Fabian Reicher, Anja Melzer: Die Wütenden
Rezensiert von Stefan Kühne, 20.10.2022

Fabian Reicher, Anja Melzer: Die Wütenden. Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen. Westend Verlag GmbH (Neu-Isenburg) 2022. 237 Seiten. ISBN 978-3-86489-363-6. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Das Buch ist der Erfahrungsbericht eines Streetworkers, der anhand von fünf Biografien Jugendlicher der Frage nachgeht, warum sich Jugendliche radikalisieren und wie ein Ausstieg aus diesen Jugendsubkulturen gelingen kann.
AutorInnen
Fabian Reicher ist Sozialarbeiter und Mitarbeiter der Beratungsstelle Extremismus in Wien, sowie Mitbegründer mehrerer Online-Streetwork-Projekte. Anja Melzer arbeitet als Journalistin für österreichische und deutsche Medien.
Entstehungshintergrund
Am Abend des 2. November 2020 wird Wien durch einen dschihadistischen Terroranschlag erschüttert. Dieses Ereignis ist der Auslöser für Fabian Reicher, dieses Buch zu schreiben, um seine jahrelange Praxis als Streetworker anhand von ausgewählten Biografien zu reflektieren. Die Namen der Jugendlichen wurden zu diesem Zweck anonymisiert und zu allen Kapiteln wurde Feedback der einzelnen jungen Männer eingearbeitet.
Aufbau
Im Prolog beschreibt Fabian Reicher den Abend des Anschlags im November 2020 in Wien und den Entschluss, dieses Buch zu schreiben. Das erste Kapitel beschreibt den Beginn der Arbeit des Autors als Streetworker im 20. Wiener Gemeindebezirk und seine ersten Begegnungen mit den „Jungs von der Donaupromenade“. Kapitel 2 bis 6 widmen sich dann einzelnen Biografien, die jeweils durch fachliche und methodische Inputs ergänzt werden. In Kapitel 7 schließt das Werk mit einem Ausblick, was aus den jungen Männern wurde und mit einer fachlichen Reflexion zum vorgestellten Modell der „Pädagogik der Wütenden“ sowie einer Kritik an den nach dem Terroranschlag gesetzten politischen Maßnahmen.
Inhalt
„In diesem Moment und in jener Nacht beschloss ich, die Kriegserklärung der Terroristen nicht anzunehmen – und wir begannen, dieses Buch zu schreiben.“ (S. 14)
Die Motivation zu diesem Buch liegt in diesem Anschlag begründet, der Autor entschließt sich, aus der Perspektive seiner Arbeit als Sozialarbeiter mit Jugendlichen und gemeinsam mit diesen dieses Buch zu schreiben. „Es ist die Geschichte von Menschen, deren Stimmen zu wenig gehört werden“ (S. 12).
Das inhaltliche Rückgrat des Buches sind die fünf Biografien der Jugendlichen, der „Jungs von der Donaupromenade“: Dzamal, Outis, Adam, Sebastian und Aslan.
Die Biografien der Jugendlichen sind unterschiedlich und zugleich ist ihnen manches gemeinsam: Die Suche nach Anerkennung, der Wunsch nach Selbstwirksamkeit und die Erfahrungen, wie es ist, in einer vom Patriarchat und dem Kapitalismus geprägten Welt sich als Heranwachsender zurechtfinden zu müssen. Und die Frustration, wenn man aufgrund gesellschaftlicher Strukturen von der Teilhabe an ebendieser Gesellschaft ausgeschlossen wird.
Ebenfalls gemeinsam ist diesen fünf Jugendlichen auch, dass die Religion und was sie jeweils für sich selbst damit verbinden, für sie und ihre Identität eine wichtige Rolle spielt. Sie gibt ihnen Halt, bietet Orientierung und ist durch ihr Wertesystem sinnstiftend.
Das abschließende Kapitel („Wir“ und „die Anderen“) beginnt inhaltlich am Morgen nach dem Anschlag, Fabian Reicher beschreibt die mediale Aufregung und die erste Kommunikation mit „seinen Jungs“, mit denen er als Sozialarbeiter arbeitet.
Das über die einzelnen Kapitel hinweg entwickelte und vorgestellte Modell einer „Pädagogik der Wütenden“ (in Anlehnung an Paulo Freires „Pädagogik der Unterdrückten“) wird hier noch einmal zusammengefasst: „Die Pädagogik der Wütenden macht die Wut und ihre Ursachen zum Gegenstand der gemeinsamen Reflexion“ (S. 216).
