Dieter Heitmann: Fallstudien zur psychologischen Widerstandsfähigkeit
Rezensiert von Dipl.-Ing., Dipl.-Pflegew. Jens-Martin Roser, 01.11.2005

Dieter Heitmann: Fallstudien zur psychologischen Widerstandsfähigkeit. Zur Situation pflegender Angehöriger während der Versorgung in der letzten Lebensphase.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2005.
220 Seiten.
ISBN 978-3-8300-1765-3.
68,00 EUR.
Reihe: Schriftenreihe Pflegewissenschaft in Forschung und Praxis - Band 2.
Thema
Die Leistungen von pflegenden Angehörigen sind in den letzten Jahrzehnten zwar mehr in den Blick der Wissenschaft und der Öffentlichkeit gerückt, es hat sich dabei jedoch zunächst hauptsächlich eine Sichtweise entwickelt, welche die Angehörigen vor allem als Ressourcen der Versorgungssysteme sieht. In Untersuchungen und Beschreibungen, die darüber hinaus den Blick auf das Erleben der Angehörigen lenkten, wurden bislang zumeist ihre Leistungen im Kontext ihrer Belastungen und Entlastungsmöglichkeiten reflektiert. Ihren Ressourcen und Möglichkeiten, für sich negative Konsequenzen aus der Pflegetätigkeit zu vermeiden und Pflegeverläufe erfolgreich zu bewältigen, ist von Pflege und Gerontologie bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Ansätze zur Beschreibung der Fähigkeit, eine weitgehend "normale Entwicklung" auch unter hohen Anforderungen aufrecht zu erhalten, bietet die Entwicklungspsychologie mit dem Konzept der "psychologischen Widerstandsfähigkeit" oder "Resilienz". In der Untersuchung, die dem Buch zu Grunde liegt, wurden Interviews mit Menschen ausgewertet, die ihre Angehörigen in den letzten Phasen ihres Lebens begleitet haben. Das Konzept der Resilienz bildete dabei den zentralen Gesichtspunkt der Auswertung.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist hervorgegangen aus der Diplomarbeit des Autors an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld 2004 im Schwerpunkt Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung. Sie steht im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Begleitforschung eines Modellprojekts zur "Finanzierung palliativ-pflegerisch tätiger Hausbetreuungsdienste in Nordrhein-Westfalen". Die Träger des Projekts waren Kranken- und Pflegekassen des Landes Nordrhein-Westfalen. Die wissenschaftliche Begleitforschung wurde vom Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld von Mitte 2000-Ende 2002 durchgeführt. Für die Diplomarbeit hat der Autor im Rahmen dieser Begleitforschung eine Sekundärdatenanalyse durchgeführt, also bereits erhobene und ausgewertete Daten noch einmal analysiert, - mit veränderten Fragestellungen und Gesichtspunkten.
Der Autor
Dieter Heitmann, MPH, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist klar, übersichtlich und nachvollziehbar gegliedert in 9 Kapitel in der üblichen Struktur eines Forschungsberichtes.
- In der im ersten Kapitel wird unter der Überschrift Problemhintergrund der bisherige Kenntnisstand zur psychologische Widerstandsfähigkeit pflegender Angehöriger von Menschen in der letzten Lebensphase umrissen und in einem zweiten Abschnitt die gesundheitswissenschaftliche Bedeutung dieses Themas eingeordnet.
- Im zweiten Kapitel beschreibt der Autor die Situation in der häuslichen Pflege. Er teilt diese Beschreibung ein in die Abschnitte Lebenswelt und Versorgungssystem, Merkmale der Pflegepersonen und Beziehungskonstellationen. Pflegebereitschaft und Zustandekommen des Pflegearrangements und Situation pflegender Angehöriger. Den letztgenannten Abschnitt zur Situation pflegender Angehöriger gliedert er noch einmal in die Unterabschnitte Belastungen und Beeinträchtigungen und Unterstützung und Entlastung. Insgesamt reflektiert der Autor im zweiten Kapitel die wesentliche Literatur zur Situation der häuslichen Pflege in der notwendigen Ausführlichkeit, aber auch kompakt und gibt dem Leser damit eine fundierte und umfassende Darstellung darüber, welche Erkenntnisse zum Thema gesichert und welche Fragen noch offen sind. Anhand seiner Darstellung wird insbesondere deutlich, dass es zum Bereich Belastung und Beeinträchtigungen pflegender Angehöriger schon einige Befunde gibt, so zum subjektiven Belastungsempfinden, zu den Belastungsquellen und Auswirkungen auf die Lebensbedingungen und Erwerbstätigkeit und zu den Auswirkungen auf die Gesundheit.
