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Georg Lauss (Hrsg.): Ideal - Pflicht - Zumutung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 03.08.2022

Cover Georg Lauss (Hrsg.): Ideal - Pflicht - Zumutung ISBN 978-3-8340-2113-7

Georg Lauss (Hrsg.): Ideal - Pflicht - Zumutung. Menschenrechtsbildung aus multidisziplinärer Perspektive. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2021. 172 Seiten. ISBN 978-3-8340-2113-7. D: 19,80 EUR, A: 20,40 EUR.

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Niemals wieder Menschenrechtsverletzungen

Mit den 1945 von der Völkergemeinschaft gegründeten Vereinten Nationen sollte endgültig und global die Welt friedlich werden. Es gilt, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. Mit der am 10. Dezember 1948 proklamierten Menschenrechtsdeklaration wurde betont, dass die „Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten“ und es notwendig sei, „die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen“, weil „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. In der Zeit der „Zeitenwende“, in der es wieder Kriege, Unfrieden, Ego- und Ethnozentrismus, Fundamentalismus, Nationalismus, Populismus und Demokratiefeindlichkeit gibt, kommt es darauf an, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie human, menschenrechtlich gebildet sein wollen. Es sind die vielfältigen, theoretischen und praktischen, populären und wissenschaftlichen Bemühungen, die „globale Ethik“ als Fundament für Humanität zu setzen (siehe z. B. dazu auch: Wolfgang Kaleck, Die konkrete Utopie der Menschenrechte. Ein Blick zurück in die Zukunft, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/29272.php).

Entstehungshintergrund und Herausgeber

An mehreren Universitäten, gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen wird den Fragen nach der politischen Menschenrechtsbildung eine große Aufmerksamkeit gewidmet; so auch an der Pädagogischen Hochschule in Wien. Im Jahr 2019 jährte sich zum 70. Mal, dass im Europarat der Entwurf der „(Europäischen) Menschenrechtskonvention“diskutiert und am 4. November 1950 verabschiedet wurde: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt“. Die daraus abgeleiteten Menschenrechte für Frauen (1979) und Kinder (1989) rekurrieren auf der globalen Ethik, dass Menschenrechte überall und jederzeit gültig sind. Sie durchzusetzen ist didaktische, methodische, interdisziplinäre und Erziehungsaufgabe. Der Erziehungswissenschaftler Georg Lauss gibt den Tagungsband heraus. Menschenrechtsbewusstsein und -bildung müssen erworben werden; in Lern-, Bildungs- und Erziehungsprozessen. Als Grundlage kann dabei die Definition der UNESCO in der „Empfehlung zur internationalen Erziehung“ (1974) gelten: „Der Begriff ‚Erziehung‘ umfasst den Gesamtprozess des sozialen Lebens, innerhalb dessen Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen es lernen, in ihrer eigenen Gesellschaft und im Rahmen der gesamten Weltgemeinschaft ihre persönlichen Fähigkeiten und Einstellungen, ihr Können und Wissen bewusst und bestmöglich zu entfalten“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Bonn 1990, S. 16).

Aufbau und Inhalt

Das Ziel der Tagung war zum einen, die tages- und schulpolitische Relevanz der Menschenrechtsbildung zu thematisieren; zum anderen nach didaktischen und methodischen Vermittlungsansätzen Ausschau zu halten, nach außerschulischen Kooperationspartnern zu suchen und eine Bestandsaufnahme der (österreichischen, europäischen)  Menschenrechtsbildungsprozesse vorzunehmen. Neben der einleitenden Einführung in die Thematik durch den Herausgeber wird der Sammelband gegliedert in „Rechtswissenschaftliche Perspektiven auf Menschenrechtsbildung“, „Politikdidaktische Ansätze der Menschenrechtsbildung“‘, „Didaktik der Menschenrechtsbildung und ihre widersprüchlichen Voraussetzungen“, „Menschenrechtsbildung und Inklusion“ und „Bildungstheoretische Zugänge zur Menschenrechtsbildung“.

Der Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph Michael Lysander Fremuth von der Universität Wien, fragt: „Homosexualität als Herausforderung für die Universalität der Menschenrechte?“. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung konterkariert (scheinbar) den universalen Anspruch der Menschenrechte. Jedoch: Nationale, kulturelle, weltanschauliche Auslegungen und Rechtsrahmen dürfen sich nicht gegen den globalen, anthropologischen und ethischen Menschenrechtsanspruch richten. Für die didaktische Auseinandersetzung gilt: Menschenrechte zwingen keinen Lebensstil auf. Sie fordern vielmehr Akzeptanz und Toleranz gegenüber anderen.

