Arist von Schlippe, Mohammed el- Hachimi et al.: Multikulturelle systemische Praxis
Rezensiert von Maria Westerbecke, 08.07.2022
Arist von Schlippe, Mohammed el- Hachimi, Gesa Jürgens: Multikulturelle systemische Praxis. Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2022.
5., erweiterte Auflage.
256 Seiten.
ISBN 978-3-89670-873-1.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Systemische Therapie und Beratung.
Thema
In der fünften Auflage des Bandes „Multikulturelle systemische Praxis“ durchleuchten die AutorInnen in diesem „Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision“ Grundlagen und Praktiken interkultureller Kompetenz.
Autorinnen und Autoren
Artist von Schlippe ist ein deutscher Psychologe, Psychotherapeut und Hochschullehrer. Er war in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und als Privatdozent für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Osnabrück tätig. Von 1999 bis 2005 leitete er als erster Vorsitzender die Systemische Gesellschaft. Seit 1986 ist von Schlippe Lehrtherapeut und Lehrender Supervisor am Institut für Familientherapie Weinheim und Ehrenmitglied des Verbandes der lettischen Familientherapeuten in Riga. Er ist Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Familiendynamik und Co.“ und Autor des „Lehrbuchs für systematische Therapie und Beratung“.
Mohammed El Hachimi ist Dr. phil., Organisationsberater, Familientherapeut und Supervisor. Er arbeitet als Lehrtherapeut und Trainer u.a. in systemischer Familientherapie, systemischer Supervision, in systemischer Organisationsentwicklung und im Coaching. Seit 1994 ist er in forschenden, beratenden und lehrenden Tätigkeiten im Rahmen der Entwicklungshilfe und u.a. der psychosozialen Kontexte und des fairen Tourismus tätig. Zudem ist er tätig in der Lehre unter dem Dach der Systemischen Gesellschaft (SG) und der Europäischen Gesellschaft für PsychotherapeutInnen (EPC).
Gesa Jürgens ist Psychotherapeutin für Erwachsene, Kinder und Jugendliche, Diplom- Psychologin, Familien-, System- und Gestalttherapeutin und Lehrtherapeutin am Institut für Familientherapie in Weinheim, welches sie 1975 mitbegründete. Seit 1978 leitet sie Therapie- und Supervisionsausbildungen in verschiedenen Städten und Institutionen in Deutschland und Österreich. Sie war acht Jahre lang tätig in der Forschung und in der Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg. Seit 1986 entwickelt sie Curricula zur Arbeit mit multikulturellen Systemen.
Aufbau
Der gesamte Text gliedert sich in drei große Teile, die nicht unbedingt nacheinander gelesen werden müssen. Der erste Teil vermittelt allgemeine Grundlagen, der zweite Teil führt in die Praxis multikultureller, systemischer Arbeit ein und der dritte Teil beschreibt ausgewählte Praxisfelder.
Inhalt
Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Cem Özdemir und Klaus J. Bade. Der derzeitige Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir studierte an der Evangelischen Hochschule für Sozialwesen in Reutlingen und nimmt in seinem Vorwort die gegenwärtige Gesellschaft in den Blick. Dabei scheut er sich nicht, eigene, persönliche Erfahrungen mit einzubringen. Klaus J. Bade ist Historiker und emeritierter Professor für neueste Geschichte im Fachbereich Kultur- und Geowissenschaften der Universität Osnabrück. Er beschreibt die Migration – Integration und die Begegnung der Kulturen als „Element der conditio humana“ (S. 14), also übersetzt „in der Natur des Menschen liegend“. Er sieht das Anliegen dieses Buches in der therapeutischen Absicht, „die Vielfalt der Bezüge und Spannungsfelder in der interkulturellen Begegnung zu erschließen“ (S15).
In der Einleitung laden die AutorInnen mit einer Metapher zu diesem Buch ein und ermutigen den Leser dazu, sich auf die Geschichten und die Narrative einzulassen.
