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Melanie Slavici: Barrierefreiheit in der Wohnungspolitik

Rezensiert von Prof. Dr. Karl-Heinz Braun, 22.05.2023

Cover Melanie Slavici: Barrierefreiheit in der Wohnungspolitik ISBN 978-3-8376-6048-7

Melanie Slavici: Barrierefreiheit in der Wohnungspolitik. Länderpolitik im Vergleich. transcript (Bielefeld) 2022. 327 Seiten. ISBN 978-3-8376-6048-7. D: 39,00 EUR, A: 39,00 EUR, CH: 47,60 sFr.
Reihe: Interdisziplinäre Wohnungsforschung - Band 4.

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Zur Verortung des Themas

Wohnraumregime als integrative Perspektive der interdisziplinären Wohnforschung

Das hier zu besprechende Buch ist in der Schriftenreihe „Interdisziplinäre Wohnforschung“ erschienen. Deren allgemeines Anliegen besteht darin, Beiträge zu einer Analyse und sozial verantwortlichen Gestaltung dessen zu leisten, was die Mitherausgeberinnen der Reihe, Schönig/Vollmer (2020, S. 15) unter dem Begriff des Wohnraumregimes (in Anlehnung an „Wohlfahrtsregime“) subsumiert haben, welches besonders vier Dimensionen umfasst, die in starken Wechselbeziehungen stehen: „Regulierung und Steuerung der Wohnraumversorgung wurden vermarktlicht und erfolgen unter den Bedingungen verstärkter lokaler beziehungsweise regionaler Verantwortung einerseits und globaler Marktdynamiken andererseits. Mit der Pluralisierung und Differenzierung von Lebensformen und -stilen geht die Vervielfältigung von Wohnformen und -praktiken einher. Räumliche Zentralisierungs- und Peripherisierungs- sowie Segregationstendenzen spiegeln die Trends gesellschaftlicher Polarisierung, während sich zugleich die (städte-)baulichen Formen des Wohnens diversifizieren. All diese Entwicklungen haben die Konflikthaftigkeit von Aushandlungsprozessen um die Wohnraumversorgung deutlich ansteigen lassen, ebenso wie die Zahl der an Produktion und Governance beteiligten Akteure. (…) Dieses räumlich und zeitlich spezifische Arrangement von Institutionen und Regelungen, sozialen und kulturellen Normen sowie baulich-räumlicher Materialität fassen wir unter dem Begriff ‚Wohnraumregime‘“ (vgl. zu den Hintergrundannahmen dieses Konzeptes Schipper/​Vollmer 2020). Insofern kann die vorliegende Studie als exemplarischer Beitrag zu dieser Forschungsperspektive verstanden werden, wobei ein gewisser Akzent auf der vergleichenden Regionalforschung und der baulich-räumlichen Gestaltung liegt.

Zur Autorin

Frau Dr. Melanie Slavici (geb. 1991) war von 2016–2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (IWAK) der Goethe-Universität Frankfurt (Main) und ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Nachhaltige Entwicklung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um ihre Dissertationsschrift.

Aufbau

Nach der Einleitung (Kap.1) erfolgt zunächst eine begriffliche Klärung, was unter Wohnungspolitik zu verstehen ist und welche Problemstellungen barrierefreie bzw. -reduzierte Wohnräume beinhalten (Kap.2). Dem schließt sich die Skizzierung des Forschungsstandes zur Politikfeldanalyse der Bundesländer sowie zur marginalen Thematisierung der Wohnungspolitik innerhalb der Politikwissenschaft an (Kap.3). Das 4.Kap. erläutert den spezifischen politikwissenschaftlichen Ansatz. Dem schließt sich eine Begründung des methodischen Vorgehens bei den empirischen Untersuchungen an (Kap.5). Den eigentlichen Kern der Arbeit bildet dann in Kap.6 die Typologie der politischen Maßnahmen zu einer dementsprechenden Wohnraumgestaltung in allen Bundesländern und in Kap.7 die exemplarischen Analysen der diesbezüglichen Policys in Sachsen-Anhalt und Hessen. Das abschließende Kap.8 enthält einige Schlussfolgerungen und einen Ausblick. Es handelt sich primär um eine politikwissenschaftliche Studie, die aber auch Brücken bauen will zu soziologischen, gerontologischen und sozialpädagogischen Arbeiten.

