Roberto Hübner: Beurteilung und Popularisierung der Pädagogischen Lesungen in der DDR
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.04.2023

Roberto Hübner: Beurteilung und Popularisierung der Pädagogischen Lesungen in der DDR.
Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2021.
171 Seiten.
ISBN 978-3-8340-2190-8.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Beiträge zur Geschichte der Pädagogik in der DDR.
Thema
Gegen Stereotypisierung und Mythenbildung im pädagogischen Diskurs
Die Reflexionen, Nachfragen und Forschungen zu Fragen der pädagogischen, erzieherischen und schulischen Wirklichkeiten in der ehemaligen DDR bewegen sich, west- wie ostdeutsch kontrovers betrachtet, zwischen leistungs- und leidensorientierten, selbst- und fremdbestimmten, individuellen und kollektiven Argumentationen. Sie sind bestimmt von unterschiedlichen Auffassungen darüber, was Bildung und Erziehung in einer Gesellschaft leisten wolle, solle und könne: Führen oder Wachsen lassen!
Entstehungshintergrund und Autor
An der Universität Rostock eruiert und erforscht die Arbeitsstelle „Geschichte der Pädagogik der DDR“ die Theorie und Praxis der sozialistischen Bildung. Die Fragestellungen und Ergebnisse werden in einer gesonderten Publikationsreihe vorgestellt: Es sind Aspekte, wie in der offiziellen Bildungs- und Erziehungspolitik ein individuelles und kollektives Bewusstsein der sozialistischen Staatsbürger entwickelt und gefördert werden sollte. Als ein herausgehobenes Format galten die „Pädagogischen Lesungen“, die ge- und verordnet, institutionalisiert und verpflichtend landesweit durchgeführt wurden. Interessant ist dabei, wer und wie – individuell, kollektiv und politisch – bestimmte und beeinflusste, welche Themenbereiche und Zielsetzungen bei den „Zentralen Tagen“ zu thematisieren und zu funktionieren hatten und wie sie pädagogisch medial dargestellt und verbreitet wurden. Idealiter stand der didaktische und methodische Anspruch dahinter, dass konkrete pädagogische Innovationen und Praktiken zuvorderst von kompetenten „Praktikern“ im pädagogischen Alltag als „Best Practice“ vermittelt werden können. Es waren also praktische Erfahrungen, die sowohl direkt als Fortbildungsveranstaltungen, bei Konferenzen, Kursen, Fachkommissionen und in Fachzeitschriften als „Pädagogische Lesungen“ übermittelt wurden. Der Selektionsprozess durchlief dabei festgelegte, verpflichtende, politische Stationen. Roberto Hübner bezeichnet in seiner Dissertationsschrift „Beurteilung und Popularisierung der Pädagogischen Lesungen in der DDR“ den Findungs- und Entscheidungsprozess, welche Themen und Projekte bei den Pädagogischen Lesungen zum Zuge kamen und welche nicht, als „Flaschenhals“.
Aufbau und Inhalt
In der empirischen Studie lässt Hübner nicht „Zeitzeugen“ zu Wort kommen; vielmehr nähert er sich der Forschungsfrage, wie der längerfristige Selektions- und Wirkprozess bei den „Pädagogischen Lesungen verlief: immer zuständigkeits- und hierarchisch bestimmt, von der (pädagogischen) Kreis- über die Bezirks-, bis zur zentralen Ebene. Jede Station erstellte ein Gutachten, die schließlich Annahme oder Ausschluss bewirkten. Die Belege und Quellennachweise befinden sich in den zentralen Archiven. Der Zeitraum der Analysen bezieht sich auf Jahre 1962 bis 1989/90. In dieser Zeit wurden 27 zentrale (Groß-)Veranstaltungen durchgeführt. Das Zentralinstitut für Weiterbildung in Ludwigsfelde-Stuveshof war von der Regierung beauftragt, die ZTPL vorzubereiten, durchzuführen, zu begleiten und zu dokumentieren.
Neben der Einleitung und Zusammenfassung wird die Forschungsarbeit in zwei Kapitel gegliedert. Im ersten titelt der Autor: „Der Flaschenhals der Überlieferung Pädagogischer Lesungen“. In den in den Jahrzehnten wissenschaftlich ermittelten Untersuchungen über die erwarteten, gewünschten Effektivitäten und Erfolge der Pädagogischen Lesungen wurde deutlich, dass sich dabei erhebliche Unterschiede sowohl bei den einzelnen Regionen, als auch der Qualitäten ergaben. Das bewirkte, dass die Verantwortlichen dezentrale Organisationsformen entwickelten.
