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Kathinka Beckmann, Franziska Breitfeld u.a.: Kindeswohlgefährdung - was kommt danach?

Rezensiert von Martina Huxoll-von Ahn, 07.03.2023

Cover Kathinka Beckmann, Franziska Breitfeld u.a.: Kindeswohlgefährdung - was kommt danach? ISBN 978-3-7344-1159-5

Kathinka Beckmann, Franziska Breitfeld, Claus Gollmann, Vera Morawetz, Katja Werner: Kindeswohlgefährdung - was kommt danach? Ein multidisziplinärer Blick auf die Werdegänge 478 gewaltbelasteter Kinder und ihre Hilfesysteme auf Grundlage der KiD-Verlaufsstudie. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2021. 176 Seiten. ISBN 978-3-7344-1159-5.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.

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Thema

Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung um die Darstellung der Ergebnisse und Erkenntnisse einer mehrjährigen Verlaufsstudie von Kindern, die in dem Zeitraum der Studie für viele Wochen Bewohner*innen einer Intensivgruppe in der Düsseldorfer Diagnoseeinrichtung für gewaltgeschädigte Kinder waren. Alle Kinder, egal welchen Alters eint, dass sie zum Zeitpunkt der Aufnahme in diese spezialisierte stationäre Einrichtung bereits Gewalt in den unterschiedlichsten Formen erlitten hatten. Nachgegangen wurde der Frage bei diesen Fällen, welche Hilfe und Unterstützung diese Kinder durch die Kinder- und Jugendhilfe vor ihrer Aufnahme in die Einrichtung erfahren hatten. Ebenso wurde das Erleben der Kinder in den Blick genommen, verbunden mit den Aspekten, welche Informationen die Kinder während ihres Aufenthalts über ihre jeweiligen, individuellen Verhaltensweisen oder Äußerungen preisgaben. Die dritte Frage widmete sich der Perspektive der Fälle nach Beendigung des Aufenthalts: Wie ging es für die betroffenen Kinder weiter? Es lag im Interesse der Autor*innen in Erfahrung zu bringen, welche Wege die Kinder im Jugendhilfesystem hinter sich, aber auch vor sich hatten. Damit sollten Schlussfolgerungen möglich sein, welche wirksameren und zeitnäheren Maßnahmen den Kindern besser aus ihren Erfahrungen und ihrer Lebenssituation geholfen hätten und welche Maßnahmen im Anschluss an den stationären Aufenthalt in der Krisengruppe ergriffen wurden. Dabei wurde von Seiten der Jugendämter in nicht wenigen Fällen nicht den Empfehlungen der auf gewaltbelastete Kinder spezialisierten Einrichtung gefolgt.

Autor*innen

Kathinka Beckmann ist Professorin im Studiengang „Pädagogik in der Frühen Kindheit“ an der Hochschule Koblenz und leitet dort den Studienschwerpunkt „Kinderschutz & Diagnostik“ im Master Kindheits- und Sozialwissenschaften.

Franziska Breitfeld ist Volljuristin. Sie leitet das Forschungs- und Fortbildungszentrum kindgeRECHT.

Claus Gollmann ist Paar- und Familientherapeut, Supervisor sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Er ist Leiter der stationären diagnostisch-therapeutischen Facheinrichtung für gewaltgeschädigte Kinder in Düsseldorf und Gründer und Geschäftsführer der Dachorganisation „KiD Kind in Diagnostik“.

Vera Morawitz ist Psychologische Psychotherapeutin. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in der Arbeit bei „KiD Kind in Düsseldorf“ sowie der Dachorganisation „KiD Kind in Diagnostik“.

Katja Werner ist Sozialarbeiterin und Kriminologin. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungs- und Fortbildungszentrum KindgeRECHT tätig.

Entstehungshintergrund

Die vorliegende Veröffentlichung ist die zweite Weiterführung einer Verlaufsstudie, deren Ursprünge im Rahmen der Dissertation von Kathinka Beckmann in den Jahren 2005 bis 2008 begründet wurden. Die erste Weiterführung erfolgte 2012. Die hier zum Gegenstand stehende Untersuchung nimmt die Fälle von insgesamt 478 Kindern in den Blick, die zwischen 1994 und dem Stichtag 31.03.2028 für mehrere Wochen in der Düsseldorfer Diagnoseeinrichtung für gewaltgeschädigte Kinder „Kind in Diagnostik (KiD)“ untergebracht waren.

Aufbau und Inhalt

Nach einer Einführung von Kathinka Beckmann über die ausgewerteten Datensätze mit einem „sozialpädagogischen-politikwissenschaftlichen Blick“ weist sie auf die Wichtigkeit einer „sozialpädagogischen Falleinschätzung“ zu einem früh(er)en Zeitpunkt sowie der Bedeutung zur Frage der Wirksamkeit von Jugendhilfemaßnahmen bei Kindern mit gewaltbelasteten Lebenserfahrungen hin.

