einstellung zur außerfamiliären Kinderbetreuung, die Motivation der Berufswahl und die eigenen Normen und Werte sowie die professionelle Rolle. All diese Faktoren beeinflussen die professionelle Haltung. Wedewardt und Cantzler laden dazu ein, sich mit diesen Faktoren zu beschäftigen, um Klarheit über das eigene professionelle handeln zu gewinnen.
Das dritte Kapitel „Das menschliche Gehirn und die drei Ebenen der Reflexion“ widmet sich den automatisierten Reaktionsmustern unseres Verhaltens. Aufgrund von frühen Erfahrungen, Erlebnissen, den damit verbunden Gefühlen als auch den eigenen Wertungen, entwickeln wir Handlungsstrategien und bestimmte Reaktionen, die wir im Alltag mit den Kindern zeigen. Um zu verstehen, warum wir in manchen Situationen bestimmte Verhaltensweisen zeigen, lohnt es sich die Zuständigkeiten der verschiedenen Hirnareale zu betrachten. Anhand eines Praxisbeispiels reflektieren sie anschaulich das Zusammenspiel der verschiedenen Hirnebenen mit den Reflexionsebenen. In den weiteren Kapiteln bauen sie diese Verknüpfungen weiter aus.
Die Autorinnen nehmen im vierten Kapitel „Wunde Punkte verstehen“, verschiedene Traumaformen und Triggerelemente in den Blick. Jede*r von uns hat sogenannte wunde Punkte, traumatische Erlebnisse, schmerzhafte Anteile, die nicht verarbeitet wurden, die im Unterbewusstsein gespeichert sind sowie Trigger, die in unserem Innern Unerwartetes auslösen. In der Interaktion mit Kindern, können diese unreflektierten und unverarbeiteten Erlebnisse, an die Oberfläche treten und die Beziehungen zu den Kindern beeinflussen. Unbewältigte Erinnerungen können in der Interaktion mit Kindern zu grenzüberschreitenden Verhalten führen. Triggermomenten, die heftige Reaktionen im Körper auslösen, gilt es genauer zu betrachten. Woher stammen diese? Welche frühen Erfahrungen sind damit verbunden? Neben Impulsen, einer Liste mit Triggerelementen und Körpersignalen sowie verschiedenen Praxisbeispielen, geben die Autorinnen Tipps zum Umgang mit Triggern.
In Kapitel fünf „Beziehungserfahrungen reflektieren“ werden die eigenen Beziehungserfahrungen und Bindungsmuster betrachtet. Zuvor jedoch erläutern die Autorinnen, wie Beziehungen und Bindungen entstehen. Denn die Beziehungserfahrungen, die wir in unserem familiären Umfeld machten und machen, beeinflussen unsere Beziehungsgestaltungen zu Kolleg*innen, Eltern und Kindern im pädagogischen Alltag. In diesem Zusammenhang betonen sie die Wichtigkeit der Reflexionsbereitschaft eigener Bindungserfahrungen und Beziehungsmuster, denn die inneren Arbeitsmodelle sind veränderbar und dienen als wertvoller Erfahrungsschatz. Ein weiterer Aspekt ihrer Überlegungen zu den Bindungserfahrungen stellt die Bindungs-Autonomie-Wippe dar. Die Waage kann in Balance zwischen Bindungsfokussiert und Autonomiefokussiert stehen oder auf einer Seite. Hier sollte dann durch Reflexion gegengesteuert werden.
Das sechste Kapitel „Erfahrungen mit Autonomie und Abgrenzung reflektieren“ schließt thematisch direkt an das fünfte Kapitel an. Neben den Bindungserfahrungen hat die eigene Autonomieentwicklungsphase erheblichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und damit auf das professionelle Handeln im pädagogischen Alltag. Zunächst zeigen die Autorinnen auf, welche Folgen eine „nicht vollendete Autonomieentwicklung“ (S. 90) in der Kindheit der pädagogischen Fachkraft auf die heutigen Beziehungen haben kann, und welche Auswirkungen es hat, wenn eigene Grenzen nicht gewahrt und überschritten werden.
