Uwe Böhm, Judith Budwig et al.: Interreligiöses Lernen und Multireligiöse Feier
Rezensiert von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, 21.12.2022

Uwe Böhm, Judith Budwig, Zehra Isikhan-Vieriu, Isabelle Kraft, Dieter Kümmel: Interreligiöses Lernen und Multireligiöse Feier. Ermutigung aus der Praxis für die Praxis. wbv (Bielefeld) 2022. 116 Seiten. ISBN 978-3-8340-2207-3. 15,00 EUR.
Thema
Das Buch will Mut machen, sich auf interreligiöses Lernen und multireligiöse Feiern in der Schule einzulassen und bietet in den Kapiteln 3–5 in der Tat ermutigende Beispiele aus der Schulpraxis. Die Beispiele sind verbunden mit didaktisch-methodischen Überlegungen.
Weiterführend wäre noch gewesen, die didaktisch-methodischen Strategien mit theologischen Kompetenzen und den sieben theologischen Erschließungsdimensionen und den entsprechenden Graduierungsstufen in den baden-württembergischen Bildungsplänen zu verbinden. Auch eine empirische Untersuchung über das, was die Lernenden tatsächlich in interreligiösen Feiern und entsprechendem Unterricht gelernt haben, wäre aufschlussreich gewesen.
Grundsätzlich ist dieses Buch aber sehr wichtig, weil in einer demokratischen Zivilgesellschaft religiöse und interreligiöse Bildung und die dazugehörigen Lernprozesse wichtig sind, um das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Zugehörigkeiten zu ermöglichen und den übergeordneten Bildungszielen der Verfassung des Landes Baden-Württemberg nachzukommen. Denn, wie die Autor:innen in ihrem Vorwort schreiben „ist der Glaube – wie Religion überhaupt – keine Insel“ (S. 1) und Schule kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten von Schule (Lernende, Lehrende, Eltern, Schulverwaltung, technische Dienste an den Schulen u.a.m.) eine grundsätzliche Pluralismusfähigkeit (Karl-Ernst Nipkow) erwerben, um mit Vielheit angemessen umgehen zu können.
Autorinnen/Autoren
Dr. Uwe Böhm ist Lehrer für ev. Religionslehre, Mathematik und Musik und evangelischer Schuldekan in Stuttgart
Judith Budwig ist Sozialpädagogin und Familientherapeutin
Zehra Isikhan-Vieriu ist islamische Religionslehrerin und Lehrbeauftragte für Islamische Theologie/Religionspädagogik
Isabelle Kraft ist evangelische Religionslehrerin, Gemeindepädagogin und Jugendreferentin für internationale Gemeinden
Dieter Kümmel ist Gemeindepfarrer und Gefängnisseelsorger und Initiator des Projektes „Aufeinander zugehen“.
Inhalt
Aufgrund der sich steigernden Diversität in der Zusammensetzung von schulischen Lerngruppen bzw. Klassen ist es unumgänglich, interkonfessionelle und interreligiöse Kompetenzen im Umgang miteinander zu entwickeln und Lernende auch zu befähigen, Respekt und Toleranz zueinander aufzubauen (S. 9). Ein weiteres Problem, das anzugehen ist, ist die zunehmende Konfessionslosigkeit von Schülern und Schülerinnen, die gesellschaftliche Veränderungen anzeigt. Gleichzeitig ist Deutschland schon längst ein Einwanderungsland geworden, das sich auf den Zuzug von Menschen mit vielfältigem Kulturbezug einstellen muss und den Zuzug als Chance und Reichtum für die Zivilgesellschaft nutzen sollte (S. 10). Kulturelle Vielheit und religiöse Pluralität sind inzwischen auch in der größten Bildungsagentur der Gesellschaft, der Schule, angekommen. In der Schule muss das Zusammenleben (Konvivenz, Stephan Leimgruber) gelernt und geübt und dazu auch Religionssensibilität trainiert werden (S. 11). Die Autor:innen sehen in der direkten Begegnung zwischen Angehörigen verschiedener Religionen und in der Wahrnehmung „authentischer Zeugnisse gelebter Religion“ den Königsweg interreligiösen Lernens (S. 11). Gleichwohl müssen Schularten, Schulstufen und Entwicklungsaufgaben der Lernenden in das Grundkonzept interreligiösen Lernens miteinbezogen werden. Grundsätzlich gilt, „unterschiedliche Personen und religiöse Zeugnisse wahrnehmen, religiöse Phänomene deuten und die bleibende Unterschiedlichkeit respektieren“ (S. 12). Die Autor:innen stellen im Folgenden dann unterschiedliche Konzepte interreligiösen Lernens vor:
Interreligiöses Lernen als komparatives Lernen, das zuerst einen Erfahrungsbezug bei den Lernenden herstellt. Zudem sei das Lernen als spiralförmiger Lernprozess angelegt (vom Bekannten zum Unbekannten …) und im Lernprozess selbst sollen Ähnlichkeiten entdeckt und erforscht und an Differenzen gearbeitet werden (S. 13).
