Wiebke Dierkes: Solidarisierungsprozesse in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Barbara Wedler, 22.04.2025

Wiebke Dierkes: Solidarisierungsprozesse in der Sozialen Arbeit. Ermöglichungs- und Verhinderungsbedingungen : eine Grounded Theory der "Stimmigen Verbundenheit".
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2022.
331 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2609-7.
D: 44,00 EUR,
A: 45,30 EUR.
Reihe: Qualitative Fall- und Prozessanalysen - Band 25.
Autorin
Die Autorin ist Professorin für Theorien und Geschichte der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain. Neben den professoralen Aufgaben ist sie Teil des Bundesforschungsprojektes “Soziale Arbeit als koloniales Wissensarchiv? Ein Geschichtslabor zum (post-) kolonialen Erbe Sozialer Arbeit als Modell historiographischer Lehrforschung“.
Entstehungshintergrund
Die vorgestellte Studie ist gleichzeitig die Dissertation der Autorin.
Aufbau
Nach einer Danksagung und Einleitung widmet sich die Autorin in zehn Schwerpunkten der vorgestellten Studie. Die wissenschaftliche Abhandlung endet mit dem Verzeichnis der verwendeten Literatur.
Inhalt
In der vorausgehenden Danksagung gehen die Dankesworte an alle bedeutenden Unterstützerinnen und Unterstützer während des Forschungsprozesses.
Die Einleitung (1. Kapitel) steckt mit einem Zitat von E. v. Redeker den Rahmen des Forschungsschwerpunktes ab. Ausgangspunkt der Studie sind die im SGB II verankerten „Maßnahmen zur Aktivierung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt“ (S. 15). Mit dem Blick sowohl auf die Erwerbslosen als auch auf die im Feld agierenden Fachkräfte sollen der Nutzen und Wirkungen der Programme des aktivierenden Sozialstaates allumfassend reflektiert werden. Ebenso werden Verhinderungs- und Gelingensbedingungen für Solidarisierungsprozesse zwischen Erwerbslosen und Fachkräften der Sozialen Arbeit analysiert.
Im 2. Kapitel folgt ein Überblick über Soziale Arbeit und Erwerbslosigkeit: eine historiographische Annäherung in vier Blicken. In einer historisch angelegten Reflexion werden die Entwicklungen der Sozialen Arbeit, deren Positionierung, seit der Weimarer Republik nachgezeichnet. Entsprechend dem Anliegen dieser Studie werden insbesondere die Perspektiven von Erwerbslosen in den Focus der Betrachtungen gerückt.
Soziale Arbeit im aktivierenden Sozialstaat stellt den Schwerpunkt im Kapitel 3 dar. Die inneliegenden Veränderungen des Transformationsprozesses vom Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden Sozialstaat werden der fachlichen Kritik unterzogen, wobei sich Dierkes auf die Figur der neo-sozialen Vergesellschaftung (Lesenich) sowie die Subjektivierungsweisen im aktivierenden Staat (Bröckling) bezieht. Inwieweit sich die politisch-ökonomischen sowie damit verbindenden gesellschaftlich-normativen Paradigmenwechsel in der Gesetzgebung niederschlagen (SGB II), schlüsselt die Autorin pointiert auf um daran anknüpfend die Soziale Arbeit unter den benannten Bedingungen zu diskutieren. Begriffe wie Normierung, Disziplinierung und auch Autonomie, Freiheit sowie „gelingendes Leben“ werden aufgegriffen und unter den Konditionen des „neo-sozialen Post-Wohlfahrtstaates kritisch beleuchtet“ (S. 17).
Im Kapitel 4 erfolgt eine intensive theoretische Auseinandersetzung mit der [Die] Perspektive der Nutzer*innen der Sozialen Arbeit. Basierend auf der Theorie von „sozialer Arbeit als sozialer Dienstleistung“ (Schaarschuch) erfolgt die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nutzer*innenbegriff. Der Differenzierung zwischen Nutzen und Nutzung folgen die Vorstellung und Diskussion weiterer Erkenntnisse der Nutzer*innenforschung. Insgesamt arbeitet die Verfasserin sowohl Nutzungsstrategien sowie die „Deutung spezifischer Nutzungsweisen von Sozialer Arbeit als Aneignungsweise eines transformativen Bildungsprozesses“ (S. 104) heraus.
Auf der Grundlage von Kunstreich's Überlegungen zur solidarischen Professionalität, der radikalen Dialogizität nach Gil sowie der kritischen Pädagogik nach Freire setzt sich die Autorin im Kapitel 5 mit Soziale[r] Arbeit als (Ausgangs-)Ort „Transversaler Sozialität“ und Ermöglichungsraum eines „gemeinsamen Dritten“ auseinander.
Im Kapitel 6 heißt es Innehalten: vorläufige Foki, die sich aus theoretischer Sensibilisierung und einem ersten Blick auf die Daten ergeben. Die theoretischen Erkenntnisse werden mit Blick auf das Forschungsinteresse auf drei Foki verdichtet: Konflikt und Konflikthaftigkeit; Solidarisierung und Relationalität sowie Bildung.
Die Studie: Datenerhebung und Reflexionen über die Bewegung,im Feld' (Kapitel 7) folgt dem Prinzip der kontroversen Multiperspektivität und orientiert sich am „Tranformativen Paradigm“ von Mertens. Die Datenerhebung erfolgt über das problemzentrierte Interview (Witzel). Dem Zusammentreffen von Wissenschaft und „armen“ Menschen widmet sich die Forscherin einem Unterkapitel und refelktiert anschließend den Feldzugang und den Forschungsprozess. Dierkes lässt die Leser*innen detailliert am Forschungsprozess teilhaben und reflektiert die Kommunikation mit den Interviewten. Zu jeder Form der Kontakte legt sie Memos an, aus den weitere Erkenntnisse gezogen werden. Auch somatische Reaktionen begleitend zu den Interaktionsprozessen werden durch die Forscherin analysiert und interpretiert. Dierkes beschreibt den qualitativen Forschungsprozess als interaktiv konstruktives Handeln und leitet daraus ihre methodologischen Überlegungen und Vorgehensweisen ab. Angesichts der entstehenden Affekte innerhalb der Interpretation der interaktiven Gesprächssituation wird die Auswertung in Interpretationsgruppen genutzt.
