Kolja Tobias Heckes: Professionsgenese im Netzwerk
Rezensiert von Dr. Bettina Suthues, 20.05.2022
Kolja Tobias Heckes: Professionsgenese im Netzwerk. Das Hervorgehen sozialer Arbeit aus der Palliative Care-Kooperation als Sozialisationsprozess. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 422 Seiten. ISBN 978-3-7799-6817-7. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR.
Thema
Kolja Tobias Heckes analysiert die Professionsgenese Sozialer Arbeit in der Palliative Care-Kooperation. Dazu blickt er auf das Netzwerk derjenigen, die die organisierte Versorgung von Menschen im Sterben gestalten: das Palliativnetz. Da er weder das Netzwerk noch die Soziale Arbeit vorab nominell bestimmen will, stellt er den gemeinsamen Konstruktionsprozess der Akteure in den Mittelpunkt – verstanden als durch das Netzwerk bestimmter Möglichkeitsraum. Damit begibt er sich in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, in dem sich die Akteure wechselseitig hervorbringen.
Der Autor fragt, wie die Steuerungslogiken der Organisationen und die Eigensinnigkeit des Sozialen zusammenpassen: die verschiedenen Professionen wie Ärzt/innen, Pfegedienste, Sozialberatung oder das Netzwerkmanagement mit ihren Steuerungsansprüchen auf der einen Seite und die Patient/​innen, die sich letztlich von keiner Steuerungslogik beherrschen lassen, auf der anderen Seite.
Autor
Dr. Kolja Tobias Heckes ist Sozialarbeiter, M.A. und hat unterschiedliche Netzwerke gemanagt: Zuerst ein Netzwerk der Gesundheitswirtschaft, dann ein Quartiersnetzwerk und aktuell ein Gesundheitsnetzwerk im westlichen Münsterland (reges:BOR). Außerdem erforscht er Netzwerke und teilt sein Wissen in Lehraufträgen an der Kath. Hochschule NRW.
Aufbau und Inhalt
Der Autor unterteilt seine Arbeit in fünf Teile, davon drei Hauptteile.
In der Exposition zeigt er u.a. seinen spezifischen Blick auf den Gegenstand und begründet seinen Zugang über die Grounded Theory, die es ihm erlaubt, die Wechselseitigkeit der Akteure in den Blick zu nehmen.
Der erste Hauptteil dient der theoretisch-heuristischen Modellierung des Forschungsfeldes. Dabei wählt der Autor neben Theorien der Sozialen Arbeit (Bohnsack, Kleve, Bardmann, Kruse) vor allem Sozialisationstheorien, neoinstitutionalistische und intersektionale Ansätze und entfaltet daraus einen theoretischen Bezugsrahmen.
Im zweiten Hauptteil entwickelt er auf dieser Grundlage ein methodologisches Modell, das es ermöglicht, die Akteure so zu erforschen, dass sie nicht vorausgesetzt werden, sondern sich gegenseitig konstituieren. Zentral hierfür ist die Situationsanalyse von Adele Clarke, nach der „alles mit allem zusammenhängt“ (Heckes, S. 19): Die Akteure sozialisieren sich untereinander, das Netzwerk sozialisiert die Akteure. Um das empirisch zu erhellen, wird nicht nur die Soziale Arbeit, sondern es werden alle Berufsgruppen in einem ausgewählten Netzwerk untersucht.