Die Juristin und Richterin Sabine Matejka setzt sich auseinander mit „Politische(n) Interessen vs. Menschenrechte(n): Die Rolle der Gerichtsbarkeit“. An Fallbeispielen zeigt sie auf, wie die Einhaltung und Durchsetzung von Grundrechten rechtlich geklärt werden kann. Es ist der untrennbare und unverzichtbare Zusammenhang von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, der – auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention – als „lebendiges Rechtsinstrument“ zu verstehen ist (vgl. in dem Zusammenhang auch: Corinne Michaela Flick, Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein? 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29300.php).       

Der Geschichts- und Politikdidaktiker Philipp Mittnik thematisiert mit dem Beitrag „Menschenrechte und Kontroversität“ den lehrdidaktischen und methodischen Umgang mit rechtsextremen, rassistischen und demokratiefeindlichen Aussagen von Schülerinnen und Schülern. Er bezieht sich dabei auf die im „Beutelsbacher Konsens“ festgelegten Vorbehalte und das Neutralitätsgebot und diskutiert sie mit einem Fallbeispiel. „Im Wesentlichen geht es darum, den Rechtsstaat als wichtige Säule jeder Demokratie zu verteidigen und zu stärken“.

Der Lehrer und Lehrbeauftragte Christian Filko zeigt am Beispiel der praktischen und theoretischen Menschenrechtsbildung in der Sekundarstufe I den Zusammenhang von Unterrichtsprinzip und Fach auf: „Politische Bildung als Trägerin der Menschenrechtsbildung“. Er entwickelt ein Modell, wie die beiden curricularen und pädagogischen Bereiche interdisziplinär zusammengebracht werden können.

Georg Lauss, Stefan Schmid-Heher und Martina Sturm beantworten die Frage: „Warum man Demokratie nicht aus dem Hut zaubern kann“. Sie stellen praktische Erfahrungen bei der partizipativen Lernvermittlung mit Lehrlingen in der Berufsschule vor. Mit Beispielen und Methoden widerlegen sie die gängigen Auffassungen, dass Jugendliche und Auszubildende politisch und gesellschaftlich uninteressiert und nicht aktiv wären. Es sind Informations-, Kooperations- und curriculare Abstimmungsmöglichkeiten, die im dualen Bildungssystem erforderlich sind.

Die Berufsschullehrerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin Sandra Menner diskutiert fach- und fächerübergreifende Aspekte zur Umsetzung von Menschenrechtsbildung im dualen Ausbildungssystem. Zwar ist das „Unterrichtsprinzip Politische Bildung“ im Lehrplan der Berufsschule verankert, doch in der praktischen, curricularen, interdisziplinären Umsetzung „vor Ort“ mangelt es. Es bedarf intensiverer Aktivitäten in der Lehreraus- und -fortbildung.

Die Sozialwissenschaftlerin Cornelia Krajasits und der Pädagoge Bernhard Köhle vermitteln Erfahrungen mit dem 2019 etablierten ERASMUS- und Jean-Monnet-Projekt „Vermittlung Europäischer Grundwerte und Stärkung der EU-Citizenship“. Ziel ist es, Schüler*innen zwischen 10 und 18 Jahren ein Bewusstsein von europäischer Identität zu vermitteln und erfahrbar zu machen: „Es braucht mehr als nur theoretisches Fachwissen, es braucht auch praktische Anwendungskompetenzen, die eigenständiges Denken, kompetentes Analysieren und kritisches Hinterfragen sowie fundiertes Urteilen und Entscheiden befördern“.

Der wissenschaftliche Mitarbeiter bei der Wiener „Kompetenzstelle für Mehrsprachigkeit, Migration und Menschenrechtsbildung“, Manfred Wiedner, setzt sich auseinander mit „Herausforderungen für die von den Vereinten Nationen propagierte Menschenrechtsbildung im Rahmen institutioneller Grundbildung“. Es sind die differenzierten, didaktischen und anthropologischen Anforderungen, Bildung über, durch und für die Menschenrechte zu vermitteln und dabei die Fakten von „technologischer Unbeherrschbarkeit“ und „prinzipieller Unabschließbarkeit“ der Menschenrechtsbildung zu berücksichtigen.