Interreligiöses Lernen an Zeugnissen anderer Religionen (Multi-Faith-Approach), was sich an vier Phasen des Lernprozesses orientiert:
- Phase innerer Beteiligung (The Engagement Stage) – hier werden Aufmerksamkeit und Interesse für entsprechende Lerngegenstände geweckt.
- Phase der Entdeckung (The Exploration Stage) – hier steht die konkrete und direkte Begegnung im Fokus.
- Phase der Kontextualisierung (The Contextualization Stage): Den Lernenden wird der Zusammenhang (Kontext) des Lerngegenstandes aufgezeigt.
- Phase der Reflexion (S. 14) (The Reflection Stage): Die Lernenden stellen eine Verbindung des Lerngegenstandes mit ihrem eigenen Leben her. Die Grundfrage hierbei ist: „Was gibt meinem Leben die Richtung?“ (S. 14)
Interreligiöses Lernen als performativer Ansatz (Aufzeigen religiöser Praxis) (S. 14): Die didaktischen Ansätze in diesem Modell gehen der Frage nach, wie das Phänomen Religion in der Schule lehr- und lernbar ist. Methodisch geht es dann um „religiöse Tänze, Rollenspiele, kreatives Schreiben aus der Perspektive einer berühmten Gestalt, Erkundung eines Kultraumes, Besuch eines Gottesdienstes oder einer religiösen Feier, Wahrnehmen von Diakonie, Hospiz und Krankenhaus vor Ort usw.“ (S. 14). An seine Grenzen kommt dieser Ansatz jedoch dann, wenn christliche, jüdische, muslimische Rituale oder religiöse Handlungen im Unterricht nachgespielt werden, was einen imperialen und kolonialistischen Zug hat.
Interreligiöses Lernen als erinnerungsgeleitetes (anamnetisches) Lernen: Hier geht es um einen angemessenen Umgang mit der Vergangenheit in Form des Erzählens oder auch in Form von Gedenktagen, Besuch von Museen und Mahnmalen/Gedenkstätten (S. 15), Studium von Biografien und entsprechende Medienimpulse. In diesem Kapitel hätte der Blick noch erweitert werden können, um Erinnerungsorte (Schwendemann 2021) oder Boschki (2015) um anamnetisches Lernen. Das Autor:innenteam ist sich jedoch einig, dass in den drei abrahamitischen Religionsgemeinschaften genügend sich überschneidende Bereiche existieren, die sich auf ERINNERUNG beziehen (vgl. Lk 22, 19; Sure 62, 10; Sure 33, 41; Buch Exodus) (S. 16).
Interreligiöses Lernen als ästhetisches Lernen innerhalb der Sakralraumpädagogik: Fokus dieses didaktischen Modells ist „eine religiöse Wahrnehmungs- und Ausdrucksschulung“ (Sinneswahrnehmung, Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit, Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit).
