Jost Schieren (Hrsg.): Die philosophischen Quellen der Anthroposophie
Rezensiert von Dr. Thomas Damberger, 24.08.2022

Jost Schieren (Hrsg.): Die philosophischen Quellen der Anthroposophie. Eine Vorlesungsreihe an der Alanus-Hochschule.
Info3 Verlagsgesellschaft
(Frankfurt/Main) 2022.
344 Seiten.
ISBN 978-3-95779-157-3.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR.
Kontext-Schriftenreihe für Spiritualität, Wissenschaft und Kritik - 17.
Thema der Publikation
Der vorliegende Band befasst sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den philosophischen Wurzeln, aus denen die Anthroposophie erwachsen und zu dem werden konnte, als was sie uns gegenwärtig erscheint.
Herausgeber
Jost Schieren, Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik, tätig an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn, ist Herausgeber des Sammelbandes. Der Band beinhaltet insgesamt elf Beiträge von zehn Autoren, die an deutschen und internationalen Hochschulen als Professoren und Dozenten tägig sind.
Entstehungshintergrund
Im Wintersemester 2017 fand an der Alanus Hochschule eine Ringvorlesung statt, deren Thema die philosophischen Grundlagen der Anthroposophie Rudolf Steiners waren. Der Sammelband umfasst die Beiträge der Vorlesung in ausgearbeiteter und vertiefender Form.
Aufbau und Inhalt
Die philosophischen Quellen der Anthroposophie in 344 Seiten aufzuzeigen, kann notwendigerweise nur dadurch gelingen, dass einzelne Wurzelstränge beleuchtet werden. Dies ist im vorliegenden Band geschehen, wobei inhaltlich u.a. Aristoteles, Platon, Albertus Magnus, Fichte, Hegel, Nietzsche, Stirner, Husserl und Witzenmann und forschungsmethodisch die Phänomenologie und Hermeneutik Berücksichtigung fanden. Von den im Ganzen elf Beträgen werden im Folgenden exemplarisch einige wenige angeführt und in ihren wesentlichen Überlegungen skizziert.
Wolf-Ulrich Klünker befasst sich in seinem Beitrag „Erkenntnis im Morgen- und Abendlicht“ mit der Psychologie und Kosmologie im 13. Jahrhundert. Insbesondere in Anlehnung an Thomas von Aquin und dessen Aristoteles-Rezeption wird der denkende Intellekt als Individuationsprinzip der Seele charakterisiert. Damit wird der Intellekt zur eigentlichen Lebenskraft, die Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Lebensprozesse bestimmt und der somit ein (in-)formierendes Moment zukommt. Für die moderne, naturwissenschaftlich-orientierte Psychologie ist eine solche Auffassung freilich eine Zumutung, kehrt sie doch die gegenwärtige Vorstellung von Ursache und Wirkung (im Sinne von: Biologie bewirkt psychische Vorgänge) um.
Während sich nun im Kontext der arabischen philosophisch-psychologischen Überlegungen die Individualität in der Leibesorganisation erschöpft und nach dem Tode auflöst, bleiben, so Klünker, bei Thomas von Aquin die individuellen Formkräfte der Seele auch im Nachtodlichen erhalten. Mehr noch: Die Individualität schwingt sich (zu Lebzeiten) zu einer Ich-Individualität auf, indem sie sich in der Verbindung mit Welt selbst erfährt – ein Gedanke, den Thomas von Aquin unter Bezugnahme auf Themistios herausarbeitet und der, freilich in neuem Gewand, in Humboldts Theorie der Bildung des Menschen (1793) wieder auftaucht.
Mit Verweis auf Albertus Magnus betont Klünker die geistigen Kräfte als formgebend für die Natur, wobei dem Menschen als Intellekt-Wirklichkeit, die als wirkende, empfindende, lebende Formkraft Geist und Materie verbindet, die Möglichkeit (und wohl auch die Aufgabe) zukommt, das Geistige in der Materie zu erkennen und aus ihr herauszulösen. Kosmologisch betrachtet ist damit der Mensch aufgefordert, das Entwicklungspotenzial der Welt zu erkennen und auszubilden.
Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit rückt Jost Schieren in den Fokus seiner Überlegungen. In „Intellektuelle Anschauung und anschauende Urteilskraft“ arbeitet er die Parallelen in den Grundüberlegungen zur Epistemologie bei Kant und Goethe heraus, um daran anknüpfend jene Einflüsse aufzuzeigen, die sich für Steiners phänomenologischen Ansatz als konstitutiv erweisen. Ausgangspunkt ist Kants Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, die er – ähnlich wie Goethe – verneinen muss, da der Mensch keinen unmittelbaren Zugang zur geistig-ideellen Sphäre haben kann. Alles, was er sinnlich zu vernehmen vermag, wird durch die Verstandestätigkeit geordnet. Synthetische Urteile sind daher immer nur im Nachhinein möglich. Während Kant diese grundsätzliche Erkenntnisgrenze akzeptiert und für sinnvoll erachtet, arbeitet Schieren mit Blick auf Goethes Faust die Sehnsucht heraus, die Grenzen der verstandesmäßigen kategorialen Rahmungen unserer Erkenntnisfähigkeit (Zeit, Raum und Kausalität) durch einen doch noch irgendwie gearteten unmittelbaren Zugang zu den Dingen selbst zu ermöglichen – ohne dabei in metaphysische Welt(v)erklärungen zurückzufallen.
Einen bemerkenswerten Ansatz sieht er in Goethes Plädoyer für einen spezifischen phänomenologischen Weltzugang, der darauf abzielt, innerhalb der sinnlichen Anschauung das Schaffen und Wirken der Natur, d.h. das Geistig-Qualitative intuitiv und in diesem Sinne unmittelbar wahrnehmen zu können. Dass ein solches Erkennen geschult werden muss (aber eben auch geschult werden kann), ist ein wichtiger Aspekt, der sich, so Schieren, in Steiners erkenntnistheoretischen Überlegungen wiederfindet. Während Goethe indessen die Kraft des Denkens als überschätzt zu interpretieren wagte, sieht Steiner das menschliche Denkvermögen als wesentliches und unverzichtbares Charakteristikum, das jeglicher Erkenntnis zugrunde liegt. Denken sei, so Schieren in Anlehnung an Steiner, sowohl Bild individueller geistiger Entwicklung als auch Ausdruck der Kraft einer ontologischen Ideensphäre. Erkenntnis als denkende Beobachtung nicht nur des sinnlich Wahrnehmbaren, sondern des Denkens als solches ziele letztlich darauf ab, die Überwindung zwischen dem vorstellenden Bewusstsein einerseits und dem Bewusstseinsgegenstand andererseits zu ermöglichen.