Im siebten Kapitel „Strategien beobachten“ widmen sich die Autorinnen den verschiedenen Strategien mit denen wir uns schützen, problematische Beziehungen bewältigen, Beziehungen gestalten sowie der Wirkung von Abwehrmechanismen auf unsere Beziehungsgestaltung. Manche Strategien wirken sich ungünstig auf die Beziehungen zu Kindern, Eltern und Kolleg*innen aus. Insbesondere wenn eigene Beziehungserfahrungen aus der Kindheit reinszeniert werden. Oder eigene Bedürfnisse durch “Überkompensation eigener erlebter Defizite“ (S. 107) in der Kindheit in den Beziehungen zu den Kindern erfüllt werden.
Mit dem achten Kapitel „Das innere Kind und seine Glaubenssätze entdecken“ liegt der Fokus auf den „neurobiologisch gespeicherten Gefühlen, Erinnerungen und Erfahrungen aus der Kindheit“ (S. 110). Das innere Kind steht für „ein klar definierbares Sinnbild für die gemachten Erfahrungen in der Kindheit und die Problemlösestrategien, die sich als Nervenverbindungen im Gehirn abgespeichert habe“ (ebd.). Bereits Janusz Korzcak, so die Autorinnen, hat darauf aufmerksam gemacht, dass pädagogische Fachkräfte im Alltag mit Kindern mit ihrem eigenen inneren Kind in Berührung kommen. Negative wie positive Erfahrungen, die aus unserer Kindheit stammen, beeinflussen nicht nur die Interaktionen mit den Kindern, sondern auch unser Menschenbild, welches wiederum Einfluss auf unser Zusammenleben mit den Kindern nimmt und uns glauben macht zu wissen, „was Kinder wirklich brauchen“ (S. 117). Neben dem inneren Kind beschäftigt sich das Kapitel auch mit dem Thema Glaubenssätze, die ebenfalls aus unserer Kindheit stammen und unser Erwachsenenleben negativ wie positiv beeinflussen. Mit unseren eigenen Glaubenssätzen im Gepäck, prägen wir die Glaubenssätze der Kinder, in dem wir ihnen unsere Überzeugungen und Sicht auf die Welt weitergeben. Glaubenssätze haben Einfluss auf unser Selbstbild, unseren Selbstwert und unsere Selbstwirksamkeit. Geben wir unsere Glaubenssätze unreflektiert an die Kinder weiter, beeinflussen wir damit ihr Selbstbild, ihren Selbstwert und ihre Selbstwirksamkeit. Die Autorinnen plädieren dafür sich der eigenen Glaubenssätze bewusst zu werden, zu reflektieren und negative in positive Glaubenssätze zu verändern.
Das neunte Kapitel „Gefühle spüren und annehmen“ zeigt auf, wie wichtig es ist „mit den eigenen Gefühlen verbunden zu sein“ (S. 135). Im pädagogischen Alltag werden pädagogische Fachkräfte immer wieder mit Gefühlen konfrontiert. Den eigenen und denen von Kindern und Eltern. Oftmals sind uns diese Gefühle unangenehm, und wir werten diese ab. Damit senden wir die Botschaft, dass Gefühle nicht in Ordnung sind. Werden Gefühle jedoch verdrängt und nicht verarbeitet, speichert unser Körper dies als „ungelöste Energie“ (S. 137). Es geht also nicht nur darum, die eigenen Gefühle zu spüren, anzunehmen und deren Bedürfnisse dahinter zu erkennen, sondern auch die Emotionen der Kinder ernst zu nehmen. Sie in ihren Emotionen zu begleiten, statt zu versuchen sie davon abzulenken. Denn nur wenn pädagogische Fachkräfte bereit sind, über Gefühle zu sprechen und Kinder durch ihre Emotionen zu begleiten, können Kinder lernen ihre Gefühle zu verarbeiten und zu regulieren.