Im zweiten Kapitel setzt sich der Autor auseinander mit „Bestimmung von Qualität und Kriterien guter Pädagogischer Lesungen“. Die Entwicklungen der PL vollzogen sich nach und nach eher weg von dem Ziel, mit der Initiative qualitativ und quantitativ besseren Unterricht zu erreichen, hin zu bürokratischen, schulaufsichtlichen und –kontrollierenden, theorielastigen Formen. So zeigen sich auch kaum kritische Aktivitäten beim PL-Prozess. Bei den pädagogisch Professionellen bestand ein „ideologischer Konsens“ und eine Selbstzensur: „Man wusste, wo man was wie sagen konnte“.
Diskussion
Abgesehen von den ideologischen, politischen Unterschieden in den beiden deutschen Staaten, wurde in der DDR der Bildung und Erziehung zum „sozialistischen Menschen“ eine starke Aufmerksamkeit gewidmet, wie es in der Sozialistischen Verfassung von 1968/1974 zum Ausdruck kommt: Eine sozialistische Gemeinschaft von „allseitig gebildete(n) und harmonisch entwickelte(n) Menschen (herzustellen), die vom Geist des sozialistischen Patriotismus und Internationalismus durchdrungen sind und über eine hohe Allgemeinbildung und Spezialbildung verfügen“. Vergleichsuntersuchungen und Studien über die verschiedenen pädagogischen Theorien und Konzepte in der BRD und DDR bestimmen von Anfang an den bildungspolitischen Diskurs. Es sind Fragen nach der Mehr- oder Eingliedrigkeit der Schule, nach Polytechnischer Bildung oder Arbeitslehre (vgl. z.B. dazu: Willi Voelmy, Polytechnischer Unterricht in der DDR seit 1964, Diesterweg-Verlag 1969, 172 S.), von Pädagogischer Freiheit und Systemgebundenheit. Weil Professionalisierung einerseits Fach- und Sach-Qualifikation erfordert, andererseits aber auch Fort-und Weiterbildung einen institutionalisierten Erfahrungsaustausch benötigen, wurde zwar mit dem PL ansatzweise Möglichkeiten dazu geschaffen; doch die ideologisch aufgeladenen Kontroll- und Überwachungsstrukturen in der DDR behinderten einen echten, weiterführenden Gedanken- und Erfahrungsaustausch. In Klammer gesetzt: Ein Problem, das sich auch bei den westdeutschen Entwicklungen bei der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften auftut. Während bis vor einigen Jahren institutionalisierte LfB vielfach in den föderativen Systemen als fachbezogener und fächerübergreifender, zentraler Bildungs- und Erfahrungsaustausch ablief, wurde (vor allem aus Einsparungsgründen!) die Fortbildung auf lokale, schulische Verhältnisse heruntergebrochen, was einerseits die persönlichen Ansprüche von Lehrerinnen und Lehrern berücksichtigen (soll), andererseits die ortsübergreifenden, interdisziplinären und kooperativen Möglichkeiten einschränkt. Es gilt, Achtung und Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie im Bildungs- und Erziehungsprozess Verhaltensformen eingeübt werden können, wie Individualität und Kollektivität, Anpassung und Widerstand.
Fazit
Die von der „Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen“ an der Universität Rostock initiierten und publizierten Forschungsergebnisse vermitteln nicht nur den Blick zurück in vergangene pädagogische Initiativen wie z.B. die „Pädagogischen Lesungen“, sie ermöglichen auch Gegenwarts- und Zukunftsfragen, wie guter, effektiver, humaner, curricularer, didaktischer und methodischer Unterricht in der allgemeinbildenden und berufsbildenden Schule gestaltet und weiterentwickelt werden kann – nicht ideologisch, hierarchisch und zentralistisch, sondern menschenwürdig. „Jedermann hat das Recht auf Bildung“, so heißt es in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte; dies ohne Ideologie und Einschränkung zu ermöglichen, ist die Hauptaufgabe für pädagogisches Denken und Handeln.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 17.04.2023 zu:
Roberto Hübner: Beurteilung und Popularisierung der Pädagogischen Lesungen in der DDR. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2021.
ISBN 978-3-8340-2190-8.
Reihe: Beiträge zur Geschichte der Pädagogik in der DDR.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29447.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
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