Hartmut Traub arbeitet in „Erfahrungsorientierte Seelenkunde“ philosophische, theologische und psychologische Wurzeln der Anthroposophie heraus. Traub beginnt seine Überlegungen mit der Krisenhaftigkeit der Moderne, die mit dem von Nietzsche festgestellten Tod Gottes mit einem philosophischen Hammerschlag auf den Punkt gebracht wurde. Mit der Amputation der Metaphysik und der Abschaffung des Jenseits und aller damit verbundenen Hoffnungen, Erwartungen, Wünsche aber auch Ängste hat sich ein wissenschaftliches Weltbild etabliert, das auf existentielle (Sinn-)Fragen keine Antworten zu geben in der Lage ist. Der Ansatz Rudolf Steiners greift die Problematik, die mit einem solchen wissenschaftlichen Reduktionismus einhergeht, auf. Traub arbeitet heraus, dass dieses Aufgreifen u.a. im Rückgriff auf die aristotelische Seelenkunde, auf Spinozas Monismus und auf Fichtes Ich-Konzeption stattfindet. Die Anthroposophie als erkenntnistheoretischer und -praktischer Schulungsweg meint eine erlebnisorientierte Erschließung der übersinnlichen geistigen Welt unter Berücksichtigung theologischer und philosophischer Forschungsansätze. Traub apostrophiert in Anlehnung an Eric L. Santner eine Psycho-Theologie, deren Charakteristikum die Wesensähnlichkeit des menschlichen Geistes mit dem göttlichen Geist ist. Demzufolge sei eine Erkenntnis höherer Welten möglich und universale Ideen dem menschlichen Geist zugänglich. Unter Bezugnahme auf den aristotelischen Gedanken, dass die Seele ein universales Prinzip des Lebens sei, schickt sich die Anthroposophie Steiners an, den Descartes'schen Dualismus zu überwinden, indem Geistiges ebenso wie Materielles eine Substanzialität zugesprochen wird. Steiner, der den Ich-Gedanken bei Fichte mit in den Blick nimmt, bemüht sich, so Traub, im Kern zum einen um die Überwindung des Gegensatzes von subjektiv-empirischen Erfahrungen und objektiv-beschreibenden Betrachtungen. Zum anderen geht es ihm um die Einheit des schöpferischen Ich-Gedankens als Abbild göttlichen Wirkens und zuletzt – und in der praktischen Konsequenz – um eine experimentelle Erschließung des Seelischen, die von der Beschreibung hin zum Erleben des Göttlichen reicht. Steiners Anthroposophie erweist sich somit als der Versuch, unter Berücksichtigung der geisteswissenschaftlichen Tradition, dem post-nietzscheanischen differenzierten und doch beschränkten Wissenschaftsverständnis zumindest den Weg zur Sinnhaftigkeit und Sinnerfahrung zu weisen.
Der Frage, welche Relevanz Hegel für Steiners „Philosophie der Freiheit“ hat, widmet sich Leonhard Weiss in „Der,Sprung‘ des Denkens“. Für Hegel befinde sich in der Religion das Potenzial, das Sinnliche gedanklich zu transzendieren. Diese Transzendenz sei nichts Geringeres, als das Wagnis, den „Sprung“ des Denkens vom Endlichen zum Unendlichen zu initiieren. Eine besondere Rolle gehe dabei mit dem Sündenfall einher, denn mit ihm erscheine die Subjekt-Objekt-Trennung als notwendige Bedingung für Wissen und Erkenntnis. Eine besondere Nähe zwischen Hegel und Steiner bemerkt Weiss im geistigen Streben als Versuch, die Trennung von Ich und Welt zu überwinden, wobei für beide Denker Religion, Kunst und Wissenschaft als Sphären des absoluten Geistes eine besondere Rolle zukommt. Im Denken, so unterstreicht Weiss in seiner Hegel-Analyse, erscheint der Mensch als Mitschöpfer des Seins, womit eine bemerkenswerte Parallele zu Steiners „Wahrheit und Wissenschaft“ aufscheint, ist doch für Steiner das Ordnen, Systematisieren und In-Zusammenhang-bringen des wahrgenommenen Mannigfaltigen eine konstitutive, mit dem Denken untrennbar verwobene Aufgabe. Damit tritt jedoch zugleich mit und durch die denkende Vernunft ein Allgemeines zutage, das als Transzendenz der Endlichkeit und Vergänglichkeit des Gegenständlichen verstanden werden darf. Was hier zum Ausdruck kommt ist, so Weiss, der hegelianische Gedanke des sich entäußernden Geistes, der den Dingen wesenhaft ist und im Erkennen in einer gleichsam dialektischen Figur aufgehoben werden will. Dieses Aufheben kann (nur) durch den Menschen gelingen. Neben dem Moment der Erkenntnis thematisiert Weiss den Aspekt der sittlichen Idee. Das gemeinhin positiv konnotierte Handeln aus Gewissensgründen wird im vorliegenden Beitrag aus Hegels und Steiners Sicht gleichermaßen problematisiert. Für Steiner bedeute ein solches Handeln Selbstbezug bei zugleich fehlendem Weltbezug; für Hegel geht mit der Gewissenshandlung die Gefahr der Willkür einher. Der allein seinem Gewissen sich verpflichtende Mensch neige, so Weiss mit Blick auf Steiner, dazu, den Dingen in der Welt seine eigenen sittlichen Etikette umzuhängen. Abhilfe schaffen könnte ein Handeln aus Intuition heraus, d.h. aus einer individuellen Einsicht in die Idee einer Handlung.