Inhalt

Die wesentlichen Befunde lassen sich so zusammenfassen:

Die Gegenstandsbestimmungen des politischen Handlungsfeldes barrierefreier bzw.-reduzierter Wohnraum

Hier sind zunächst zwei Regularien zu erwähnen:

  1. Die UN-Behindertenkonvention, die sich an den Prinzipien „Autonomie“ und „Inklusion“ ausrichtet und von Deutschland 2009 ratifiziert wurde und damit den Anspruch auf eine gleichberechtigte Lebensführung (Stichworte: Anerkennen, Genießen, Ausüben der Menschenrechte) verbindlich normierte. Das wurde durch das Behindertengleichstellungsgesetz nochmals konkretisiert, speziell mit Blick auf die Barrierefreiheit: Es sollen alle baulichen und sonstigen Anlagen und Verkehrsmittel für die behinderten Menschen in der allgemein üblichen Weise, also ohne besondere Erschwernisse und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sein (S. 32f).
  2. Die DIN-Norm 18040–2 konkretisiert die bautechnischen Schlussfolgerungen aus dieser juristischen Normierung bezogen auf äußere und innere Erschließung von Grundstücken bzw. Gebäuden (Flure außerhalb und innerhalt der Wohnung bzw. der Wohn- und Schlafräume, Küchen, Sanitärräume und Freisitze) und die dazu notwendigen Bedienungselemente, Kommunikationsanlagen und Ausstattungselemente bezogen auf das Warnen, Orientieren, Informieren und Leiten. Sie sollen angemessen auf die unterschiedlichsten körperlichen, kognitiven oder motorischen Einschränkungen eingehen (z.B. bei Seh- und Hörbehinderungen, von groß- und kleinwüchsigen Personen, älteren Menschen; S. 33f). – Betrachtet man beide Normierungen näher, so empfiehlt sich allerdings eine wichtige systematische Differenzierung: Nämlich die zwischen körperlichen Schädigungen (dies ist die zentrale Einschränkung der älteren Menschen – und spielt in der sachsen-anhaltinischen Politik die zentrale Rolle) und psychosozialen Behinderungen im Sinne psychodynamischer Entwicklungsverzögerungen und -einschränkungen (diese finden wir in allen Altersgruppen).

Die Schlüsseldimensionen der politikwissenschaftlichen Analyse

Der von der Autorin favorisierte Ansatz der eigendynamischen politischen Prozesse (AEP) stellt fünf Aspekte in den Vordergrund (Kap.4):

  1. Die Akteure im jeweiligen Politikfeld; dies können Einzelpersonen sein (z.B. Behindertenbeauftragte) oder zivilgesellschaftliche Vereinigungen (z.B. Behindertenverbände oder Vertretungen von Senior_innen) oder auch Parteien (innerhalb und außerhalb der Parlamente). Deren Durchsetzungsfähigkeit hängt ab von ihrer Organisationsmacht oder ihrer strukturellen oder gesellschaftlichen oder institutionellen Macht, die sie im Rahmen pluralistischer oder korporatistischer oder lobbyistischer (sowohl In- wie auch Outside-Lobbyismus) Interessenartikulation und -durchsetzung zur Geltung bringen.
  2. Die Institutionen, in deren Rahmen die Akteure handeln bzw. auf die ihre Handlungen bezogen sind. In dieser Studie stehen dabei die Parlamente und die Ministerien im Vordergrund. – Hier gibt es dann Überschneidungen mit dem Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus (AZI), weil nämlich die Institutionen immer auch einflussreiche Akteure sind (man denke nur an die Ministerialverwaltungen).
  3. Die situativen Momente, die für die Artikulation und Durchsetzung bestimmter politischer Forderungen günstig bzw. ungünstig sind, die also Möglichkeitsfelder öffnen oder verschließen (so hat Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention die diesbezüglichen Debatten erheblich gefördert genau wie der demografische Wandel – letzteres gilt besonders für Sachsen-Anhalt)
  4. Die Problemstrukturen, die den Ausgangs- und Endpunkt politischer Aktivitäten bilden. Sind diese einfach, dann kann schnell ein Konsens erreicht werden über deren Vorhandensein wie auch deren Lösung. Sind diese komplex, dann ist schon die Problemdefinition Moment der politischen Auseinandersetzung (z.B. welche Wohnungen sind für welche Menschen mit welchen Problemen tatsächlich menschenwürdig im Sinne der Menschenrechte und wie kann ein hinreichendes Angebot gesichert werden angesichts der Verschärfungen der Wohnungskrise).
  5. Die Instrumente, mit denen die Probleme gelöst werden können oder ggf. dazu nicht geeignet sind. Im letzterem Fall werden dann Instrumenten-Alternativen relevant; diese können im gegebenen Rahmen verbleiben (z.B. rein marktkonform sein) oder sie können diesen ergänzen (z.B. durch sozialstaatliche Massnahmen) oder in mehr oder weniger radikaler Weise ersetzen (wenn z.B. die Wohnungsversorgung Teil der staatlichen Infrastruktur wird).