Das Modell der Kirchenraumpädagogik stand Pate dieses Ansatzes, der sich auf Kirchen, Synagogen, Moscheen, buddhistische und Hindu-Tempel erweitern lässt. Die „Heiligkeit“ bzw. Besonderheit eines sakralen Raumes soll in diesem Ansatz im Vordergrund stehen: „Sakrale Räume mit Schüler*innen zu erschließen, kann den Sinngehalt des Glaubens erschließen, der in Kirchengebäuden, Tempeln, Synagogen, Moscheen usw. zu Stein geworden ist. Denn heilige Stätten sind als außerschulische Lernorte lesbare Texte „vergangenen“ Lebens sowie geronnene Formen von Glauben und Gottesdienst unterschiedlicher Zeiten und Epochen“ (S. 17). Methodisch geht es immer um folgende Schritte:
- Phase der Eröffnung und des Wahrnehmens,
- Phase des Denkens, Verstehens und Wissens,
- Phase des Handelns, der Verdichtung und des Erlebens (S. 18).
Interreligiöses Lernen als biografisches Lernen: In diesem Modell sind Biografien von Männern und Frauen des interreligiösen Dialogs wichtig, denn Biografien sind immer auch „gedeutetes Leben“.
In dem Kapitel „Grundlagen interreligiösen Lebens“ werden bestimmte erkenntnisleitende Begriffe definiert. Unter „Toleranz“ wird im Folgenden verstanden: „Toleranz ist die von einer bestimmten Überzeugungsposition aus geleistete Duldung von konkurrierenden geistigen Positionen …, verbunden mit dem Eintreten für deren öffentliche Selbstdarstellung.“ (S. 19). Gemeint sind dann Personen als Überzeugungsträger:innen und dann in einem weiteren Sinn auch religiöse oder politische Narrative bzw. Erzählgemeinschaften (S. 20).
Religionspädagogisch ist es wichtig, um Wahrheit oder Nichtwahrheit und Koexistenz zu streiten, d.h. Toleranz zu lernen, geht nur in dialogischen Prozessverfahren: „Die jeweiligen Vertreter*innen nehmen die religiösen Erfahrungen des Gegenübers ernst und kommen ins Gespräch. Dadurch findet ein Dialog auf Augenhöhe statt. Der Dissens ist der Ausgangspunkt für den interreligiösen Dialog.“ (S. 20).
Der nächste Grundbegriff ist „Anerkennung des Anderen bzw. des Andersseins“ (S. 21). Dieser Begriff wurde von dem Sozialphilosophen Axel Honneth geprägt und meint Zuneigung, Wertschätzung und Respekt im Lernprozess zu entwickeln bzw. dazu zu befähigen.
Religiös ist die Rede von einem Schöpfergott, z.B. in Gen 1, ein dialektischer Anerkennungsmodus: Im Singen des narrativen Hymnus in Gen 1 erkennt der Betende Gott als Schöpfer an und gleichzeitig seine eigene Beziehung zu Gott als geliebtes Geschöpf (S. 21), was unmittelbar zur „Anerkennung der rechtlichen Gleichheit aller Menschen mit ihrer unantastbaren Würde“ führt (S. 21).
Der dritte Begriff ist „Akzeptanz“, der sich weniger auf Personen, vielmehr auf „Entwicklungen, Informationen, Situationen und Gegenstände“ (S. 21) bezieht. Religionspädagogisch geht es hierbei um die Akzeptanz religiöser Deutungssysteme und Gedanken (S. 22).
Der letzte Begriff in dieser Reihe ist „Respekt“, der eine bestimmte „Form der Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Ehrerbietung gegenüber einem anderen Lebewesen“ u.a. meint (S. 23). Respekt wird „als gleichheitsbasierte Anerkennung“ charakterisiert, die „Personen mit gleichem Recht und Würde“ voraussetzen (S. 23).
