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Howard Saul Becker: Soziologische Tricks

Rezensiert von Prof Dr. Frank Schulz-Nieswandt, 06.02.2024

Cover Howard Saul Becker: Soziologische Tricks ISBN 978-3-86854-342-1

Howard Saul Becker: Soziologische Tricks. Wie wir über Forschung nachdenken können. Hamburger Edition (Hamburg) 2021. 344 Seiten. ISBN 978-3-86854-342-1.

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Thema

Howard S. Becker (vgl. nachfolgend mehr zum »Autor«) verstarb 2023, was Anlass ist, dieses Buch (Original 1998) von 2021 aufzugreifen und reflektierend in Erinnerung zu rufen.

Wenn man paraphrasieren soll, worum es geht, so ist der offizielle Werbetext der Innenseite des Covers überaus gelungen: „Die größten Feinde des soziologischen Denkens sind, so Howard S. Becker, Konventionen – soziale wie wissenschaftliche. Statt zu vertiefter Erkenntnis zu verhelfen, stehen sie ihr oft eher im Weg. Doch es gibt den einen oder anderen Trick, um Denkroutinen zu erkennen, zu überwinden oder zu umgehen. Wie kommen wir auf Ideen, wie an unsere Daten, welche Konzepte helfen uns weiter, wie machen wir unser Argument nicht nur nachvollziehbar, sondern verleihen ihm auch Überzeugungskraft? Becker versorgt uns mit Kniffen, die er und andere über die Jahre erprobt haben. Soziologische Tricks erlaubt es daher, Sozialforschung als Handwerk zu begreifen, ein Handwerk, das wie andere auch im fortwährenden Lösen von Problemen besteht. Becker arbeitet mit Beispielen, Geschichten und Modellen, an denen man sich orientieren kann, wenn man auf ein vergleichbares Problem stößt. Seine Tricks machen das Forschen freilich nicht zwingend leichter, denn es geht darum, Dinge anders oder aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, um neue Fragestellungen zu entdecken.“ (kursiv auch im Original).

Dies erinnert mich daran, dass Robert Ezra Park seinen Schülern (auch eine Anekdote von Erving Goffman erzählt, Karl Mannheim hätte diese Empfehlung bekommen) einmal empfohlen hat, in den »urban studies« mit Blick die die Erkenntnisinteressen zu »social problems« zunächst einmal schlicht die Stadtteile – explorativ beobachtend – zu erwandern.

Aber es geht hier um mehr. Das Buch in einer eher narrativen Form – man könnte auch vom Erzählen als poetische Strategie sprechen – soziologischer Aufklärung ist ein wissenstheoretisch (vgl. Kapitel „Logik“: S. 211 ff.) relevanter Beitrag aus einer wissenssoziologischen (und letztlich auch wissenschaftsethischen: vgl. etwa auch S. 221 ff.) Hinsicht. Die hier bedeutsame Frage lautet: Wie kann engagierte Wissenschaft methodisch kontrolliert Distanz zum Gegenstand dergestalt gewinnen, dass der soziologische Blick den wirklichkeitskonstituierenden Filter konventioneller Frames der unkritisch übernommenen Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten überwinden kann und so im Rahmen eines rekonstruktiven Realismus zur objektiven Welt und ihren performativen Praktiken vorstoßen kann. Aber damit sind wir bereits in einer interpretativen Rezeption, die nicht frei ist von Prädikationen, aber für die Themenerläuterung wegweisend sein mögen.

Autor

Howard S. Becker (1928-2023) stand mit seinem Werk als Schüler von Everett C. Hughes in der Forschungstradition der ersten Generation der Chicagoer Schule der Soziologie, ist sodann von seinem akademischen Lehrer Herbert Blumer geprägt worden und ist dergestalt folglich am Forschungs-Approach des Symbolischen Interaktionismus orientiert und wuchs daher in die zweite Generation der Chicagoer Schule hinein.