Typologie der politischen Maßnahmen zur Implementierung barrierefreier bzw. reduzierter Lebens- und Wohnräume

Die Darstellung der relevanten Maßnahmen erfolgt in der vergleichenden Durcharbeitung der Verordnungen und Praktiken der 16 Bundesländer. Dabei werden drei Maßnahmekomplexe unterschieden:

  1. Zunächst sind auf der regulativen Ebene die Landesbauordnungen zu nennen. Diese haben sich zumeist durch die nicht verbindliche bundesweite Musterordnung anregen lassen. Diese hat erstmals 1997 in § 45(2) die Barrierefreiheit aufgenommen; bei der Novellierung wurde 2002 der § 50 eingeführt, der die Maßnahmen für öffentlich zugängliche Bauanlagen und Wohngebäude gebündelt hat, die dann 2008 in Anlehnung an das Behindertengleichstellungsgesetz ergänzt wurden und bei der nochmaligen Novellierung im Jahre 2012 in § 50(1) die Mehrgeschossigkeit und die Zugänglichkeit/​Nutzbarkeit einbezogen hat.
  2. Auf der ökonomischen Ebene sind die jeweiligen Wohnraumförderungsprogramme zu thematisieren. Diese versteht die Autorin generell als freiwillige ökonomische Form der politischen Steuerung, also eine politische Ermöglichung und Flankierung von primär marktbestimmten Prozessen (S. 118). Eine Leitfunktion hatte das von der Kreditbank für Wiederaufbau (KfW) aufgelegte Programm, welches auch von den Ländern genutzt und z.T. ergänzt wird. Im Rahmen von Umbaumaßnahmen (S. 122–124) werden folgende Schwerpunkte gefördert (die Reihenfolge erfasst die quantitative Rangfolge sowohl der Kredit- wie der Zuschussvariante [K bzw. Zu]): 1. Maßnahmen zu Sanitärräume (K, Zu.); 2. Anpassung der Raumgeometrie (K; Zu: Rang 4); 3. Eingangsbereiche und Wohnungszugang (K; Zu: Rang 2); 4 vertikale Erschließung/Niveauunterschiede (K; Zu: Rang 3); 5.Wege zu Gebäuden und Wohnumfeldmaßnahmen (K, Zu); 6. Orientierung, Kommunikation und Unterstützung (K, Zu); 7. Gemeinschaftsräume, Mehrgenerationenwohnen (K, Zu). – Bei der Interpretation dieser Ergebnisse hätte es nahegelegen eine Brücke zu schlagen zu den sozialpädagogischen Diskursen der Sozialraum- und Lebensweltorientierung; diese Chance hat die Autorin leider nicht genutzt.
  3. Der informationellen Ebene zugeordnet wird die Wohnberatung zur Wohnungsanpassung, bei der Umbaumaßnahmen im Bestand im Vordergrund stehen und diese Stellen und Personen sowohl bei baulichen und technischen wie auch finanziellen Fragen beratend zur Seite stehen. Sie gibt es in sehr heterogener Form als örtliche Beratungsstellen bzw. in Pflegestützpunkte integrierte mit sehr unterschiedlichen Anbindungen und Finanzierungsmodi.