Die Zielsetzung interreligiösen Lernens im schulischen Kontext geht auf ein friedliches Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft. Auf S. 23 befindet sich eine Tabelle mit unterschiedlichen Lernebenen des interreligiösen Lernens (ästhetische Ebene, Beziehungs- und Gefühlsebene, kognitive Ebene, Handlungsebene und spirituelle Ebene) und entsprechenden Zielen wie „vorurteilsfreies Wahrnehmen von Angehörigen anderer Religionen und ihrer kulturellen Leistungen“ (S. 23), „Verbindung des eigenen Lebens mit Andersgläubigen durch Begegnung und Freundschaft“ (S. 23), Kennenlernen religionswissenschaftlicher Inhalte, gemeinsames Handeln in einer Zivilgesellschaft, „Erfahrung der eigenen Spiritualität im Angesicht des Anderen“ (S. 23).
Die Zielsetzung des Abschnitts „Eigenes durch Andere lernen“ besteht zuerst in einer Religionssensibilisierung, d.h. das Eigene erkennen und formulieren und das Andere wahrnehmen lernen (S. 24) und befähigt sein zur Perspektivenübernahme (S. 25) nach Richard Selman in fünf Schritten bzw. Niveaus.
Der nächste Abschnitt (2.3 „Religion im privaten Raum“) fokussiert die Alltagsrituale außerhalb der Schule, zum Beispiel in der Familie bzw. im häuslichen Umfeld. Für das orthodoxe Judentum bedeutet das drei Gebete am Tag/Abend (Morgengebet = Schacharit; Mittagsgebet = Mincha; Abendgebet = Maariv) (S. 27) oder das Anlegen der Tefillin (Gebetsriemen) und des Tallits (Gebetsmantel), das Einhalten der Schabbatregeln oder der Feste wie Pessach, Sukkoth (S. 28). Wesentlich sind auch die Speisevorschriften, ob die Speise koscher ist oder nicht (S. 29) oder auch das Tischgebet. Im Christentum existiert eine Vielzahl von Ritualen und Erkennungsmerkmalen im Alltagsleben.
Die christlichen Autor*innen kommen aus der evangelischen Landeskirche in Württemberg (S. 31) und hier wird vor allem aus dem schwäbischen Pietismus „das innere Berührtsein durch das Wort Gottes“ (Herzensfrömmigkeit) angeführt. Das geschieht entweder in der täglichen Bibellese oder durch das Lesen des weitverbreiteten Losungsbuches (S. 31).
Im Christentum existieren auch Morgen- und Abendgebete, Tischgebet, VaterUnser als tägliches Gebet oder auch das Feiern kirchlicher Feste (beginnend mit dem Advent, Weihnachtsfestkreis, Passions- und Osterzeit oder auch der Besuch von Bitt- und Bußgottesdiensten) oder auch Fasten in der Advents- und Passionszeit (zum Beispiel „7 Wochen ohne“) (S. 32). Die Autor*innen erwähnen noch die Institution des Hauskreises als besondere Form geistlicher Gemeinschaft außerhalb der Familie und der Gemeinde (S. 33).
Für den Islam sunnitischer Prägung ist für die Autorin die Präsenz der vier islamischen Rechtsschulen wichtig, die Regeln für den Alltag wie Speisevorschriften oder rituelle Handlungen (S. 34) formuliert haben. Zwei wichtige bzw. Traditionen sind zum einen der Ramadan als Fastenmonat mit anschließendem Ramadanfest (Zuckerfest) und das Opfer- bzw. Abrahamsfest in der Moschee und zu Hause.
Die 5 rituellen täglichen Gebete (Pfeiler des Islam) können zu Hause oder in der Moschee verrichtet werden, allein oder in Gemeinschaft. Zu unterscheiden sind das Morgengebet (Fadschr), Mittagsgebet (Dhur), das Nachmittagsgebet (Asr), das Abendgebet (Maghrib) und das Nachtgebet (Ischa). Auch gemeinschaftliche Koran-Rezitationen existieren (S. 45). Die Speisevorschriften sind je nach Tradition verschieden. Wichtig ist die Sure 6, 145, in der der Genuss von Aas oder vergossenem Blut und auch Schweinefleisch verboten ist, außer natürlich in Lebensgefahr für den Lebenserhalt (S. 35f). Bezüglich des Fleisches anderer Tiere gehen die Rechtsschulen auch verschiedene Wege. Die erlaubten Speisen sind Halal, wenn das Tier zuvor geschächtet wurde – auch hier existieren spezielle Verfahrensregeln – auch das Tierwohl und die Tierhaltung kommen zur Geltung (S. 36). Auch stille Tischgebete vor oder nach dem Essen existieren. Alkoholgenuss wird untersagt, es sei denn aus medizinischen Gründen.