Instruktiv ist das (keineswegs nur apologetische, sondern ebenso kritisch auf Schwachstellen hinweisende) Nachwort im vorliegenden Buch von Thomas Hoebel (S. 321–338), der auch einen Nachruf auf Becker am 28. August 2023 in Soziopolis verfasst hat.

Becker hat sich (nach seinen frühen Arbeiten zur Bildungs-, Professionen- und Arbeitssoziologie) mit Devianz- und Kriminologie und mit Kunstsoziologie (vgl. z.B. S. 238 ff.) beschäftigt. Er verfasste wichtige Beiträge zur qualitativen Sozialforschung und zur Wissenssoziologie und legte mit Forschungen zur Photographie Grundsteine zu einer Soziologie des Visuellen. In Frankreich gilt Becker mitunter als Gegenposition zu Pierre Bourdieu. Die fehlende feldtheoretische Fundierung und die Vernachlässigung geschichtlicher Kontexte bei Becker darf jedoch mit Blick auf diese Diskussion kritisch angemerkt werden.

Entstehungshintergrund

Im Vorwort (S. 7–9) seines hier zu besprechenden Buches erzählt Becker (S. 7), wie er Erfahrungen aus dem Lehr-Lernen-Zusammenhang seiner Studierenden gemacht hat. Dabei betont er die Problematik des Pendelns zwischen Abstraktion und problemorientierten exemplarischen Konkretionen (Analyse und Details: S. 116 ff.) und hinsichtlich der auf „Familienähnlichkeiten“ abstellenden Möglichkeiten der Analogie-Bildung. Er bezeichnet dies als Thema des Denken-Lernens, wobei es sodann auch um Wissenschaftsdidaktik ebenso geht wie um das wissenschaftliche Schreiben. Seine ganzen Erfahrungen, die er in seinen immer auch autobiographisch gehaltenen Studien sammeln und reflektieren konnte, bezeichnet er als „Tricks“. Diese beziehen sich auf die Wissenschaft eines soziologischen Arbeitslebens als Bildungsprozess, verstehbar als ein System des Erfahrungsaustausches als ein Geben und Nehmen.

Aufbau

Zu den bereits gemachten Äußerungen zur Erzählstruktur der quasi narrativen Wissenschaft (S. 89 ff.) und zu deren poetischen Strategie passt die Eigenheit des Aufbaus des Buches: Es sind 6 nicht durchnummerierte Kapitel, gefolgt von einem Abschnitt „Coda“ (S. 306 ff.). Und das erste Kapitel widmet sich auch sogleich den ihm Vorwort angeführten „Tricks“.

Inhalt

Man kann unmöglich die Inhalte aller Kapitel wiedergeben und diskutieren. Aus Platzmangel kann auch keine inhaltliche Zusammenfassung geboten werden. Möglich ist dagegen eine Paraphrase auf der Meta-Ebene der rekonstruktiven Analyse des Sinns dieser ganzen autobiographisch gehaltenen Einführung in das, was von anderen Soziologen (ob Charles Wright Mills oder auch Oskar Negt) einmal als Bildung soziologischer Phantasie (Ideen: so der Titel eines Kapitels: S. 24 ff.) genannt wurde und die Voraussetzung für das intellektuelle Abenteuer einer wissenschaftlichen Öffnung des Raumes der sozialen Wirklichkeit darstellt (S. 338).

Im Nachwort verdeutlicht Thomas Hoebel mit Blick auf die höchst »problematische und daher problematisierungsbedürftige Thematik« der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft: „Leute, unsere Forschung über die momentane Gesellschaft findet in dieser Gesellschaft statt, ist in sie verstrickt.“ (S. 326). Nicht nur der Alltagsmensch jenseits der Wissenschaft, sondern die Wissenschaft ebenso ist eine »In-Geschichten-verstrickte-Geschichte« (angelehnt formuliert an die Philosophie von Wilhelm Schapp; zu „Wissenschaftliche Geschichten erzählen“. (S. 35 ff.)