Im ersten Teil, der Einführung und Grundlagen, gehen die AutorInnen auf die Aussage ein, dass multikulturelle Kontexte interkulturelle Konzepte verlangen. Zudem beleuchten die AutorInnen die Frage „Was ist eigentlich Kultur?“ Dabei orientieren sie sich an der Kulturdefinition von Thomas. Tiefergehend erläutern sie das „Mehr – Ebenen – Modell“ von Hofstede sowie dessen fünf Dimensionen zur Charakterisierung von Kulturen. Des Weiteren geben die AutorInnen einen Überblick über verschiedene Bezeichnungen für Formen von Migration und Gruppen von MigrantInnen. Auch die unterschiedlichen Phasen der Migration werden benannt. Dabei beziehen sich die AutorInnen auf das familiäre Glaubenssystem zwischen Idealisierung und Abwertung (nach Sluzki 2001), (vgl. S. 111) und auf die Akkulturationsstile in Bezug auf die Beziehungen zum Gastland und zur eigenen ethnischen Gruppe (nach Berry 1988, 1992), (vgl. S. 44). Dabei wird explizit darauf hingewiesen, dass niemand allein belastet ist, was für die Beratungsarbeit bedeutet, die Familie direkt oder indirekt mit einzubeziehen. Für die Beratenden werden interkulturelle Kompetenz und eine wertschätzende Haltung dem Klienten gegenüber als notwendig erachtet. Integration verstehen die AutorInnen vor allem auch als Aufgabe und Verpflichtung der aufnehmenden Kultur, die sich ihrerseits im Integrationsprozess verändert. Dabei weisen sie darauf hin, dass Sprache ein wichtiger Aspekt im interkulturellen Umgang ist. Unterschiedliche Kulturstandards werden in einer Interviewsituation (nach Thomas) auf S. 59 exemplarisch und gut nachvollziehbar dargestellt und auch die wichtigen Hauptunterschiede zwischen kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften (nach Hofstede) aufgelistet (vgl. S. 61). Es geht den AutorInnen darum, für häufige (sprachliche) Missverständnisse im gemeinsamen Umgang zu sensibilisieren. Dabei fügen sie als generelle Forderung für systemische Therapie hinzu, „nicht zu schnell zu verstehen, nicht zu schnell zu wissen, was der andere meint“ (S. 64).
Im zweiten Teil werden Prozesse von Therapie, Beratung und Supervision in „Sieben Täler“ beschrieben. Die AutorInnen laden zu einem Experiment ein, indem zwei Perspektiven abwechselnd dargestellt werden. Dabei werden Texte aus einer anderen Kultur und Zeit im Kontext systemischer Therapie kommentiert.
Zu den „Sieben Tälern“ zählen:
- Das Tal des Suchens, in dem spezifische Problembereiche im Vorfeld multikultureller, therapeutischer Arbeit erkundet werden sollen. Dabei geht es den AutorInnen vor allem um „Joining“ als Prozessbeisteuerung und affektiver Abstimmung, um sich erfolgreich mit den Klienten verständigen zu können.
- Das Tal der Liebe als Beginn einer Reise in ein unbekanntes Land, bei dem die Verfasser des Textes vor allem die Familien der Ratsuchenden anerkennen. In diesem Tal wird aber auch auf die TherapeutInnen/​BeraterInnen eingegangen, die sich mit eigener Betroffenheit, mit eigenem Engagement und mit dem Aspekt des Abstandes auseinanderzusetzen haben.
- Das Tal der Erkenntnis wird als „Werkzeugkoffer“ spezifischer Zugänge zu multikulturellen Kontexten beschrieben und der somit zum Kern systemischer Arbeit führt. Dieses Tal ist das längste Kapitel. Es beinhaltet die Aspekte des Erstkontaktes und der Erstgespräche, der Genogrammarbeit, des Reframings, der Zirkularität von Fragen, Aspekte der Skulpturarbeit mit ausländischen Familien sowie der elterlichen Präsenz.
