Wolfgang Strengmann-Kuhn (Hrsg.): Das Prinzip Bürgerversicherung. Die Zukunft im Sozialstaat
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Sell, 23.05.2006
Wolfgang Strengmann-Kuhn (Hrsg.): Das Prinzip Bürgerversicherung. Die Zukunft im Sozialstaat. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2005. 220 Seiten. ISBN 978-3-531-14509-9. 24,90 EUR.
Vorbemerkungen
Im vergangenen Jahr - vor der Bundestagswahl - hatte das Thema "Bürgerversicherung" Konjunktur, denn hier schien sich ein fundamentaler Gegensatz zwischen den rot-grünen Konzepten einer neuen Finanzierungsstruktur für die sozialen Sicherungssysteme unter dem Label "Bürgerversicherung" und dem Modell einer "Kopfpauschale" vor allem im Bereich der Gesundheitspolitik auf Seiten der CDU anzudeuten. Im Bundestagswahlkampf wurde dann dieses scheinbare Gegensatzpaar herausgestellt. Und nun? Wer redet noch von der "Bürgerversicherung"? Die große Koalition hat SPD und Union in das gemeinsame Regierungsbett gezwungen und angesichts dieser Konstellation wird keiner ernsthaft annehmen dürfen, dass das eine oder andere Konzept in seiner Reinform realisiert werden kann. Was zu erwarten ist sind Hybridmodelle zwischen den beiden konträren Ansatzpunkten einer Reform der Finanzierungsgrundlagen vor allem im Gesundheitswesen und im Pflegebereich. Dies wird in diesem Jahr das große Thema werden. Und genau vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Sammelband zum Thema "Bürgerversicherung" so aktuell und hilfreich, denn er kann durchaus einen tieferen Eindruck vermitteln, was die Apologeten der "Bürgerversicherung" mit diesem Schlagwort konzeptionell tatsächlich verbinden. Darüber hinaus enthält er Beiträge, die bereits in die nunmehr anstehende Kompromissfindungsphase verweisen und das "Lager" der "Bürgerversicherung" verlassen haben.
Aufbau und Inhalt
- Wolfgang Strengmahn-Kuhn leitet den Sammelband ein mit einem einführenden Beitrag zum Modell der Bürgerversicherung im Kontext der Reform der sozialen Sicherungssysteme. Er bringt den verändernden Charakter einer Bürgerversicherung auf den Punkt: Es handelt sich um die Implementierung der Versicherungspflicht für alle Einwohner, während die gegenwärtige Sozialversicherung im Kern eine Arbeitnehmerversicherung darstellt. Hinzu käme die Aufhebung der Besonderheit einer Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung und die Einbeziehung der Selbständigen und Beamten (wobei das dann eine Erwerbstätigenversicherung wäre, von der sich die "echte" Bürgerversicherung dadurch unterscheidet, dass darüber hinaus alle Einwohner in die Absicherung und die daraus resultierenden eigenständigen Leistungsansprüche einbezogen wären). Ein zweiter konzeptioneller Kernbereich der Bürgerversicherung ist die Ausweitung der Bemessungsgrundlagen im Sinne einer Ausweitung der Bemessung auf alle Einkommensarten, also insbesondere Vermögenseinkommen - und damit die Ablösung der Verengung der Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme auf das sozialversicherungspflichtige Arbeitseinkommen. Damit unmittelbar verbunden ist die Forderung nach Anhebung bzw. sogar Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen. Die Wesensmerkmale der Bürgerversicherungsmodelle sind: Horizontale Gerechtigkeit durch Einbeziehung aller Bürger in die Sozialversicherung, die eigenständige Sicherung von Frauen und Männer, eine Armutsvermeidung durch individuelle Mindestsicherungen sowie eine stärkere Unabhängigkeit vom Faktor Arbeit durch die Ausdehnung der Beitragsbemessung auf alle Einkommensarten.