In Form einer Einleitung beschreibt Kathinka Beckmann sodann die „Osysseen im Jugendhilfesystem: Werdegänge im Kontext struktureller Problematiken“ anhand der 478 untersuchten Fälle. Dabei werden die „strukturellen Rahmungen der Jugendhilfe als potenzielles Problem für das einzelne Kind“ genauso in den Blick genommen wie das „Aufwachsen mit und in Jugendhilfemaßnahmen“ und daraus „Schlussfolgerungen“ gezogen.

Der zweite und umfangreichste Beitrag in der Veröffentlichung, verfasst von Claus Gollmann und Vera Morawetz, trägt den Titel „Gewalt kommt selten allein …“ und beschreibt die „Werdegänge vor dem Hintergrund zusätzlicher Risikofaktoren“. Dargestellt wird das „KiD-Konzept“, die „Risikofaktoren“ für die Gewaltbelastung von Kindern wie die „transgenerationale Traumatisierung“, „Art und Ausrichtung der Symptomatik“, „Fehldiagnosen und Fehlplatzierungen aufgrund fehlender oder nicht hinreichend geeigneter Diagnostik“, die „Aufstellung der Jugendhilfelandschaft“ oder auch die „(zu lange) Verweildauer im KiD“ oder die „(Nicht-)Befolgung der KiD-Empfehlung“. Nach Aussagen zum „(falsch verstandener) Datenschutz“ wird ein „Resümee“ gezogen. 

Franziska Breitfeld und Katja Werner widmen sich der sexuellen „Gewalt gegen Geschwisterkinder: Werdegänge im Kontext zweier Hilfesysteme“. Grund hierfür ist die Feststellung, dass eine überwiegende Anzahl von Kindern in der Einrichtung sexuelle Gewalt erfahren hatten und diese Problematik in dem untersuchten Zeitraum zugenommen hatte. Die beiden Autor*innen beschreiben „Problemlage & Forschungsinteresse“ und widmen sich dann der „interfamilären Gewalt“, der „Gewalt gegen Kinder“, der sexuellen „Gewalt gegen Kinder durch erwachsene Täter*innen“, der „Gewalt unter Kindern“ sowie der sexuellen „Gewalt gegen Geschwisterkinder“. In weiteren Punkten werden die verschiedenen, bei sexueller Gewalt ins Spielt kommenden „Hilfesysteme“ betrachtet und schließlich ein Fazit gezogen.

Im letzten Beitrag der Veröffentlichung stellt Kathinka Beckmann das „Forschungsdesign der KiD Verlaufsstudie“ dar.

Im Anhang sind die Grunddaten der Aktenanalyse zu finden sowie der Fragebogen und der Interviewleitfaden. Die Veröffentlichung schließt mit Angaben zu den Autor*innen und einer Danksagung.

Diskussion

Kinder, um deren Wohl und Wehe es bei Gewaltbelastungen und somit Kindeswohlgefährdungen maßgeblich geht, sind bedauerlicherweise nur selten die Zielgruppe in Untersuchungen, wie es für sie nach der Feststellung einer Kindeswohlgefährdung weitergeht und welche Vorerfahrungen sie vor allem im Jugendhilfesystem gemacht haben. Mit anderen Worten: Was wissen wir über die Wirksamkeit von Jugendhilfemaßnahmen im Hinblick auf betroffene Kinder? Dabei wären diese Perspektive und Erkenntnisse hierzu mehr als sinnvoll. Einerseits kann es betroffenen Kindern schwierige Erfahrungen und Um- und Irrwege im Kinder- und Jugendhilfesystem, aber vor allem emotionale Kosten ersparen und damit perspektivisch andererseits unnötige Ausgaben hinsichtlich nicht immer problemadäquater Maßnahmen verringern. Denn erst die intensive Beschäftigung mit der Situation betroffener Kinder gibt Aufschluss darüber, ob die Verfahren, wie sie derzeitig organisiert und verantwortet werden, tatsächlich optimal im Sinne eines qualitativ hochwertigen Kinderschutzes erfolgen. Also sind die Hilfen tatsächlich passgenau oder folgen sie doch zu sehr bestimmten Vorwegannahmen? Hier bearbeitet die vorliegende Veröffentlichung eine wesentliche Lücke und wirft einen Blick auf die strukturellen Risiken der Kinder- und Jugendhilfe für gewaltbetroffene Kinder.