Weiss' Gedanken führen hin zu einem pointierten Kreislauf, der in Steiners Überlegungen zu Hegels Ausführungen sichtbaren Ausdruck gewinnt. Demnach begehe die Seele einen Kreislauf, indem mit der Trennung von der Welt zunächst eine Gedankensuche eröffnet werde, die aber das Getrenntsein selbst nicht überwinden kann, solange der Gedanke nur als Gedanke erkannt werde. Erst wenn der Gedanke selbst als Urquell der Welt gesehen wird, kann eine Wiedervereinigung im Sinne eine Überwindung der Trennung von Ich und Welt gelingen. Mit der Trennung (der Wunde) und ihrer Überwindung (der Heilung) gehe, so Weiss, die Möglichkeit der Freiheit einher.
Rudolf Steiners „Auseinandersetzung mit Max Stirner und Friedrich Nietzsche“ ist der Titel des Beitrages von David Marc Hoffmann. Zwar zitiert Hoffmann in seinen Ausführungen weder Stirner noch Nietzsche, erweist sich aber nichtsdestotrotz als profunder Kenner und kluger Analytiker beider Autoren, insbesondere mit Blick auf deren Einfluss auf den jungen Rudolf Steiner. Dass Nietzsches Werk – aus Steiners Perspektive – unvollständig sei, unterstreicht Hoffmann mit Blick auf Steiners Überlegungen zur moralischen Phantasie, die als notwendiges Movens eines jeglichen freien Handelns aufscheinen muss. Stirners Überlegungen kommen bei Nietzsche, wie Hoffmann anmerkt, nicht explizit zur Geltung, werden aber dennoch für den ausmerksamen Leser und Kenner beider Autoren sichtbar. So war es, nach Auffassung des Autors, die tiefgehende Auseinandersetzung mit Nietzsches radikalen Kritiken und Steiners ebenso radikalem Individualismus, die es Steiner ermöglicht hat, eine eigene Philosophie und eine damit eng verwobene Anthroposophie mit all ihren lebenspraktischen Implikationen zu etablieren zu können.
Diskussion
Der Sammelband ist insbesondere – aber nicht ausschließlich – für jene Leser empfehlenswert, die von außen einen Blick auf die Anthroposophie wagen und zugleich ein grundsätzliches philosophisches Interesse mit sich bringen. Die Beiträge thematisieren vor allem erkenntnistheoretische Fragestellungen, die hinüberreichen in Themenfelder, welche die Moralität und das sittliche Handeln betreffen. Für den anthroposophisch versierten Leser werden unterschiedliche Suchbewegungen Steiners erkennbar und teils ausgesprochen detailliert und pointiert nachgezeichnet. Die „Philosophie der Freiheit“ und „Wahrheit und Wissenschaft“ lesen sich nach der Lektüre der einzelnen Beiträge anders und eröffnen ein neues, ggf. tieferes Verständnis.
Fazit
Sprachlich teils herausfordernd, im Ganzen aber gut lesbar, sind „Die philosophischen Quellen der Anthroposophie“ für interessierte Laien, Studenten der Philosophie und Waldorfpädagogik in den höheren Semestern und Hochschuldozenten empfehlenswert.
Rezension von
Dr. Thomas Damberger
Professur für Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung an der Freien Hochschule Stuttgart
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