Die weiteren Beiträge vertiefen dieses Grundmodell bzw. stellen davon abweichende Konzeptionen vor
- Christoph Butterwegge fragt, ob die Bürgerversicherung eine Alternative zum neoliberalen Umbau des Sozialstaats abgeben kann. So kritisiert er vehement die Perspektive einer stärkeren Steuer- statt Beitragsfinanzierung in der sozialen Sicherung als Fehlorientierung, die ja nicht nur von den so genannten "Neoliberalen" gefordert wird. Es plädiert für eine Bürgerversicherung, allerdings nur, wenn sie wirklich als Versicherungslösung ausgestaltet wird und befürchtet, dass sich ansonsten die "Bürgerversicherung" als Einfallstor für den von vielen angestrebten Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik hin zu einer Steuerfinanzierung erweisen könnte. Seine Argumentation bleibt in den bei ihm bekannten Bahnen.
- Frank Nullmeier befasst sich mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip und der Generationengerechtigkeit als Legitimation der Bürgerversicherung und stellt damit eine wichtige Verbindung her zu einem weiteren Konzept der sozialpolitischen Grundsatzdiskussion, der aus der Umweltdiskussion "importierten" Nachhaltigkeit. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Konzepte der Generationengerechtigkeit nicht genutzt werden können, um eine Bürgerversicherung zu plausibilisieren (S. 65). Eine Legitimationsfolie für die Bürgerversicherung kann sich seiner Meinung nach nur auf Vorstellungen zur Gerechtigkeit durch Finanzierung nach Leistungsfähigkeit konzentrieren. Dies allerdings verweist auf Folgerungen, die nicht kompatibel mit dem kleinteiligen Reformschritt einer Bürgerversicherung sind, sondern das Thema an die Steuerpolitik weiterreicht, was von Nullmeier - anders als die klassische Positionierung bei Butterwegge - durchaus mit positiven Potenzialen verknüpft wird. Er sieht diese vor allem darin, dass es dann politisch nicht mehr so leicht möglich sein wird, Steuerpolitik als Steuervereinfachungs- und -senkungspolitik unter Beibehaltung von Steuerprivilegien zu konzeptualisieren und auf der anderen Seite den Abbau von Sozialleistungen als unumgänglich darzustellen.
- Karl Lauerbach et al. liefern dann als prononcierte Apologeten des Bürgerversicherungsmodells für eine entsprechende Reform der Gesundheitsfinanzierung in ihrem Beitrag einen Überblick über die Standardargumente für einen Wechsel zu diesem Modell. Ihr Hauptargument ist die Stärkung des Solidarprinzips innerhalb der Sozialversicherung durch die konsequente Einbeziehung aller Gruppen in die Sozialversicherung.
- Gert G. Wagner argumentiert in seinem Beitrag gegen die Einführung einer Bürgerversicherung. Dieser Beitrag ist unbedingt zu empfehlen, denn das von Wagner empfohlene Modell einer "Bürgerprämie" ist eines der Kompromissmodelle, die zwischenzeitlich auch vom Sachverständigenrat und anderen aufgegriffen worden ist. Wagner gilt allerdings zu Recht als "Vater" dieser Idee. Sein besonderer Verdienst ist zum einen die Verknüpfung des solidarischen Moments des Grundgedankens der Bürgerversicherung mit der besonderen Finanzierungsform einer Pauschalprämienfinanzierung in Verbindung mit einem steuerfinanzierten Ausgleich für die Bezieher niedriger Einkommen. Auf der anderen Seite verweist er zu Recht auf die Bedeutung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen.
- Michael Opielka verlangt in seinem Beitrag zur Idee einer Grundeinkommensversicherung vom Leser nunmehr einen hohen Abstraktionssprung. Seine Grundeinkommensversicherung steht gewissermaßen zwischen den Polen einer Lebensstandardsicherung und einer reinen Grundsicherung (bzw. eines "Bürgergeldes"), da die Leistungen durchaus nach Höhe und Dauer der Beitragszahlungen differenziert werden. In diesem neuen System sollen die bisherigen Risikosicherungssysteme Rentenversicherung und Pensionen, Arbeitslosenversicherung, Familienleistungsausgleich, Krankengeld, Bafög und Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II enthalten sein. Mit Ausnahme der pauschalierten Grundsicherung sind alle Leistungen nach unten und oben gedeckelt: mindestens das Grundsicherungsniveau, nach oben maximal 200% der Grundsicherungsleistung (wie z.B. im Schweizer System der gesetzlichen Alterssicherung). Dadurch kommt es zu einer systematischen Umverteilung: Die niedrigen Beitragsleistungen werden höher und die hohen niedriger bewertet, es entsteht ein Korridor begrenzter Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung (S. 135) - eine Art Volks- oder Bürgerversicherungssozialismus.
