Michael Groß: Spiritualität der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Peter Schröder, 07.12.2022

Michael Groß: Spiritualität der Sozialen Arbeit. Resonanz bei Hartmut Rosa und Sein bei Meister Eckhart als Verbundensein mit dem Anderen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2022. 316 Seiten. ISBN 978-3-8487-8897-2. 64,00 EUR.
Thema
Die Dissertation von Michael Groß widmet sich der Frage, wie das Verhältnis von Spiritualität und Sozialer Arbeit beschrieben werden kann und welche Form von Spiritualität für moderne Menschen, die in der sozialen Arbeit (besonders in der Caritas) beschäftigt sind, annehmbar und hilfreich ist. Dabei sieht der Autor ab von den tradierten und institutionalisierten Formen von Spiritualität und kirchlichen Sinngebungskonzepten und entfaltet ein Konzept von „impliziter Spiritualität“. Als Gewährsleute eines solchen Konzepts benennt er den mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart und das „Resonanz“-Konzept des Soziologen Hartmut Rosa. Dabei steht Rosa für einen gegenwartskompatiblen Spiritualitätsbegriff und Meister Eckhart für die Verbindung mit der Tradition. Die Gegenwart ist allerdings durch stark individualisierte Spiritualitätsformen geprägt, die von Soziologen auch als „Patchworkreligiosität“ beschrieben wird. Eine solche Individualisierung verliert einen wesentlichen Aspekt, den traditionelle Formen von Spiritualität eher sichergestellt haben: den Aspekt des gemeinschaftlich Geglaubten und Gelebten. Groß geht auch dieser Frage nach, was das Verbindende im von ihm vorgestellten Konzept ist.
Der Autor
Michael Groß ist Theologe und seit über 30 Jahren in sozialen Organisationen tätig.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: Ein erster Teil ist überschrieben mit: „Der Mensch auf der Suche nach gelingendem Leben und Resonanz als Beschreibung einer impliziten Spiritualität“. Dieser Teil ist in fünf Abschnitte und weitere Unterabschnitt gegliedert. Der erste heißt: „Der Mensch auf der Suche nach Sinn“ und fragt nach der gegenwärtigen Bedeutung von „Spiritualität“. Dazu nimmt er Bezug auf die „Würzburger Studie“ von Michael Ebertz und Lucia Segler, die den Titel „Spiritualitäten als Ressourcen für eine dienende Kirche“ trägt. Der Plural im Titel weist auf die Diversität spiritueller Orientierungen hin. Groß schreibt: „Zusammenfassend kann man aus der Studie ableiten, dass an Spiritualität interessierte Menschen der Moderne wie Caritas-Mitarbeitende sich gegen einen geistigen Herrschaftsanspruch wehren, auf ihr religiöses Selbstbestimmungsrecht pochen, dieses auch anderen zugestehen und daraus für sich die Forderung einer religiösen Inklusion aufbauen, der sie sich auch selber öffnen.“ (S. 31) Etwas die unterschiedlichen Glaubenskonzepte Verbindendes findet Groß in der Idee einer „impliziten Spiritualität“ und nennt als theologischen Gewährsmann dafür unter anderem Karl Rahner, nach dem die grundsätzliche Öffnung auf Gott hin jedem Menschen zueigen ist, ganz gleich, ob es ihm bewusst ist oder nicht. (Vgl. den Begriff des „anonymen Christentums“ bei Rahner.) Die Suche nach einem gelingenden Leben bildet die Kontaktfläche zur soziologischen Hartmut Rosas, der die Qualität der Weltbeziehung moderner Menschen reflektiert und in einer „Resonanzbeziehung“ die Möglichkeit einer Reformulierung traditioneller Religiosität sieht: „‘Gott ist dann im Grunde die Vorstellung einer antwortenden Welt‘ und das Wesen unserer Weltbeziehung mit Karl Rahner eine Resonanz- und keine Entfremdungsbeziehung.“ S. 82) Der vierte Abschnitt reflektiert die „Wirkungen der Moderne auf die Resonanzsuche des Menschen“, um dann in einem fünften die Kritik der Resonanztheorie zu thematisieren und schließlich in einem sechsten die „Zusammenfassung: Aspekte von Rosas Resonanztheorie als soziologische Grundlegung eines in der Moderne akzeptablen und für die Theologie annehmbaren Begriffs impliziter Spiritualität.“
Der zweite Teil des Buches ist überschrieben mit: „Meister Eckharts Verständnis der Wirklichkeit als prozessuale Beziehung und Sinngrund des Menschen“ und ist in sechs Unterabschnitte gegliedert. Groß beginnt mit biographischen Notizen zu Meister Eckhart und reflektiert dessen Bedeutung für die Kirche und für Menschen in der Gegenwart. Er zeichnet im Folgendem Grundzüge seines theologischen Denkens und seiner Ontologie nach. „Was Gott gibt, das ist sein Sein“, schreibt Meister Eckhart (S. 167) und Dietmar Mieth schreibt dazu: „Das wahre Sein, auch das des Menschen, das nur ein in Gottsein sein kann, ist eins mit der Wirklichkeit als selbsterzeugte Aktivität Gottes.“ (ebd.) Dieser Gedanke ist für die Moderne anschlussfähiger als eine Auffassung von Religion im Sinne des Einhaltens kirchlich definierter Regeln: „Eckhart sieht Religion nicht als System von Regeleinhaltung. Ganz im Gegenteil sieht er im bewussten Einhalten von religiösen Regeln eins der größten Probleme des Menschen.“ (S. 218) Und abschließend thematisiert Groß den Dialog zwischen der Theologie Meister Eckharts mit dem Resonanzkonzept Hartmut Rosas.