Der dritte Hauptteil gibt empirische Einblicke. Der Autor nutzt das Konzept von Boundary Objects (Heckes, S. 220) um zu zeigen, wie die verschiedenen Berufsgruppen zu einer gemeinsamen Arbeitsbasis finden, ohne ihr jeweiliges spezifisches Profil dafür aufgeben zu müssen
„Vor dem Hintergrund meines Erkenntnisinteresses daran, welche […] Kräfte die Konstituierung und Spezifizierung von so etwas wie Profession/​Beruf (Hervorhebung im Original) überhaupt erst nach sich ziehen, lese ich Boundary Objects als ‚Spiegel‘ der direkten als auch indirekten Abhängigkeiten entlang der situativen Figurationsketten sowie der situationalen Einflussgrößen, anstatt selbige (Boundary Objects) auf ihre temporäre Funktion der Regulierung zwischen Motivationen, Kompetenzen, Zwecken etc. zu reduzieren.“ (Heckes, S. 220)
So verstanden werden u.a. Autonomie, Zeit, Qualität, Multiprofessionalität, die Berufe und die Soziale Arbeit selbst als Boundary Objects identifiziert.
Diskussion
Soziale Arbeit als Möglichkeitsraum zu erheben, der sich erst vor dem Hintergrund eines Netzwerks erklärt, ist innovativ. Die theoretischen Zugänge und das empirische Design sind konsequent gewählt. Das „Sozialarbeiterische“ (Heckes, S. 342) steht nicht von vornherein fest, sondern wird in seinen Netzwerkbeziehungen erst bestimmt. Dadurch, dass alle relevanten Berufe zu Wort kommen, werden die verschiedenen Akteursgruppen im Wechselspiel erzeugt: Das Netzwerk macht die Akteure.
Professionstheoretisch ist vor allem der letzte Teil interessant, da der Autor hier seine Überlegungen für die (Netzwerk-)Praxis und die (Professions-)Erforschung Sozialer Arbeit darstellt.
Das Buch ist theoretisch und methodologisch sehr verdichtet. Man erfährt viel über Soziale Arbeit im Hinblick auf Sterben und Tod sowie das professionelle Netzwerk. Es ist kein anwendungsbezogenes Werk, wer es liest und in dem Feld beruflich aktiv ist, wird aber sich und seine Kolleg/​innen dort sicher wiedererkennen. Der grundlagentheoretische Erkenntnisgewinn liegt insbesondere im Bereich der Sozialisationsforschung, die Kolja Tobias Heckes durch sein durchdachtes Vorgehen und die offene Herangehensweise weiterentwickelt.
Fazit
Kolja Tobias Heckes beschäftigt sich mit Sozialisationsprozessen in vernetzten Institutionen- und Betriebswelten im Feld der Palliative Care-Kooperation. Um sein Forschungsfeld zu beschreiben, entwickelt er eigens einen theoretischen und methodologischen Bezugsrahmen, der ihm hilft, in tiefe Analyseebenen vorzudringen. Dadurch werden qualitative Einblicke in das Palliativnetz und das Zusammenwirken der Akteure in einer gemeinsamen Praxis möglich. Es wird deutlich, wie sich Handlungslogiken formieren, die u.a. auch das bestimmten, was in dem Netzwerk als Soziale Arbeit verstanden wird. Die Arbeit zeigt damit, wie das Netzwerk seine Akteure hervorbringt – ein theoretisch und methodologisch sehr interessantes Unterfangen.
Der Autor hat damit ein Werk gestaltet, das die vielen Themen und Motive im Palliativnetz miteinander in Beziehung setzt, sie untereinander spielen lässt und damit zum Klingen bringt. Vorder- und hintergründige Ebenen sind immer gleichzeitig vorhanden, doch unterschiedlich stark moduliert. Daraus ergibt sich eine vieldimensionale Publikation, die aber auch in kleinen Ausschnitten lesenswert ist, weil das eine immer auf das andere verweist und „alles mit allem zusammenhängt“.
Rezension von
Dr. Bettina Suthues
Erziehungswissenschaftlerin, Netzwerkmanagerin, Projektentwicklerin;
Geschäftsführerin DJK Sportverband Diözesanverband Münster
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Zitiervorschlag
Bettina Suthues. Rezension vom 20.05.2022 zu:
Kolja Tobias Heckes: Professionsgenese im Netzwerk. Das Hervorgehen sozialer Arbeit aus der Palliative Care-Kooperation als Sozialisationsprozess. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-6817-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29431.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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