Religion/Religiosität gehört aber nicht nur in den privaten Raum, sondern auch in den öffentlichen Sakralraum (S. 37). Jüdischer Glaube findet seinen Ort und liturgischen Ausdruck in der Synagoge, Haus der Versammlung (Beth HaKnesset). Dort treffen sich jüdische Gemeindeglieder zum G’ttesdienst und auch zum Lesen der Tora und anderer heiliger Schriften des Judentums (S. 38). Meist gibt es in den Synagogen auch Räume zum Lernen und Studieren. Jüdischer Gemeinden (orthodox) suchen sich einen Rabbiner oder eine Rabbinerin (liberal). Im Synagogenraum selbst findet sich der Toraschrank, ein ewiges Licht, eine Bima (Lesepult mit Auflage für die zu lesende Torarolle bzw. den Toraabschnitt), eine Menora (siebenarmiger Leuchter).
In orthodoxen Gemeinden sitzen Frauen und Männer getrennt, in liberalen Gemeinden auch nebeneinander (S. 39). Wichtige Feiertage im jüdischen Kalender sind
- Rosch HaSchana (Neujahrsfest),
- Jom Kippur (Versöhnungstag),
- Sukkoth (Laubhüttenfest),
- Simcha Tora (Freude über die Tora),
- Chanukka (Wiedereinsetzung des Tempels),
- Purim (Erinnerung an das Buch Ester),
- Pessach (Auszug aus Ägypten) und
- Schawuoth (Wochenfest) (S. 40).
Im Christentum ist die Kirche der Versammlungsort, an dem der Gottesdienst gefeiert wird. In der ev. Kirche gibt es im Innenraum Stühle/Kirchenbänke, einen Altar, die Kanzel für die Predigt, ein Lesepult und einen Taufstein oder ein Taufbecken (S. 41). In lutherischen Gemeinden findet sich oft ein Kreuz, das in reformierten Gemeinden fehlt. Der Pfarrer/die Pfarrerin steht zur Liturgie vor dem Altar, auf dem regelmäßig auch Brot und Wein/Traubensaft für das Abendmahl stehen (S. 42). Bedeutung hat auch die Kirchenmusik durch Orgel und Chor, Posaunenchor (ev.), Gemeindegesang und liturgischem Gesang. Die Aufnahme in die Gemeinde geschieht durch die Taufe und in der Jugendzeit durch Konfirmation als Taufbestätigung (ev.), Firmung (kath.). Gottesdienste werden auch anlässlich von Eheschließung (Trauung) oder zu Beerdigungen gefeiert.
Das Gotteshaus im Islam ist die Moschee (S. 44)/Sure 2, 125), die an die Einkehrstätte Abrahams in Mekka (Ka’aba) erinnert. Die Gebetsrichtung ist deshalb auch immer Mekka und die Gebetsnische in jeder Moschee ist in diese Richtung ausgerichtet (S. 44). Die Moschee ist jedoch nicht nur Gebetsort, sondern dient auch der Begegnung, ist Zentrum der Bildung, des Handels, medizinischer Behandlung, Seelsorge und auch Verwaltungszentrum (S. 44). Die Moschee gilt als der Ort, wo Gläubige Gott am nächsten sind. Heutzutage sind Moscheen mit Teppichen im Innenraum ausgelegt. Vor dem Betreten des Innenraums der Moschee entledigt man sich seiner Straßenschuhe und führt eine rituelle Waschung durch. Neben Gebetsnische (=Mihrab) existiert in jeder Moschee noch eine Kanzel (=Minbar) für das Freitagsgebet und die Möglichkeit, für sich allein den Koran zu studieren. Viele Moscheen haben Minarette, d.h. Türme für den Gebetsrufer, der zu den fünf Gebetszeiten die Gläubigen zum Gebet bittet und einlädt (S. 45). In der Moschee findet während des Ramadans das tägliche Fastenbrechen nach dem Sonnenuntergang statt. Auch das Ramadanfest (Eid ul-Fidr) und das Opferfest (Eid ul-Adha) wird in der Moschee gefeiert (S. 47), ebenso Hochzeiten, Geburten u.a.m.