Der Soziologe Christian W. Oswald und die Sozialarbeiterin Josefine Scherling, beide an der FH Kärnten tätig, vermitteln mit dem Beitrag „UN-Kinderrechtskonvention – ein vieldeutiges Fundament gegenwärtiger Kinderrechtsbildung“ einen Überblick auf Theorie und Praxis dieses Menschenrechts. Kinderrechtsbildung ist Teil der Menschenrechtsbildung. Die nationalen, internationalen, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen sollen „die …Kluft zwischen Rechtsideal und Rechtswirklichkeit schließen“:

Die Bildungswissenschaftler Bernhard Schimek und Claudia Kaluza nehmen mit dem Beitrag „Inklusion aus menschenrechtlicher Perspektive im Kontext von Schulentwicklung“ die Herausforderungen auf, wie sie mit den UN-Menschenrechtsrahmen grundgelegt sind. Sie entwickeln Prozessschritte für eine wertbasierte und evidenzinformierte inklusive Schulentwicklung, und zwar sowohl als orts- als auch systembestimmte Anforderungen.

Die Pädagoginnen Irmgard Bernhard und Claudia Ovrutcki nehmen den Inklusionsauftrag im Rahmen der Menschenrechtsbildung auf. Es sind die unteilbaren, allgemeingültigen und nicht differenzierbaren Werte – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – die für alle Menschen gelten. „Inklusion umfasst das Wissen über die Menschenrechte sowie Konzepte ihrer Umsetzung“.

Der Bildungswissenschaftler Heribert Schopf titelt seinen Beitrag: „Das arme Kind“. Er verweist auf das allgemeine Recht auf Bildung und reflektiert mit historischen und literarischen Beispielen den Sinn und Zweck der (schulischen) Bildung. Es sind Tendenzen der „Entpädagogisierung der Schule“ – durch mediale, populäre und populistische Einflüsse – und der „Pädagogisierung der Gesellschaft“, die das Paradox von Gleichheitsanspruch und Ungleichheitswirklichkeit bildet und sich im Schulsystem spiegelt.

Der Bildungswissenschaftler und Menschenrechtspädagoge Oskar Dangl plädiert für „Menschenrechtspädagogik“ als bildungstheoretische Herausforderung. Mit dem skeptisch-transzendentalkritischen Bildungskonzept zeigt er Strukturen und Wege auf, wie es gelingen kann, die Herausforderungen der Menschenrechte – Politik und Recht / Moral und Ethik – in Einklang zu bringen.

Der Sammelband wird mit dem Beitrag von Armin Bernhard: „Menschenrecht auf Bildung oder Biopiraterie? – Über die Verletzung des grundlegenden Rechts auf Bildung“, beendet. Es ist die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die die lokale und globale, neoliberale, ungerechte Bildungspolitik bestimmt und zu Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit führt.

Diskussion

Politische Bildung umfasst den ganzen Menschen. Der zôon politikon im Sinne der aristotelischen Philosophie ist ein Lebewesen, das sich nur dann selbst finden und entwickeln kann, wenn es sich als verantwortungsbewusstes Kollektiv versteht. Menschenrechte, wie sie in den gemeinsam abgestimmten und vereinbarten menschlichen Werten zum Ausdruck kommen, fallen weder vom Himmel, noch sind sie automatisch in die Gene gelegt; sie müssen in Bildungs- und Erziehungsprozessen mühsam und ständig erworben werden. Curricular und didaktisch betrachtet bedeutet dies, dass Menschenrechtsbildung in der Schule Unterrichtsfach und -prinzip ist.

Der nationale und internationale, wissenschaftliche Diskurs um die Frage, ob Menschenrechtserziehung in allgemeinbildenden und berufsbildenden, demokratischen Schulen Bildungsideal und -ziel, oder eine Sonderform des Lernens sein soll, ist längst beantwortet: „Kinder haben ein Recht auf Menschenrechtsbildung“. Um dieses Grund- und fundamentale Recht umsetzen zu können, bedarf es differenzierter, curricularer, didaktischer und methodischer Kompetenzen, die professionell erworben und pädagogisch vermittelt werden müssen (siehe dazu auch: Rolf-Torsten Kramer / Hilke Pallesen, Hrsg., Lehrerhabitus. Theoretische und empirische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26159.php).

Fazit

Die Wiener Initiative, mit den Stichworten – „Ideal, Pflicht, Zumutung“ – über (schulische) Menschenrechtsbildung nachzudenken, ist ein Baustein zur Errichtung des monumentalen, globalen Gebäudes MENSCHENRECHT und sollte in der wissenschaftlichen Diskussion beachtet werden!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1577 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 03.08.2022 zu: Georg Lauss (Hrsg.): Ideal - Pflicht - Zumutung. Menschenrechtsbildung aus multidisziplinärer Perspektive. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2021. ISBN 978-3-8340-2113-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29456.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.


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