- Das Tal der Selbstgenügsamkeit wird von den AutorInnen in zwei Abschnitten unterteilt. Dabei gehen sie im ersten Teil darauf ein, vergangene Wege und Lösungen anzuerkennen und Self-Care zu betreiben. Im zweiten Zeil wird auf die Bereicherung der Beratungsarbeit durch multikulturelle Schätze eingegangen. Hier wird die Bedeutung von Ritualen und Ritualbestandteilen von Märchen und Geschichten sowie von Weisheiten und Sprüche aus anderen Kulturen in der Therapie herausgearbeitet.
- Das Tal der Einheit oder der Selbstreferenz soll den Blick der BeobachterInnen auf sich selbst richten. Die AutorInnen beschreiben hier eine Live Supervision und das reflektierende Team.
- Das Tal der Bestürzung, der Krisen, des Tabus, der Geheimnisse und des therapeutischen Mutes benennt Unausgesprochenes, geht auf das Team in der Krise ein und bezieht somit die TherapeutInnen selbst mit ein. Die AutorInnen forcieren so die Änderung des Blickwinkels.
- Das letzte Tal, der Abschied, der Tod, das Sterben und die Überlebensschuld in der Therapie wird auch als Tal der Auflösung und der Vernichtung beschrieben.
Der dritte Teil des Buches wird mit der Überschrift „Damit müssen Sie rechnen!“ betitelt. Hier gehen die VerfasserInnen auf spezifische Problembereiche multikulturellen Arbeitens ein. Das erste Thema bezieht sich auf die besondere Situation in der Paarberatung in bikulturellen Partnerschaften. Als Methode wird hier das therapeutische Sandspiel nach Linde von Keyserling genannt. Zudem wird in diesem Teil die Gewalt in bikulturellen Beziehungen thematisiert und als weiterer Punkt auch die Arbeit mit Opfern gewaltsamer Verfolgung aufgegriffen. Dabei wird hervorgehoben, dass soziale, politische und kulturelle Realitäten berücksichtigt werden müssen. Ziel der Opferarbeit ist nach Meinung der AutorInnen in erster Linie die Wiederherstellung der Würde des Betroffenen. Dabei stellen sie sich in Anlehnung nach von Schlippe u. Schweitzer (1996) weniger die Frage, was das Problem ist, sondern vielmehr wer es definiert (vgl. S. 188).
Des Weiteren gehen die AutorInnen auf grundlegende Überlegungen zum Thema Sucht und Migration ein. Gründe für ein Suchtverhalten werden benannt, aber auch kritisch hinterfragt. Die AutorInnen betonen hier ihren Ansatz, den sie im gesamten Buch verfolgen, nämliche die Frage nach der dritten Sicht. Dabei zitieren sie Kritz (1992): „Wenn wir in der Arbeit mit Abhängigen nur nach Sucht und nach Ursachen der Sucht suchen, finden wir nur Sucht“ (S. 196). Hierbei wird auf das Konzept der Genogramm- und Familienkonstruktionsarbeit mit drogenabhängigen Migranten hingewiesen. Des Weiteren werden die Rahmenbedingungen interkultureller Suchtprävention erläutert. Dabei gehen die AutorInnen auch auf Erziehungsschwierigkeiten und Schulprobleme ein. Auch der Gesundheitsbereich in Bezug auf Multikulturalität und Medizin wird aufgegriffen. So geht es u.a. auch darum, die Bedeutung einer Krankheit kulturspezifisch zu reflektieren. Verwiesen wird hier auf eine systemische Familienmedizin. Hinzu kommt in diesem Kontext die Anforderung an das Team bezüglich multikulturellen Arbeitens in Beratungseinrichtungen.