Im dritten Kapitel werden interreligiöse Schulprojekte, vor allem aus der Maria-Montessori-Grundschule in Stuttgart-Hausen, vorgestellt (S. 51). Beispiel 1 ist ein fahrbares Regal mit Montessorimaterial zu den Festen der Religionen (Bastelmaterial, Geschichten, Rätsel, Leporellos, Bilder, Bücher, Kerzenständer und andere Materialien). In jeder Kiste findet sich Material zu einem Fest aus einer der drei abrahamitischen Religionen; die Religionen selbst sind durch Farben gekennzeichnet. Die Religionslehrpersonen ergänzen das Selbstlernmaterial in den Kisten dann im Religionsunterricht durch weiteres Material und Medien (S. 52).
Die Freiarbeitsmaterialien in den Kisten sind so aufgebaut, dass die Lernenden anhand einer Sammelkarte sich durch die Feste selbstlernend arbeiten und auch die richtigen Antworten selbst überprüfen können (S. 57). Absolvierte Stationen darf man auf seiner/ihrer Sammelkarte abstempeln. Ein weiteres Beispiel für interreligiöses Lernen sind Plakate eines interreligiösen Festkalenders, der im Foyer der Schule hängt (S. 58). Ein drittes Praxisbeispiel stellt eine Unterrichtsstunde zur „Geburt Jesu in der Bibel und im Koran“ dar (S. 61).
Die christlichen und die muslimischen Schüler:innen begegnen sich im gemeinsamen Unterricht und bearbeiten entsprechende Texte aus Bibel und Koran und erarbeiten in Gruppen je ein Standbild zum jeweiligen Ausschnitt der Geburtserzählung. Das angewandte Unterrichtsschema ist jedoch ergänzungsbedürftig: Es fehlen Kompetenzen und Lernziele, auch sind die Unterrichtsphasen noch nicht differenziert genug. Das vierte Praxisbeispiel sind Lerngänge zu Sakralräumen, fußend auf den Methoden der Kirchenraum- bzw. Sakralraumpädagogik (S. 66). Aktiviert werden dabei die Sinne und die Wahrnehmung von außen nach innen und die Religionssensibilität.
Im vierten Kapitel erläutern die Autor*innen die Grundlagen für multireligiöse Feiern. Zuerst geht es um das Gottesverständnis der drei abrahamitischen Religionen. Im Judentum ist G’tt (S. 71) einzig, unteilbar und Schöpfer, unendlich, ewig. Biblischer Bezug ist Ex 3, 14.
Das Christentum nimmt das biblische Gottesverständnis auf und versteht unter Gott den einen und einzigen Gott in drei wesensgleichen „Personen“ (Vater, Sohn und Heiliger Geist) (Gen 1; 2 Kor 5, 17; Joh 1, 14; Mt 5 usw.). Jesus wird als Heiland und Sohn Gottes gesehen, der den Tod überwunden hat (S. 73). Der Heilige Geist setzt das Werk Jesu fort und ist die Kraft Gottes (Joh 14, 16–18) (S. 74). Im Islam wird Gott ebenso als ewiger Schöpfergott bekannt und Polytheismus strikt abgelehnt (S. 74). Bezug ist die Sure 112, wo die Einzigartigkeit Gottes und seine Unvergleichbarkeit hervorgehoben wird (S. 74).
In der islamischen Tradition besteht die Tradition der sog. 99 Anrufungsnamen/Eigenschaften Gottes, die Gottes Unendlichkeit hervorheben (S. 75). Gemeinsame religiöse Feiern führen zu einem vertieften Verständnis der jeweiligen Religion (S. 76).