„Die Jugendlichen sind wütend. Ihre Wut ist berechtigt, bei all der Ungerechtigkeit, die es in der Welt gibt. Sie sind nicht verantwortlich für ihre Wut, aber sie sind verantwortlich, was sie daraus machen. Sie brauchen unsere Anerkennung für ihre Opfererfahrungen und ihr Ungerechtigkeitsempfinden, aber sie müssen sich an die Goldene Regel halten, wie wir alle.“ (S. 217)
Es geht nach Fabian Reicher und Anja Melzer darum, selbst Verantwortung zu übernehmen, im reflektierten Begleiten auch bereit zu sein, das eigene Weltbild zu hinterfragen, eigene transkulturelle Automatismen zu transformieren und schließlich die eigenen Privilegien zu nutzen, um diese Welt zu verändern.
Das Kapitel greift auch die einzelnen Geschichten der Jugendlichen wieder auf: Was ist aus ihnen geworden, wie sind die Geschichten weitergegangen? Und was waren die politischen Maßnahmen, die nach dem Anschlag gesetzt wurden?
„Erst, wenn wir die Zweiteilung der Welt in „Wir“ und „die Anderen“ aufgehoben haben, kann die Gewalt enden. Die neue Generation muss es anders machen und wir können sie dabei begleiten. Gemeinsam können wir einen neuen, alternativen Weg finden. Einen Weg, auf dem aus Rache endliche Gerechtigkeit werden kann.“ (S. 226)
Diskussion
Das ist ein starker Auftakt: Das persönliche Erleben des Terroranschlags in Wien am Abend des 2. November 2020. Und mit diesem Auftakt gelingt es den Autor*innen gleich zu Beginn die Leser*Innen auch emotional mitzunehmen, denn dieses Buch ist nicht nur fachlich fundiert, es ist auch gut erzählt und spannend aufgebaut. So fällt es leicht, in die individuellen und teils auch komplexen Biografien der Jugendlichen einzutauchen und dann, sozusagen nebenbei, fachliche Inputs zu bekommen, die um einen zentralen Kern kreisen: Den Jugendlichen mit eigener Haltung und mit ehrlichem Interesse auf Augenhöhe zu begegnen, einen „intersubjektiven Raum“ mit ihnen zu öffnen. Ergänzt werden diese dargestellten Biografien aus der professionellen Sicht des Sozialarbeiters, der zusätzlich in wichtige Begriffe und Inhalte des Islam einführt und der die Dynamik des sogenannten „Islamischen Staates“ in ihrer Bedeutung für Jugendliche gut analysiert.
Zum Aufbau des Buches gehört es auch, dass viel Wert auf die Gestaltung der Illustrationen gelegt wurde (hierfür zeichnet der Künstler Calimaat verantwortlich), diese passen in ihrer Ästhetik sehr gut zum Inhalt und sind punktgenau abgestimmt.
Die „Pädagogik der Wütenden“ ist ein sehr vielversprechender fachlicher Ansatz, der im letzten Kapitel auch ruhig noch etwas genauer dargestellt und diskutiert hätte werden können. Das letzte Kapitel will inhaltlich sehr viel, was sehr interessant und mit Gewinn zu lesen ist, wie etwa der wichtige Exkurs über den Völkermord von Srebrenica. Es wäre aber auch gut denkbar, hier den ein oder anderen Fokus in der Vertiefung stärker zu setzen, um das methodische Konzept noch einmal in den Vordergrund zu rücken.
Fazit
„Die Wütenden“ ist ein kluges und inspirierendes Buch, welches auf verschiedenen Ebenen das Thema der Radikalisierung von Jugendlichen beschreibt und diskutiert. Auf der Fallebene durch konkrete Biografien, auf der Methodenebene durch die fachliche Diskussion einer „Pädagogik der Wütenden“, auf der politischen Ebene durch die Einbettung der Biografien in eine prägnante Gesellschaftskritik und schließlich auf der ganz persönlichen Ebene des Autors und seiner Co-Autorin. Auf dieser Ebene wird die innere Überzeugung deutlich, warum Soziale Arbeit und in diesem Fall Streetwork sinnvoll und notwendig ist – und warum Soziale Arbeit nicht unpolitisch sein kann. So wird denn auch am Ende die Antwort auf die Frage klar, warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen: Weil wir diese Jugendlichen sonst nicht erreichen.
Rezension von
Stefan Kühne
MSc., Lehrbeauftragter für Digitale Soziale Arbeit und Onlineberatung, Herausgeber www.e-beratungsjournal.net
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