Im zehnten Kapitel „Inneren und äußeren Stress reflektieren und bewältigen“ erläutern die Autorinnen, dass jede pädagogische Fachkraft ein individuelles Stressempfinden sowie Umgangsweisen mit Stress hat. Daher reagieren pädagogische Fachkräfte unterschiedlich auf belastende Situationen in der Kita. Unser persönliches Stressempfinden als auch unsere Stressreaktionen speisen sich auch aus unserer Biografie. Daher gilt es die persönlichen Stressauslöser zu identifizieren, und neben neuen Regulationsmöglichkeiten weitere Lösungsmöglichkeiten im Umgang mit Stressoren zu finden.
„Sich selbst annehmen, um Kinder annehmen zu können“ so der Titel des elften und letzten Kapitels. Die Autorinnen setzen sich dafür ein, mit sich selbst einfühlsam und emphatisch zu sein. Sich dem inneren Kind liebevoll zuzuwenden und sich selbst mit Wertschätzung und Wohlwollen zu begegnen. Gleichzeitig ermutigen sie dazu, „sich immer wieder von hinderlichen und schmerzenden Glaubenssätzen“ (S. 161) zu verabschieden und diese durch „stärkende Sätze“ (ebd.) zu ersetzen. Denn nur wer mit sich selbst liebevoll umgeht, sich mit all seinen Stärken, Schwächen und Verletzungen annehmen kann, kann auch anderen „achtsam und liebevoll begegnen“ (ebd.).
Diskussion
Aus dem Buch geht deutlich hervor, dass den Autorinnen das Thema biografische Selbstreflexion von pädagogischen Fachkräften sehr wichtig ist. In ihren Texten setzen sie daher immer wieder Impulse zur Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung, was auch der psychoanalytische Schwerpunktsetzung, die diesem Buch ebenfalls zugrunde liegt, geschuldet ist. Die Autorinnen schaffen es Hintergrundinformationen leicht und verständlich zu erläutern und den Zusammenhang sowie die Wichtigkeit zur eigenen Selbstreflexion herzustellen. Lediglich Kapitel drei finde ich irritierend. Hier hätte ich mir ausführlichere Hintergrundinformationen zwischen dem Zusammenhang des Gehirns und den drei Ebenen der Reflexion gewünscht. Da dieses Kapitel eine Brücke zu den folgenden Kapiteln darstellt und aufzeigt welche Areale des Gehirns mit den einzelnen Reflexionsbereichen verbunden sind. Besonders hervorzuheben ist der wohlwollende und ressourcenorientierte Blick der Autorinnen, der dieses Buch ausmacht. Ihr Ziel ist die Selbstbeobachtung im pädagogischen Alltag und sich mit „Lust und Freude“ (S. 14) der eigenen biografischen Reflexion zu widmen. Dieses Ziel erreichen sie durch die vielen Impulse zur Reflexion und den Praxisbeispielen, die in den einzelnen Kapiteln durch bunte Kästen hervorgehoben werden. Den Autorinnen ist es gelungen ein Fachbuch mit theoretischem Input und Selbstreflexionsimpulsen zu schreiben, welches auf leichte spielerische Weise Reflexionsprozesse anstößt und damit schon zu Veränderungen führt.
Fazit
Das Buch ist klar und verständlich geschrieben. Mit seinen Reflexionsübungen und Hintergrundinformationen zeigt es auf, warum die biografische Selbstreflexion für ein professionelles Handeln in der Kindertagesbetreuung von zentraler Bedeutung ist. Mit dem Buch sprechen die Autorinnen hauptsächlich pädagogische Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung an. Empfehlenswert ist die Lektüre auch für Dozent*innen und Lehrende, die mit angehenden pädagogischen Fachkräften arbeiten sowie Kindertagespflegepersonen.
Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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