Vier Modelle seien dabei zu unterscheiden:
- Liturgische Gastfreundschaft;
- Veranstaltungen mit religiösen Elementen;
- Multireligiöse Feiern mit Repräsentant*innen verschiedener Religionsgemeinschaften;
- Interreligiöse Feier mit gemeinsamem Gebet (S. 76).
Als interreligiöse Feier ist eine Feier an einem neutralen Ort anzusehen (S. 77): „Unter interreligiösem Beten versteht man ein gemeinsames Sprechen von Gebeten von Juden, Christen und Muslimen.“ (S. 77).
Die multireligiöse Feier unterscheidet sich im Beten. Es gibt kein gemeinsames Beten, sondern jeder/jede Teilnehmende legt Zeugnis seines/ihres Glaubens ab (S. 77). Selbstverständlich sei darauf zu achten, dass andere Religionsgemeinschaften nicht usurpiert werden, besonders sensibel müsse man mit der Musik- bzw. Liedauswahl verfahren (S. 82f).
Das fünfte Kapitel stellt multireligiöse Feiern zu den Themen Dankbarkeit (S. 85), Ich bin einzigartig (S. 91), David – Mut und Angst (S. 98), Menschen auf der Flucht (Mose, S. 105) vor.
Das sechste Kapitel setzt sich mit der theologischen Grundfrage auseinander: „Ein Gott, viele Religionen. Was ist Wahrheit?“ (S. 109). Die Autor*innen vermitteln das Wesentliche und das Gemeinsame der Religionsgemeinschaften: Wahrheit ist nur als kommunikative Wahrheit in einem dialogischen Geschehen zu begreifen und niemals als absolute Wahrheit.
Drei Modelle der Wahrheitsfindung werden unterschieden:
- das exklusivistische,
- inklusivistische und
- das pluralistische Modell.
Die Gleichnisgeschichte vom Elefanten und den blinden Kindern wird in allen dieser Modelle ausgeführt und so plausibel erläutert. Klar ist jedoch das Bestreben der Autor*innen, die Geschichte im pluralistischen Wahrheitsmodell zu verstehen (S. 110ff). Im Anhang findet sich eine Liste ausgewählter Literatur für Lehrpersonen und Tipps für Lernende (S. 115f).
Diskussion
Das Buch ist ein Mutmachbuch und lädt ein, in den Schulen überhaupt und besonders im Religionsunterricht nach gemeinsamen Wegen zu suchen und auch gemeinsame Projekte im Rahmen des kooperativ-konfessionellen Unterrichts anzugehen. Die Praxisbeispiele sind sehr gelungen und schreiten die Möglichkeiten interreligiösen Lernens ab. Ergänzungsbedürftig sind die Unterrichtsschemata. Hier fehlen der Rückbezug zu den kompetenzorientierten Bildungsplänen in Baden-Württemberg. Ein Desiderat besteht darin, die beteiligten Lehrenden und Lernenden in einer empirisch-qualitativen Befragung auf Gelerntes zu interviewen.
Fazit
Das zur Nachahmpraxis angelegte Buch ist sehr gelungen und lädt zum Nachahmen, Weiterentwickeln, Ausprobieren des schulischen interreligiösen Dialogs ein. In ökumenischen Fachschaften für Religion an öffentlichen Schulen sollten die Lehrpersonen die Anregungen des Buches und des Autor:innen Teams aufnehmen und an ihre eigene Schulsituation anpassen und erproben.
Literatur
Reinhold Boschki (2015): Erinnerung/Erinnerungslernen, in: https://www.bibelwissenschaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexikon/wirelex/sachwort/anzeigen/details/erinnerungerinnerungslernen/ch/c62a56db177cd92be7dd0b494afd2d73/
Wilhelm Schwendemann (2021): Erinnerungsort, in: https://www.bibelwissenschaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexikon/wirelex/sachwort/anzeigen/details/erinnerungsort/ch/a69c49b71a132b8886114c6e7ae25d4c/
Rezension von
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Professor für Evangelische Theologie, Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg im Fachbereich II (Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft)
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