Iris Baumgardt: Berufliche Orientierung von Kindern im Grundschulalter
Rezensiert von Saskia Warburg, 07.05.2024
Iris Baumgardt: Berufliche Orientierung von Kindern im Grundschulalter. Analyse von ausgewählten Unterrichtsmaterialien und Lehrplänen. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2022. 206 Seiten. ISBN 978-3-8340-2199-1. 19,80 EUR.
Thema
Berufsvorstellungen, -wünsche und -bilder nehmen bereits im Grundschulbereich und damit verbunden bei den Kindern im Grundschulalter eine große Relevanz ein. An diesem Punkt setzt die Arbeit von Iris Baumgardt aus dem Jahr 2021 an, wobei im Fokus der Untersuchung die (Differenz)Kategorien Geschlecht und soziale Herkunft mitgedacht werden. Unterrichtsmaterialien, Kinderbücher und Forschungsergebnisse werden hierbei kritisch geprüft, mit dem übergeordneten Ziel der Entwicklung sowie Ausdifferenzierung eines facettenreichen beruflichen Selbstkonzeptes von Grundschulkindern.
Autorin
Iris Baumgardt, Dr.‘in, ist seit 2021 Professorin für Grundschulpädagogik Sachunterricht mit gesellschaftswissenschaftlichem Schwerpunkt an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.
Entstehungshintergrund
Bei der Publikation handelt es sich um eine gekürzte Fassung einer Recherchestudie mit dem Titel „Die Themen ,Arbeit und Beruf‘ in der Grundschule“ aus dem Jahr 2019/2020, die in Kooperation mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) entstanden ist. 2021 wurde die vorliegende Publikation als gekürzte, aber nicht aktualisierte Form herausgegeben.
Aufbau
Die Publikation umfasst insgesamt 151 inhaltliche Textseiten und kann in drei Bereiche untergliedert werden, wobei im ersten Teil ein detaillierter Überblick zum Stand der Forschung der beruflichen Orientierung von Kindern gegeben wird. Daran anschließend werden ausführlich gegenwärtige Initiativen, Kinderbücher, Unterrichtsmaterialien, Schulbücher wie deutsche Lehrpläne und Bundeslandkonzepte dargestellt und interpretiert. Im letzten Teil der Publikation werden skizzenhaft verschiedene Handlungsempfehlungen formuliert sowie ein Fazit für die dargestellten Aspekte und Ergebnisse gezogen. Insgesamt zeichnet sich die Publikation durch die vielfältigen Verknüpfungsmöglichkeiten sowie die kurzen Rekapitulationen in den Zwischenfaziten aus.
Inhalt
Iris Baumgardt leitet in die gekürzte Version der vorliegenden Recherchestudie mit dem Hinweis auf eine benötigte systematisch berufliche Orientierung von Anfang an ein. Ergänzend wird bereits hier klar ersichtlich, welche Relevanz die Kategorie Geschlecht und auch die soziale Herkunft von Lernenden auf die (spätere) berufliche Biographie hat und dass hier ein besonderes Augenmerk der Publikation liegt. Somit wird das Erkenntnisinteresse der Publikation davon getragen, „inwieweit die wissenschaftlichen Erkenntnisse und recherchierten Angebote einen Beitrag dazu leisten können, Kinder bei der Entwicklung und Ausdifferenzierung eines facettenreichen beruflichen Selbstkonzeptes zu unterstützen – unter besonderer Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht und der sozialen Herkunft“ (Baumgardt 2021, S. 2–3).
Forschungsstand: Berufliche Orientierung von Kindern
Das erste Kapitel nimmt vor allem den aktuellen Status quo (Stand 2019/2020) zum Forschungsstand der beruflichen Orientierung von Lernenden in der Grundschule in den Blick und bietet den Lesenden einen detaillierten und gut aufbereiteten Überblick. Dabei folgt auch dieses Kapitel einem Dreischritt, so thematisiert das erste Unterkapitel (1.1 Rahmung: Berufswahltheorie und Fachdidaktik) skizzenhaft ausgewählte berufswahltheoretische Ansätze.