Zentrale Konfliktfelder bei der Wohnraumversorgung für behinderte und ältere/alte Menschen

Die beiden Fallstudien zu Hessen und Sachsen-Anhalt sollen im Unterschied zu dem Vergleich der Bundesländer das Zustandekommen oder Ausbleiben entsprechender Reformpolitiken und -maßnahmen erklären. Aus der Anwendung des o.a. politikwissenschaftlichen Analyseinstrumentariums ergeben sich besonders vier Konfliktkonstellationen und -dynamiken:

  1. Zunächst einmal bringen die wirtschafts- und sozialräumlichen Ungleichheiten erhebliche Differenzen bei den Reformstrategien und -prozessen hervor. Dabei werden diese zusammenfassend so charakterisiert: „Intern prägt Hessen eine deutliche Nord-Süd-Achse mit dem urbanen Rhein-Main-Gebiet im Süden und dem eher ländlichen Mittel- und Nordhessen (mit Ausnahme der kreisfreien Stadt Kassel). Sachsen-Anhalt wiederum kennzeichnen die drei Oberzentren Magdeburg, Halle (Saale) und Dessau-Roßlau in einem ansonsten ländlichen Raum.“ (S. 91) Das ist leider eine sehr grobe Einteilung – ergänzt um einige ebenfalls pauschale sozialstatistische Daten (S. 90); hier hätte eine Rezeption der raumsoziologischen Befunde zu den siedlungsstrukturellen Kreistypen (TOP-7-Metropolen, daran angrenzende Gemeinden bzw. Kreise, kreisfreie Großstädte, städtische Kreise, ländliche Kreise mit vs. ohne Verdichtungsansätze) sowie die Unterscheidung zwischen prosperierenden, fragmentierten und schrumpfenden Städten erheblich zu einer konkreten Analyse der außerpolitischen Rahmenbedingungen beigetragen (vgl. Häußermann u.a., 2008, Kap. 7, 10–13).
  2. Im Zentrum steht dann der Umgang mit den Folgen dieser wirtschafts- und sozialräumlichen Ungleichheiten. Mit gewissen Unterschieden und Verschiebungen resultiert daraus der Widerspruch zwischen marktbestimmter und politisch-staatlicher Sicherung der Wohnraumangebote – auch bezüglich der Barrierefreiheit/​-reduktion. Deren Vermittlung in Form von Wohnraumförderungsprogramme versteht die Autorin generell als freiwillige ökonomische Form der politischen Steuerung, also eine politische Ermöglichung und Flankierung von primär marktbestimmten Prozessen (S. 118). Dabei wird die soziale Wohnraumpolitik – etwas unkritisch – auf die Personengruppen eingeschränkt, die sich auf dem Markt nicht eigenständig versorgen können – was besonders ausgeprägt in Hessen passiert. Es handelt sich also um eine Rumpfform der ursprünglich an große Bevölkerungsgruppen gerichteten sozialen Wohnungspolitik (vgl. den leider extrem kurzen, 2-seitigen Abriss der bundesdeutschen Wohnungspolitik auf S. 26f).
  3. Gerade in der hessischen Landespolitik resultiert daraus der fast schon unüberwindlich erscheinende Wiederspruch zwischen der Förderung bezahlbarer Wohnungsangebote und der einer quantitativ und qualitativ befriedigenden Barrierefreiheit/​-reduktion. Daran reiben sich die politischen Interessenartikulationen der verschiedenen Akteure mit unterschiedlicher Intensität und das findet seinen Ausdruck auf allen außer- und binnenparlamentarischen Ebenen der Entstehung und Beschlussfassung von Gesetzen und Verordnungen und deren ministeriellen Vorbereitungen und Umsetzungen in Gestalt von landesspezifischen Bauordnungen, Förderprogrammen und Wohnungsberatungsstellen. Diese Prozesse werden sehr differenziert und manchmal auch detailverliebt dargestellt, wodurch ein plastisches Bild der diesbezüglichen Politikprozesse in beiden Ländern entsteht.
  4. Blickt man auf die Durchsetzungschancen der Interessen der verschiedenen Akteure so ist ein krasses Ungleichgewicht zu konstatieren, welches die Autorin – ihrem marktzentrierten Analyseschema folgend (S. 245) – als Konflikte zwischen der Angebots- und Nachfrageseite charakterisiert (z.B. S. 231, 237): Die Angebotsseite in Gestalt der Bau- und Wohnungswirtschaft verfügt nicht nur über die strukturelle Machtüberlegenheit in Form eines erheblichen Erpressungspotenzials (nach dem Motto: „Wenn der Staat Regularien einführt, die unseren Vorstellungen nicht entsprechen, dann bauen wir eben nicht.“), sondern auch über organisierte gesellschaftliche Macht mit erheblichem Einfluss auf die Institutionen (so entzieht sich das Handeln der Ministerien zumeist der parlamentarischen Kontrolle; S. 189). Demgegenüber ist die Nachfrageseite durchgängig im Nachteil und bei der Konfliktaustragung unterlegen, ihre Vorschläge und Forderungen werden – wenn sie der Gegenseite „nicht passen“ – entweder gar nicht angehört oder aber zumindest nicht beachtet (vgl. u.a. S. 183, 190, 242f). Das gilt sowohl für den außerparlamentarischen Raum wie auch für die Akteure der Oppositionsparteien. (so sind im hessischen Bündnis „Allianz für Wohnen“ nur die Regierungsparteien vertreten; S. 239).