Der Bereich Wirtschaft und Unternehmen wird ebenfalls aufgegriffen, sodass Aspekte systemischer Familienarbeit auch unter den Gesichtspunkten der Schuldnerberatung und der Familienunternehmen mit Migrationshintergrund in der Beratungsarbeit erkannt werden.
Das Ende des Buches schließt wiederum ab mit einer Geschichte.
Diskussion
Auf dem rückseitigen Cover wird das Buch als ein neues Gesamtkonzept beschrieben, das sich „gewinnbringend anwenden lässt, wo immer es um Kommunikation mit Menschen aus anderen Kulturen geht“. Und genau darum geht es in diesem Buch. Sehr anschaulich werden Praxisbeispiele in Form von Geschichten und Interviews dargestellt. Die LeserInnen werden in diesem Reiseführer buchstäblich mit auf die Reise in die unterschiedlichen Welten der verschiedensten Kulturen genommen. Dabei berühren die Geschichten auf emotionaler Ebene und bringen sowohl zum Lachen, zum Nachdenken als auch zum Weinen. Aber auch die professionelle Ebene wird hervorgehoben. So schaffen es die AutorInnen in jedem Kapitel, diese beiden Ebene miteinander zu verbinden. Es wird immer wieder auch auf theoretische Hintergründe Bezug genommen und auf weiterführende Literatur und Professionalitäten verwiesen. Das ermöglicht nicht nur den Fachkräften, die bisher wenig Erfahrungen in diesem Bereich erlangt haben, sich tiefergehend mit dieser Thematik zu beschäftigen, sondern auch den professionellen Fachkräften, sich hier evtl. neues Wissen zu erschließen oder bestehendes zu verfestigen. Lediglich im Kapitel der Skulpturenarbeit bekommen die LeserInnen den Eindruck, dass ein gewisses Maß an Vorerfahrung vorhanden sein müsste. Doch die anschauliche Schreibweise gibt schnell einen Einblick über diese Form der Therapie- und Beratungsmöglichkeit, sodass auch nicht fachkundige LeserInnen den Ausführungen folgen können.
Der immer wiederkehrende Rückbezug in den einzelnen Kapiteln zu vergangenen oder bevorstehenden Kapiteln des Buches mag im ersten Lesefluss irritieren. Er hilft den LeserInnen aber im Nachhinein, vergangene Kapitel zu reflektieren oder sich auf nachfolgende Informationen einzustellen.
Das Buch ist sprachlich sehr verständlich und anschaulich geschrieben, sodass es auch für Anfänger und nicht geschulte Fachkräfte leicht zu lesen ist. Ob sich fachkundige TherapeutInnen, BeraterInnen und andere Fachkräfte in diesem Buch „gut aufgehoben fühlen“, mögen sie selbst entscheiden. Zur kurzweiligen Auffrischung von Fachwissen ist es unbedingt geeignet.
Fazit
Das Buch „Multikulturelle systemische Praxis- Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision“ von den AutorInnen Arist von Schlippe, Mohammed El Hachimi und Gesa Jürgens bietet allen LeserInnen, die in jeglicher Form im Bereich interkultureller und multikultureller Beratung tätig sind, einen leicht verständlichen und angenehm zu lesenden Einblick in die multikulturelle, systemische Praxis. Durch zahlreiche Beispiele leisten die AutorInnen gekonnt einen „Spagat“ zwischen Theorie und Praxis und ermöglichen so den geforderten Perspektivwechsel der LeserInnen.
Rezension von
Maria Westerbecke
Erzieherin, Heilpädagogin, Elternbegleiterin, Projektkoordinatorin, Studentin „Kindheits- und Sozialwissenschaften“ (M.A.).
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Zitiervorschlag
Maria Westerbecke. Rezension vom 08.07.2022 zu:
Arist von Schlippe, Mohammed el- Hachimi, Gesa Jürgens: Multikulturelle systemische Praxis. Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision. Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2022. 5., erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-89670-873-1.
Reihe: Systemische Therapie und Beratung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29443.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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