Die Datenauswertung: Methodologie und methodisches Vorgehen: (Reflexive) Grounded Theory steht im Focus von Kapitel 8. Die Ergebnisse und Erkenntnisse des Prozesses des axialen Kodierens und der weiteren Gegenüberstellung der Daten in den Kodierparadigmen zweiter Ordnung werden in Kapitel 9 dargestellt. Zunächst werden Handlungstrategien herausgearbeitet und systematisiert. Hervorzuheben sind die namentlichen Nennungen der interviewten Erwerbslosen sowie Fachkräfte. Neben den herauskristallisierten Handlungsstrategien stellt Dierkes die Konsequenzen vor, die auf das Alltagserleben der Erwerbslosen sowie auf das Selbstverständnis ausüben, mit denen die Fachkräfte ihrer Arbeit nachgehen. Die entscheidenden Themenbereiche sind: Alltagserleben und Erfahrungen in den Maßnahmen; Beziehungsgestaltung; (De)Thematisierung von Armut; Solidarisierung und Bildung von Sozialitäten als Arbeit am Sozialen.
Im 10. Kapitel erfolgt die Verschränkung der Erkenntnisse aus der Analyse der Konsequenzen mit den zusammenfassenden Foki der theoretischen Annäherungen: eine Darstellung in Spannungsfeldern. Insbesondere im Sapnnungsfeld I, den Relationalitäten ist die Erkenntnis, „dass eine nationalistische Ummantelung von Solidarisierungsprozessen virulent ist und rassistische Ausschlüsse systematisch reproduziert werden“ (S. 304). Besonders beachtenswert. Im Spannungsfeld II: Bildung zeigt sich insbesondere die spezifische Chance der Räume der Peers zum Überprüfen stigmatisierender und diskriminierender Fremdzuschreibungen. Im Spannungsfeld III werden u.a. die die Deutungs- und Sprechmacht hervorgehoben. Die ,Stimmige Verbundenheit': eine Grounded heory der Ermöglichung von Solidarisierungsprozessen im Kontext von Sozialer Arbeit fasst die Forschungsarbeit im Kapitel 11 zusammen. Aus den Studienergebnissen entwickelt die Forscherin eine „Theorie der stimmigen Verbundenheit“, die auf die Dominanz und Wirkmächtigkeit der Sozialen Arbeit mit Ermöglichungsbedingungen von Solidarisierungsprozessen antwortet. Mit einem Zitat von E. v. Redecker schließt sich der Rahmen dieser wissenschaftlichen Abhandlung.
Diskussion
Soziale Arbeit im Rahmen des SGB II ist eine wichtige Thematik, die sich zwischen Armut und gesichertem Arbeitsplatz bewegt. Mit absoluter Methodensicherheit und dem Gespür für „Feinheiten“ (körperliche Resonanzen auf Gespräche mit Studienteilnehmer*innen) entwickelte die Autorin ein Studiendesigne, dass die qualitative Forschung selbst bereichert. Der Forschungsprozess wird dank Tabellen sowie Abbildungen leicht nachvollziehbar. Die Autorin focussiert ihre Forschungsarbeit auf Teilnehmende an Maßnahmen im Rahmen des § 15/16 SGB II sowie professionelle Fachkräfte in diesem Arbeitsfeld. Gelingens- und Verhinderungsbedingungen von Solidarisierungsprozesses zwischen den Zielgruppen werden im Forschungsprozess deutlich herausgearbeitet. In diesem Prozess der inhaltlichen Auseinandersetzung wird das Erleben der Nutzer*innen deutlich: Kontrolle, Zwang etc. Deutlich werden auch die Handlungsstrategien und damit auch die Bedeutung von Bildung. Weil sich das Forschungsinteresse auch auf die Professionellen und deren Verhalten richtete, ergeben sich daraus Konsequenzen für die Initiierung von Solidarisierungsprozessen. Aus den Forschungsergebnissen ableitend, entwickelt die Verfasserin die „Grounded Theory der Stimmigen Verbundenheit“ und bereichert nicht nur die Wissenschaft, vor allem gibt sie mit ihren Erkenntnissen einen indirekten Auftrag an die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften.
Fazit
In diesem Buch wird analysiert und zusammengefasst, was sich in der Praxis seit Jahren insbesondere im Umgang mit Erwerbslosen zeigt und vor allem, wie Soziale Arbeit in diesem Rahmen Solidarisierung ermöglicht bzw. sogar verhindert. Die Studienergebnisse sind nicht nur Voraussetzung für den professionstheoretischen Diskurs, sondern ebenfalls von gesamtgesellschaftlichem Wert. Der Blick auf Machtverhältnisse, auf die Übernahme neoliberalen Denkens auch durch Soziale Arbeit sollte wachrütteln und zur tiefgehenden, kritischen Auseinandersetzung mit der Profession führen. Deshalb muss diese Studie, dieses Buch in das Studium der Sozialen Arbeit, und vor allem in Qualifizierungen im Rahmen des SGB II eingebaut werden.
Rezension von
Prof. Dr. phil. Barbara Wedler
Professur für klinische Sozialarbeit und Gesundheitswissenschaften
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