Dennoch sind Standards guter wissenschaftlicher Forschungspraxis innerhalb einer in die konkrete Geschichtlichkeit der sozialen Verhältnisse verstrickte Wissenschaft notwendig und möglich. Wissenschaft lebt außerhalb der heiligen Hallen des akademischen Olymps (S. 310) in der Lebenswirklichkeit der Feldforschung im Kontakt mit dem Geschehen, das mit, in und durch die Menschen sich vollzieht.

In dieser Welt ist das wissenschaftliche Subjekt verstehbar als „fahrender Forscher“, der also in der Welt seiner Forschung immer auf partizipativer involvierter Reise ist, von abenteuerlicher Neugierde geprägt ist, und habituell jenseits von „Theoriehuberei“ (wohl aber nicht-deduktive [S. 176 ff.], aber verallgemeinernde: [S. 187 ff.] Konzept-Entwicklung und Konzept-Nutzung: Kapitel „Konzepte“ auf S. 161 ff. betreibend) und „Klubzugehörigkeit“ geprägt ist (dazu im Nachwort: S. 327), ist engagiert, parteilich und dennoch ein „unabhängiger Geist“.

Wie umgehen mit dieser paradoxalen Figuration von »Benimm und Erkenntnis« (Wolf Lepenies) zwischen »Engagement und Distanzierung« (um einen Buchtitel von Norbert Elias aufzugreifen)?

Das vorliegende Buch ist kein Ratgeber im Sinne von Rezeptwissen, so Thomas Hoebel im Nachwort (S. 329). „Das Buch passt nicht in gängige Schubladen des Buchmarkts.“ „Es ist auch kein übliches Methodenbuch“ (S. 329). Das Buch ist eine Forschungsbiographie, die einen Problemaufriss über die vielfältig möglichen Forschungspraxisprobleme verarbeitet. Tricks sind handwerkliche Methoden, um anstehende Probleme zu lösen (S. 13).

Es geht z.B. um kryptonormative Annahmen (vgl. auch das Kapitel „Logik“: S. 211 ff.), die nicht erkannt und reflektiert werden. Es geht demnach um Selbstreflexion, auch um Probleme der versteckten Vorurteile und Verdrehungen (S. 19) von Kausalitäten (problematisierend: S. 50 ff., S. 97 ff.) in der Hypothesenbildung (zur Nullhypothese. S. 39 ff.). Auch die »Krise der ethnographischen Repräsentation» reflektiert Becker (er führt mitunter Clifford Geertz an) als Kritik am Theoriemaschinenbauen (S. 59 ff.). Ferner ist Becker dem relationalen Charakter der Konzept-Bildung (S. 193 ff.) kritisch auf der Spur, weil er somit (auch als Identitäts-Alteritäts-Dialektik begreifbar) die binären Klassifikationen des »So« und des »Anders« aufdecken kann. Entscheidend ist es, den konstitutiven semantischen Wesenskern in seinen vielen Variationen zu erkennen (S. 204 ff.): Die Logik von »totalen Institutionen« z.B. können sich in verschiedenen Settings auf verschiedene Merkmale/​Themen verschiedener Personengruppen beziehen.

Auch die Sicht von Becker auf die „revitalisierende Disziplin der Ökologie“ (S. 69) – man mag an die Bedeutung von Adolf Portmann für die philosophische Anthropologie als Propädeutik der Sozialtheorie erinnert sein – ist überaus interessant. Ebenso seine kritischen Anmerkungen zur Typus-Bildung (S. 72 ff., S. 235 ff.), wobei er nun nicht »das Kinde mit dem Bade ausschütten« will. Becker will hier wiederum nur zur kritischen Selbstreflexion darüber, was Forschung »wie« (S. 90 ff.) macht, anregen. Becker thematisiert analog auch das Wirklich-Werden von Dingen in Prozessen (S. 94 ff.) interaktiven (gemeinsamen) Handelns (S. 75 ff.), wobei er auch auf Bruno Latour Bezug nimmt.