Die Leistungen nach dem SGB VIII zur Unterstützung und Hilfe für Kinder und ihre Familien haben sich nach dem individuellen Bedarf im Einzelfall auszurichten, so sagt es das Gesetz. Dennoch scheint häufig die Praxis hinter den normierten Ansprüchen zurückzubleiben. Es entsteht der Eindruck, dass oftmals eher systemorientiert Hilfen gewährt werden als mittels einer gründlichen sozialpädagogischen Falldiagnostik geprüft wird, was für das einzelne Kind das Beste ist. Es erfolgt eine zu starke Konzentration auf die Symptome und eine schnelle Abhilfe als die erforderliche Gründlichkeit. Nicht zuletzt kann dies auch als Reaktion der Jugendämter darauf gewertet werden, dass ihnen vorgeworfen wird, in Kinderschutzfällen oftmals zu langsam oder zu wenig getan zu haben, wenn diese zum Nachteil der betroffenen Kinder ausgehen.

Dass oftmals Entscheidungen auch nach Kostengünstigkeit in den Jugendämtern getroffen werden, ist keine neue Erkenntnis. Und natürlich ist mancherorts die Fallbelastung der Jugendamtsmitarbeiter*innen viel zu hoch und somit bleibt zu wenig ausreichende Zeit für den Einzelfall. Infolgedessen wurden in den in der vorliegenden Veröffentlichung untersuchten Fällen oftmals die Empfehlungen des KiD durch die Jugendämter nicht umgesetzt, weil sie meistens „zu teuer“ waren. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass – wenn den Empfehlungen gefolgt wurde – die weiteren Werdegänge der betroffenen Kinder positiver verliefen.

Dennoch ist es erschreckend, dass bei nicht wenigen Fällen der Vermittlung in das KiD durch Jugendämter nicht von einer Misshandlung ausgegangen wurde, bzw. diese kein Grund für die Vermittlung war, sondern erst in der Einrichtung aufgrund der dort erfolgten profunden Diagnostik festgestellt wurde. Die Ausnahme stellen Meldungen bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder dar. Diese Form der Gewalt führt augenscheinlich zu einer erhöhten Aufmerksamkeit bei Fachkräften und eine solche Vermutung scheint eher zu konstatieren und Anlass der Weiterverweisung in Spezialeinrichtungen zu sein als ein möglicherweise besser feststellbares Versorgungsdefizit, beispielsweise im Kontext der Kindesvernachlässigung. Die Vermutungen sexualisierter Gewalt als Anlass für den Überweisungskontext bestätigten sich gleichwohl nicht in allen Fällen. Eine weitere Feststellung für die Bereitschaft der Jugendämter in die Spezialeinrichtung zu verweisen sind darüber hinaus deutlich sichtbare Verhaltensauffälligkeiten von Kindern.

Eines wird in der vorliegenden Veröffentlichung überdeutlich: Die Entscheidungen der ASD Mitarbeiter*innen haben langfristige Folgen, weshalb es umso wichtiger ist, das eigene Vorgehen, die eigenen Entscheidungen, die eigene Haltung und die Sicht auf das betroffene Kind zu reflektieren. Dabei gibt es kein richtig oder falsch, sondern es bedarf eines konstruktiven Miteinanders. Denn die Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung ist objektiv nur wenig bestimmbar und hängt stattdessen sehr von den Einschätzungen der unterschiedlichen Akteur*innen und ihrer jeweiligen Hintergründe ab.

Fazit

Es ist ein Verdienst der vorliegenden Veröffentlichung, die Wirksamkeit von Jugendhilfemaßnahmen vor und nach der stationären Unterbringung von gewaltbelasteten Kindern zu untersuchen. Auch wenn es sich um eine Spezialeinrichtung für gewaltbetroffene Kinder handelt, geben die Werdegänge der 478 untersuchten Fälle viele Hinweise auf strukturelle Probleme im Kinder- und Jugendhilfesystem sowie beim Handeln und der Einschätzung von Jugendämtern. Daher sei die Lektüre insbesondere den Fachkräften im ASD empfohlen.

Rezension von
Martina Huxoll-von Ahn
Stellv. Geschäftsführerin Der Kinderschutzbund Bundesverband e.V.
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Es gibt 27 Rezensionen von Martina Huxoll-von Ahn.

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Zitiervorschlag
Martina Huxoll-von Ahn. Rezension vom 07.03.2023 zu: Kathinka Beckmann, Franziska Breitfeld, Claus Gollmann, Vera Morawetz, Katja Werner: Kindeswohlgefährdung - was kommt danach? Ein multidisziplinärer Blick auf die Werdegänge 478 gewaltbelasteter Kinder und ihre Hilfesysteme auf Grundlage der KiD-Verlaufsstudie. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2021. ISBN 978-3-7344-1159-5. Reihe: Wochenschau Wissenschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29475.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.


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