Im dritten Teil mit der Überschrift: „Zum Verhältnis von impliziter Spiritualität und Sozialer Arbeit“ reflektiert der Autor die Kompatibilität des theologischen Konzepts von Meister Eckhart sowie des soziologischen von Hartmut Rosa mit der Praxis sozialen Handelns. Der dritte Teil ist in fünf Unterabschnitte gegliedert, die sich mit den Begriffen „soziales Handeln“, „soziale Arbeit“ und erneut „Spiritualität“ befassen. Soziales Handeln ist verbunden mit einer „Tugendethik“, soziale Arbeit mit einer grundsätzlichen Ressourcenorientierung. Der abschließende Abschnitt ist überschrieben mit: „Zusammenfassende Bestimmung des Verhältnisses von impliziter Spiritualität und Sozialer Arbeit“ und zieht ein Fazit des vorangegangenen Dialogs zwischen der Theologie Eckharts und der soziologischen Philosophie Rosas. „Implizite Spiritualität“ wird von Groß definiert als „Leben in engagierter Verbundenheit mit den anderen“ (S. 298), was die Anschlussfähigkeit für die Soziale Arbeit nahelegt. „Im ‚sich berühren-Lassen‘ durch den anderen Menschen erfährt der Mensch sich im besten Fall als offen für und daher verletzlich durch den Anderen und das Andere seiner selbst. Rosa nennt das Resonanzoffenheit und Eckhart Überlassenheit.“ (S. 301) Groß‘ Kurzformel lautet: „Gute soziale Arbeit ist Ausdruck impliziter Spiritualität.“ (S. 305)
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis schließt das Buch ab, dem ein Vorwort des Autors und eines der Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes vorangeht.
Diskussion
Spiritualität oder gar christliche Religiosität bei Menschen festzustellen, für die weder Spiritualität noch Religiosität ein bewusstes Thema ist, ist einerseits ein legitimes Anliegen der Theologie, Religionsphilosophie, Anthropologie und möglicherweise auch der Soziologie, und andererseits wird man den Eindruck subtiler Unterstellungen nicht los. Anthropologisch kann man behaupten, Spiritualität sei mit dem Menschsein untrennbar verbunden, wenn man Spiritualität als Verbundenheit mit dem und den Anderen und als Sich-betreffen-Lassen vom Anderen versteht. Nachdem auf diese Weise der Begriff sehr weit gefasst ist, kann er nun vielen spirituellen Konzepten Heimat bieten. Andererseits sind weit gefasste Begriffe logischerweise unpräzise und bieten weite Einflugschneisen für Vereinnahmungen. Eine solche Vereinnahmung könnte die Adoption des Begriffes „implizite Spiritualität“ durch die christliche Theologie sein. Das Konzept Karl Rahners eines „anonymen Christentums“ ist aus eben diesen Gründen kritisiert worden. Auf der anderen Seite kann man statt von „Vereinnahmung“ auch von „Anschlussfähigkeit“ sprechen. Diese kommunikative Chance hat schon Paulus bei seiner Rede auf dem Athener Areopag genutzt: „Das, was ihr da verehrt, ohne es zu kennen, das verkündige ich euch.“ (Apostelgeschichte 17)
Welches Konzept von Spiritualität ist anschlussfähig an gegenwärtige Lebens- und Glaubenswelten und gibt einen Wertekompass für Menschen in sozialen Arbeitsfeldern ab? Und wenn es ein solches Konzept gibt, ist das dann noch verträglich mit der tradierten und gültigen kirchlichen Lehre? Es ist kein Zufall, dass schon gegen Meister Eckhart ein Häresieprozess vor der Inquisition geführt wurde, weil seine Lehre in zentralen Punkten gegen die Lehre der Amtskirche verstieß. Wer den Bogen der Anschlussfähigkeit weit ausspannt, mach sich verdächtig. Dass die Lehre von Meister Eckhart in der Folgezeit gleichwohl hochwirksam wurde, vor allem auch in kirchlichen „Laien“-kreisen, ist ein Hinweis darauf, dass es neben der (amts-)theologischen auch eine spirituelle Akzeptanz gibt.
Wenn man die Theologie Meister Eckharts in Beziehung setzt zu einer Beschreibung moderner Spiritualität (oder moderner „Weltbeziehung“), wie sie Hartmut Rosa beschreibt, erhöht sich die Chance auf Zustimmung und Einstimmung. Auf der anderen Seite besteht das Risiko, dass einiges an kritischem Potenzial verlorengeht, das in der theologischen Tradition aufgehoben ist: Wenn man Gott vor allem (oder gar ausschließlich) in sich selbst, in der eigenen Seele findet, verliert man das „extra nos“, das sich zum gläubigen Menschen nicht nur affirmativ, sondern auch konfrontierend verhält. Rosa versteht sein Konzept als Fortführung der Kritischen Theorie, was den kritischen Impuls nicht nur im Namen trägt. Und ohne eine besondere Expertise hinsichtlich der Theologie Meister Eckharts zu haben, vermute ich doch, dass auch sie nicht im Affirmativen stecken bleibt. Diese Kritikaspekt wünsche ich mir auch in einer modernen Spiritualität deutlich formuliert, um das Risiko zu vermeiden, dass sie zu einer Seelenwellness verkommt.
Fazit
Das Buch von Groß eröffnet eine spannende Debatte, von der ich hoffe, dass sie breit rezipiert wird: in theologischen Debatten, in den Leitbildprozessen sozialer Organisationen, in den Fortbildungen für Mitarbeitende in der Sozialen Arbeit und an manchen anderen Orten.
Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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