Daran anschließend (1.2 Vorstellungen von Kindern) werden die Berufswünsche – wobei u.a. von Traumberufen bzw. Wunschberuf gesprochen wird – von Lernenden in den Blick genommen. Zwar liegen für die Sekundarstufe internationale Studienergebnisse vor, für die Primarstufe gibt es jedoch keine vergleichbaren Studien, allerdings weist die Autorin hier auf kleinere Erhebungen für diesen Bereich hin. Deutlich werden Forschungsdesiderate, beispielsweise in Bezug auf Kindervorstellungen zur Arbeits- und Berufswelt, sowie das hohe Potenzial einer frühzeitigen Implementierung der Berufsorientierung im Primarbereich benannt.
Im dritten Unterkapitel (1.3 Einflussfaktoren) werden potenzielle Einflussfaktoren auf die berufliche Biographie von Lernenden dargestellt, wobei der Hauptfokus auf den Kategorien Geschlecht (in einem binären Verständnis) und der sozialen Herkunft liegt. In diesem Kontext widmet sich ein Unterkapitel auch der Bedeutung einer gendergerechten Sprache (siehe 1.3.1.4 Geschlechtergerechten Sprache) für das vorliegende Forschungsfeld.
Untersuchungsergebnisse
Ausgehend von den dargestellten Inhalten aus dem ersten Kapitel, werden im zweiten Kapitel u.a. Initiativen, Angebote und Publikationen zum Themenfeld dargestellt. Neben der grundsätzlichen Vorstellung von möglichen Praxen und Praktiken, werden die Angebote auch dahin gehend untersucht, inwiefern sie den Lernenden die Möglichkeiten geben, an eigene – bereits formulierte – Berufswünsche/-vorstellungen anzuknüpfen. Ebenfalls finden die beiden Kategorien Geschlecht und soziale Herkunft Berücksichtigung:
- a.) inwiefern kommt es zur Reproduktion von Geschlechterrollen bzw. findet eine ge- schlechtsneutrale Darstellung in den untersuchten Materialien und Initiativen statt,
- b.) inwiefern kommt es zur Benennung von Qualifikationsanforderungen und kommt es zur Öffnung von Erfahrungsräumen für alle Lernenden?
Die skizzierten Projekte und Praxisbeispiele zeigen das hohe Entwicklungspotenzial sowie die Chancen für den Primarbereich auf. Ebenso welche Möglichkeiten bereits existieren – zum Teil bisher nur für den Sekundarbereich I und II –, um „Grundschulkindern bei der Entwicklung und Ausdifferenzierung eines facettenreichen beruflichen Selbstkonzeptes zu unterstützen“ (Baumgardt, 2021, S. 80).
Fazit und Handlungsempfehlungen
Im abschließenden Kapitel stehen vier wesentliche Aspekte im Fokus: Forschungsmöglichkeiten fördern (siehe 3.1), Berufspraktische Angebote im schulischen Kontext (siehe 3.2), Überarbeitung und Erweiterung von Berufsorientierenden Materialien (siehe 3.3) sowie Fortbildungsangebote für Lehrende(siehe 3.4). Hinsichtlich der Forschungsmöglichkeiten wird klar auf den erheblichen Forschungs- und Entwicklungsbedarf im Grundschulbereich verwiesen, welcher sich an verschiedenen Punkten herauskristallisiert. In Hinblick auf die berufspraktischen Angeboten verweist die Autorin auf die Chance einer systematisch schulischen Berufsorientierung und plädiert für eine frühzeitige Öffnung von Erfahrungsräumen für Lernende. Im dritten Unterkapitel (3.3 Berufsorientierende Materialien überarbeiten und weiterentwickeln) werden Kriterien für gelungene berufsorientierte Lehr-Lernprozesse skizzenhaft benannt. Der Abschluss der Publikation bilden die kurz gehaltenen Fortbildungsangebote für Lehrende.
Diskussion
„Denn (auch) auf die Grundschullehrer*innen kommt es an: Sie sind berufsorientierende Vorbilder, ermöglichen Kindern Selbstwirksamkeitserfahrungen, ermutigen und bestärken sie, erweitern Vorstellungsräume und können so einen bedeutsamen Beitrag für die Entwicklung der beruflichen Aspirationen von Schüler*innen leisten“ (Baumgardt 2021, S. 151).