Aus den Studien von Georges Devereux bis hin zur Epistemologie von Gaston Bachelard heraus kennen wir mögliche psychoanalytisch fassbare Tiefenstrukturen der Forschung (insbesondere Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamiken). Wissenschaftspraxis wird von Becker reflektiert als Gewebestruktur von kollektiven Einschränkungen (»constraints«), mich an Ludwig Flecks Studien zu kollektiven Denkstilen in der Forschung (als »epistemic communities«) erinnernd, und individuellen Freiheitsgraden (»creativities«).

Wie originell Becker etablierte Kategorien diskutiert, erkennt man z.B., wenn er die Stichprobe mit Bezug auf die Kategorie der Synekdoche (eine klassische rhetorische Figur aus der Gruppe der Tropen), nachdem er auch schon über Metaphern nachgedacht hatte, problematisiert (Kapitel „Fallauswahl“: S. 103 ff.). Hier finden wir einerseits ein Paradebeispiel für Beckers Art, Methodenlehre zu betreiben. Andererseits ist es zwingend, dass ein Forscher wie Becker, der narrative Wissenschaft betreibt, die hermeneutische Perspektive auch metaphorologisch und symboltheoretisch beherrscht. Ferner ist er hier offen für abduktive Perspektiven (S. 125 ff.), wie wir sie auch aus der radikalen Grounded Theory kennen.

Immer geht es Becker darum, „die Komplexität der sozialen Welt“ komplex und nicht in problematischer Weise reduktionistisch (d.h.: geschlossen statt offen) zu erfassen (S. 302).

Die Welt der universitären Lehre wird hierzu passungsoptimal ganz anders – nämlich als erkenntnisgenerierende Demokratisierung – gedacht als heute immer noch üblich: als asymmetrische Hierarchie der aktiven Wissensverkündung und des passiven Zuhörens. Der (pragmatistisch anmutende, aber auch die Lehrprofessionen in die sokratische Aufdeckung eigener Irrtümer einbeziehende) Dialog als gemeinsame Suche wird – um an die neu-kantianische Wissenschaftstheorie anzuknüpfen – zur transzendentalen Voraussetzung und bleibt zugleich offen für Wertsetzungen von höchster Kulturbedeutung.

Am Ende steht das Kapitel „Coda“ (S. 206 ff.). Es ist eine Art von Fazit, in dem Becker seine Tricks-Lehre zu einem weltoffenen und selbstreflexiven eingeübten Habitus – so dass „ein soziologisches Denken in Fleisch und Blut übergegangen ist.“ (S. 310) – erklärt.

Diskussion

Ein großer Teil der Diskussion musste bereits organisch in die Rubrik »Inhalt« eingebaut werden, weil dort argumentiert werden konnte, man könne keine inhaltliche Wiederholung im Modus einer verdichteten Zusammenfassung bieten, sondern nur eine Paraphrase auf der Meta-Ebene der rekonstruktiven Analyse des Sinns dieser ganzen autobiographisch gehaltenen Einführung.

Obwohl es viele Schulrichtungen im weiten Feld qualitativer Sozialforschung (und auch entsprechende feldinterne Konfliktlinien) gibt, bietet sich das spannende Buch von Becker als Lektüre in der universitären Methodenausbildung an. Quantitative Forschung wird ebenfalls manche Anregung erhalten, doch ist sie ex definitione nicht primär angesprochen, weil sie keine die Forschungssubjekte involvierende Feldforschung betreibt.

Fazit

Das Buch ist sehr lesenswert, spannend, in einfacher Sprache geschrieben, wenngleich man sehr sorgfältig den Erzählungen folgen muss. Eine oberflächliche schnelle Überflug-Lektüre ist ausgeschlossen. Daher benötigt man innere Aufgeschlossenheit, Ruhe und Zeit. Vieles ist auch anschlussfähig an andere Diskurse. Die autobiographischen Konturen sind Teil der faszinierenden, in die Forschungspraxis einführenden Erzählung.

Rezension von
Prof Dr. Frank Schulz-Nieswandt
Univ.-Prof. für Sozialpolitik, qualitative Sozialforschung und Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln
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Es gibt 7 Rezensionen von Frank Schulz-Nieswandt.

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ISSN 2190-9245