- Mit dem Thema Bürgerversicherung für das Alter befassen sich Hans-Jürgen Krupp und Gabriele Rolf. Nach ihrer Auffassung kann nur eine Neudefinition und Ausweitung der Versicherungspflicht eine weitere Erosion der finanziellen Basis der Rentenversicherung aufhalten. Ihnen geht es bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung der Beitragsäquivalenz um eine Umverteilung zu Lasten hoher Einkommen und zugunsten niedriger Einkommen und von Kindererziehenden durch eine solidarische Bürgerversicherung. Sie verweisen allerdings auf die langen Übergangsfristen angesichts des notwendigen Vertrauensschutzes in der Rentenversicherung.
- Christina Stecker befasst sich in ihrem Beitrag mit den Erfahrungen in Schweden und den Niederlanden für eine etwaige Bürgerversicherung in Deutschland, thematisch allerdings beschränkt auf den Bereich der Alterssicherung. Sie analysiert die Einführung einer Garantierente in Schweden und einer Grundrente in den Niederlanden. Wieder einmal wird deutlich, dass partielle Systemvergleich im hochkomplexen Feld der sozialen Sicherungssysteme nur begrenzt zielführend sind.
- C. Katharina Spieß fragt nach einer Familienkasse als familienbezogene Ergänzung von Bürgerversicherungsmodellen. Dieses Thema ist gerade aktuell von großer Bedeutung angesichts der Diskussion über familienbezogene Leistungen in der Krankenversicherung wie z.B. die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und nicht erwerbstätigen Familienangehörigen als "versicherungsfremde Leistungen" und deren Ausgliederung aus der Beitragsfinanzierung in eine Steuerfinanzierung dieser gesamtgesellschaftlich erwünschten Leistungen. Angesichts der Fragilität von Steuerfinanzierung schlagen die Apologeten einer Familienkasse die Ausgestaltung als Parafiskus vor, verbunden mit einer Bündelung aller familienpolitischen Leistungen in dieser Familienkasse. Diese neue Einrichtung könnte zum einen als Ergänzung von Bürgerversicherungsmodellen fungieren, um die "versicherungsfremden" familienpolitischen Leistungen auch weiterhin in der Sozialversicherung zu belassen, allerdings nunmehr anders finanziert - die Familienkasse kann aber auch von den Anhängern einer Pauschalfinanzierung genutzt werden, um die Prämien für die Kinder und Jugendlichen aus Steuermitteln zu finanzieren.
Fazit und Bewertung
Wer sich einen ersten Eindruck von der Breite der (möglichen) Anwendungsfelder der Konzeptionen von "Bürgerversicherung" verschaffen möchte, der ist mit diesem Buch gut bedient. Im Kontext der derzeitigen großkoalitionären Suche nach Kompromissen gerade im Bereich der Krankenversicherung ist dies ein wichtiges Hintergrundbuch. Dass nun aber die "Zukunft im Sozialstaat" in der Bürgerversicherung zu finden sein wird, wie der Untertitel andeutet, kann man - gerade auch mit Blick auf die einzelnen Beiträge - mehr als in Frage stellen. Einzelne Beiträge verdeutlichen einmal mehr die "typisch" (?) deutsche Suche nach dem großen Wurf, den es aber in Zeiten der Hyperkomplexität nicht geben wird. Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, dass wie meistens in Sammelbänden die Qualität der einzelnen Beiträge erheblich streut.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Sell
Es gibt 18 Rezensionen von Stefan Sell.
Zitiervorschlag
Stefan Sell. Rezension vom 23.05.2006 zu:
Wolfgang Strengmann-Kuhn (Hrsg.): Das Prinzip Bürgerversicherung. Die Zukunft im Sozialstaat. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2005.
ISBN 978-3-531-14509-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2947.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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