Baumgardts Publikation stellt gelungen bisherige Forschungsarbeiten sowie Praxismöglichkeiten dar, wobei diese systematisch in Bezug auf die begleitenden Fragestellungen und Kategorien gerahmt werden. So werden wichtige Impulse für die weitere Thematisierung und Bearbeitung der beruflichen Orientierung in der Grundschule benannt. Wie beispielsweise den begründeten Einwand, ob nicht gerade für den Grundschulbereich, beispielsweise unter der Berücksichtigung des Geschlechts, nicht ein erweiterter Arbeitsbegriff nötig wäre (vgl. Baumgardt 2021, S. 44).
Ebenfalls lässt sich auch hier gut die Problematik erkennen, dass die berufliche Orientierung häufig ‚nur‘ als Thema der Sekundarstufe I und darüber hinaus verstanden wird, woraus sich ein deutliches Forschungsdesiderat und damit verbunden ein Entwicklungsbedarf für den Primarbereich ableiten lässt. Die in der Publikation benannten Handlungsempfehlungen sind für eine adäquate und zukunftsfähigen Pädagogik in der Grundschuldidaktik, auch jenseits der Sachunterrichtsdidaktik, unverzichtbar. Wobei die Vorstellung der verschiedenen Studienergebnisse und Beispiele die Lesenden zum Nach- und Weiterdenken anregen können, auch wenn diese teilweise schon älteren Datums sind. Denn von der Thematik geht weiterhin eine hohe Relevanz aus, gerade in Anbetracht aktueller Gender-Debatten – wie das Verbot in Bayern – sowie des bestehenden Gender-Pay-Gap.
Bedauerlich ist, dass die Arbeit in einer binären Geschlechterlogik verbleibt, wobei dies an einigen Stellen von der Autorin kritisch vermerkt sowie auf die Gefahren von Reproduktionen hingewiesen wird. Weiterführende Studien könnten diesen Aspekt sehr gut aufgreifen und auch die (unbezahlte) Care Arbeit stärker in den Blick nehmen. Ebenfalls wäre es interessant, inwiefern die zunehmende Mediatisierung der Lebenswelt auf das Spektrum der „Traumberufe“ eine Auswirkung hat. Hier lässt sich eine Verschiebung zu medialen Berufen, wie etwa Influencerin – was an dieser Stelle als ein Sammelbegriff für YouTuber*innen, TikToker*innen etc. verstanden wird – vermuten (vgl. Baumgardt 2021, S. 12), gerade in Anbetracht der aktuellen Erkenntnisse aus den JIM- und KIM-Studien. Ebenfalls wäre aus medienpädagogischer Perspektive spannend zu erfahren, inwiefern beliebte Serienformate, wie etwa Paw Patrol, und die dort dargestellten Berufe und Praktiken einen Einfluss auf Berufswünsche nehmen. Diesbezüglich verweist die Autorin kontinuierlich auf verschiedene Forschungsdesiderate.
Fazit
Iris Baumgardts Publikation reflektiert umfangreich und punktiert die (gegenwärtige) Situation der Berufsorientierung von Kindern in der Grundschule und nimmt dabei zwei bedeutsame Kategorien – Geschlecht und soziale Herkunft – in den Fokus. Durch die zahlreichen Praxisbeispiele – sowohl für berufspraktische als auch berufsorientierende Angebote – ist das Werk für Lehre, Studium und schulische Praxis zu empfehlen.
Rezension von
Saskia Warburg
Institut für Kindheits- und Schulpädagogik
Professur für Erziehungswissenschaft mdS
Grundschulpädagogik und Didaktik des Sachunterrichts
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Es gibt 2 Rezensionen von Saskia Warburg.
Zitiervorschlag
Saskia Warburg. Rezension vom 07.05.2024 zu:
Iris Baumgardt: Berufliche Orientierung von Kindern im Grundschulalter. Analyse von ausgewählten Unterrichtsmaterialien und Lehrplänen. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2022.
ISBN 978-3-8340-2199-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29448.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
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