Diskussion

Das Hauptverdienst der Arbeit besteht in einer empirisch differenzierten Rekonstruktion der parlamentarischen Entscheidungsprozesse und ihres unmittelbaren Umfeldes zur Implementierung barrierefreier bzw. -reduzierter Wohnraumangebote sowohl für behinderte wie auch ältere und alte Menschen. Wie schon angeklungen müssen gegenüber dem theoretischen Konzept einige kritische Nachfragen gestellt werden; vier sollen hervorgehoben werden:

  1. Das Politikkonzept ist außerordentlich formal. Die Inhalte der Konflikte werden allenfalls vage angedeutet. So geht es der Bau- und Immobilienwirtschaft generell um Maximierung ihrer Gewinne, woraus sich ein krasser Widerspruch zum Wohnen als einem allgemeinen Menschenrecht ergibt; das deutet die Autorin am Schluss sehr vage an (S. 272), also ohne es zu einem zentralen Bestandteil ihrer Analyse zu machen.
  2. Sie kennt den Hinweis, dass der „Ansatz der Eigendynamik politischer Prozesse“ die sozioökonomischen Prozesse ausklammert – und behauptet trotzdem, dass dieser für ihre Analyse fruchtbar sei (S. 266f). Hätte sie ihn aber aufgenommen, dann hätte sich daraus auch die Chance, ja die Notwendigkeit ergeben, die ökonomischen Grundlagen der Bau- und Wohnungswirtschaft näher zu untersuchen. Sie wäre dann auf die Tatsache gestoßen, dass es ganz erhebliche Differenzierungen hinsichtlich deren Interessenlagen bestehen, die sich knapp so charakterisieren lassen: Die Rentenlogik „setzt auf eine regelmäßige und langfristige Verzinsung des in den Wohnungsbeständen gebundenen Eigenkapitals. Die Renditelogik zielt auf eine rasche Verwertung von Investitionen, die aus dem eingesetzten Kapital einen Mehrwert generieren soll. Die Anlagelogik soll auf der Basis von Kursgewinnen eine regelmäßige Dividende sichern. Während die Rentenbewirtschaftung unmittelbar substanzbezogen erfolgt, entfernt sich die ertragsbezogene Renditeökonomie vom Gebäude. Die bilanzbezogene Anlagestrategie schließlich entkoppelt sich sogar von den Bewirtschaftungsergebnissen.“ (Holm/Metzkow 2021, 160). Bei letzterem handelt es sich um die Folgen einer nachhaltigen Finanzialisierung der Immobilienmärkte (vgl. Metzger 2020, Kap.5), die im Rhein-Main-Raum bestimmend sind und die den dortigen Mangel an bezahlbarem Wohnraum verursachen, gegen den die Landespolitik nichts unternimmt.
  3. Die Analyse ist sehr stark auf die parlamentarischen Prozesse und deren unmittelbares Umfeld beschränkt, um nicht zu sagen fixiert. Insofern hängt dieses „Exempel“ für die Wohnregimeforschung in doppelter Hinsicht „in der Luft“: Es fehlen einerseits Bezüge „nach unten“ zu den alltagsverankerten Sozialräumen und Lebenswelten der adressierten Bevölkerungsgruppen, die sich dann z.B. in zivilgesellschaftlichen Vereinigungen zusammenfinden und dort ihre Bedürfnisse und Interessen artikulieren. Und es fehlen andererseits die Bezüge „nach oben“, zu den systemischen Strukturen sowohl der Ökonomie (s.Pkt.2) wie auch der Politik. Es ist doch völlig klar, dass die zentralen landespolitischen Grundsatzentscheidungen nicht in den Parlamenten, sondern in den eingeschlossenen Machtzirkeln der politischen und ökonomischen Eliten (also „hinter verschlossenen Türen“) gefällt werden (vgl. Hartmann 2018, Kap. 3 u.4). Die krassesten Beispiele aus der neueren Geschichte der BRD sind dabei Entscheidungen zur Neuwahl des Bundestages (2005), zum Ausstieg aus der Kernenergie (2011), zur Abschaffung der Wehrpflicht (2010/2011) und zum gigantischen Aufrüstungsprogramm (2022), die von den Parteien und dem Parlament dann allenfalls noch nachvollzogen (abgenickt) worden sind.
  4. In den Gesamtdurchführung dieses Projektes ist der demokratische Impuls der Autorin an vielen Stellen zu spüren. Umso erstaunlicher ist es, dass sie die schon länger andauernden und sehr umfangreichen Debatten um die Fundamentalkrise der politischen und sozialen Demokratie bzw. die Postdemokratie als Folge des Neoliberalismus und der Globalisierung nicht aufgenommen und verarbeitet hat, ja, sie werden noch nicht einmal erwähnt (vgl. u.a. die aktuellen Beiträge von Crouch 2021, Kap.1, 3 6 u.8; Ketterer/​Becker 2020; Streeck 2021, Kap.I u.III). Der Hintergrundkonsens aller dieser Analysen ist die Einsicht, dass eine perspektiveneröffnende Demokratietheorie einer fundamentalen Kapitalismuskritik bedarf.

Fazit

Die Autorin hat sich eines interessanten Spezialthema angenommen, dessen exemplarische Bedeutung für die Behinderten- und Altenpolitik nicht zu bezweifeln ist. Sie hat mit ihrer parlamentszentrierten Mikroanalyse der Vorbereitung und Verwirklichung von politisch-staatlichen Maßnahmen zur Implementierung barrierefreier bzw. -reduzierter Wohnräume einen differenzierten Einblick in ein wohnungspolitisches Spezialgebiet geliefert. Für andere Interessen- und Akteursgruppen in der Wohnungspolitik werden diese Befunde aber nur dann wirklich fruchtbar gemacht werden können, wenn sie in Relationen gesetzt werden sowohl zu den ökonomischen und politischen Systemstrukturen einerseits und zu den Sozialräumen und Lebenswelten der Betroffenen und Interessierten andererseits. Oder anders formuliert: Um diese Befunde für die Wohnregimeforschung fruchtbar zu machen, bedarf es einer gründlichen Sekundäranalyse.

Literatur

Crouch, Colin (2021): Postdemokratie revisited, Berlin: Suhrkamp.

Häußermann, Hartmut u.a. (2008): Stadtpolitik, Frankfurt/M.: Suhrkamp

Hartmann, Michael (2018): Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden, Frankfurt/New York: Campus.

Holm, Andrej/​Metzkow/​Kaspar (2021): Wohnen als soziales Verhältnis. In: Holm, Andrej (Hrsg.) (2021): Wohnen zwischen Markt, Staat und Gesellschaft. Ein sozialwissenschaftliches Handbuch, Hamburg. 151–171.

Ketterer, Hanna/​Becker, Karina (Hrsg.) (2020): Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, Berlin: Suhrkamp

Metzger, Philipp P. (2020): Die Finanzialisierung der deutschen Ökonomie am Beispiel des Wohnungsmarktes, Münster: Westfälisches Dampfboot.

Schipper, Sebastian/​Vollmer, Lisa (Hrsg.) (2020): Wohnungsforschung. Ein Reader, Bielefeld: transcript.

Schönig, Barbara/​Vollmer, Lisa (2020): Wohnungsfrage(n) ohne Ende und überall?! Sechs Thesen für eine interdisziplinäre Wohnforschung. In: dies. (Hrsg.) (2020): Wohnungsfragen ohne Ende?! Ressourcen für eine soziale Wohnraumversorgung, Bielfeld: transcript, 7–33.

Streeck, Wolfgang (2021): zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Berlin: Suhrkamp

Rezension von
Prof. Dr. Karl-Heinz Braun
Dr. phil.habil. Karl-Heinz Braun, Prof.em. für Sozialpädagogik/Erziehungswissenschaft und Leiter des „Magdeburger Archivs für Sozialfotografie“ am Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien der Hochschule Magdeburg-Stendal
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Zitiervorschlag
Karl-Heinz Braun. Rezension vom 22.05.2023 zu: Melanie Slavici: Barrierefreiheit in der Wohnungspolitik. Länderpolitik im Vergleich. transcript (Bielefeld) 2022. ISBN 978-3-8376-6048-7. Reihe: Interdisziplinäre Wohnungsforschung - Band 4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29465.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.


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