- Das dritte Kapitel, Häusliche Palliativpflege, gliedert sich in die Abschnitte Entwicklung, Zielsetzung und Gedanke von "Palliative Care", und Struktur, Versorgung und Nutzer häuslicher Palliativpflege und umfasst damit die Darstellung eines Basiswissens über diesen Versorgungsbereich als Feld der Untersuchung.
- Im vierten Kapitel Resilienz stellt der Autor das Schlüsselkonzept seiner empirischen Arbeit vor. Er gliedert das Kapitel in die Abschnitte Risiko und Resilienz, Resilienz im Kinder und Jugendalter und Resilienz im Kontext der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Mit dem Thema 'Resilienz im Kontext der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne' befasst sich der Autor sehr ausführlich und untergliedert den Abschnitt dementsprechend tief. Die erste Gliederungsebene umfasst drei Unterabschnitte. Im ersten Unterabschnitt Resilienzkonstellationen im kognitiven Bereich geht er ein auf Resilienzkonstellationen im kognitiven Bereich, deren Darstellung er wiederum untergliedert in die Bereiche Weisheitsbezogenes Wissen und Aspekte der Expertise. Im zweiten Unterabschnitt geht es um interventionsbasierte Resilienzkonstellationen im kognitiven Bereich (mit Exkurs Resilienz im pflegewissenschaftlichen Kontext) ohne weitere Untergliederungen. Der dritte Unterabschnitt ist versehen mit der Überschrift: Selbst und Persönlichkeit und noch einmal gegliedert in die Bereiche Persönlichkeitseigenschaften, Selbstregulative Prozesse (mit Exkurs: Angstbewältigung), Bewältigung im Kontext des "SOK-Modells" und Selbstdefinition.Den Unterabschnitt überschreibt der Autor unter mit dem Thema Soziale Beziehungen. Er ist nicht weiter untergliedert.
- Im fünften Kapitel stellt der Autor Fragestellung und Zielsetzung seiner Arbeit vor. Er begründet seine Entscheidung für die auf der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne beruhenden Auffassung von Resilienz, die sich von anderen Modellen unterscheidet mit mehreren Argumenten. Er benennt sein Ziel, Einfluss und Bedeutung von psychologischer Widerstandsfähigkeit in der Versorgung während der letzten Lebensphase heraus zu arbeiten, um Rückschlüsse für Handlungsmöglichkeiten und -grenzen zur Stabilität des Versorgungskonzeptes zu ermöglichen und formuliert entsprechende Fragestellungen.
- Im sechsten Kapitel stellt der Autor das Forschungsdesign vor, indem er im ersten Abschnitt auf den oben bereits skizzierten Untersuchungskontext eingeht, im zweiten Abschnitt das Ausgangs-Material, 11 leitfadengestützte Interviews mit primär narrativem Charakter, vorstellt und im dritten Abschnitt ausführlich sein Methodisches Vorgehen, - qualitativ, biografisch fallrekonstruktiv, Fallauswahl im "theoretical sampling (letztendlich 4 Fälle) -, beschreibt und begründet.
- Im siebten Kapitel, Psychologische Widerstandsfähigkeit bei pflegenden Angehörigen - Ergebnisse wird in vier Abschnitten jeweils ein Fallporträt anhand einer der Darstellung des Fallverlaufs und der Falldiskussion vorgestellt. Beim ersten der aus den Interviews rekonstruierten Fälle handelt es sich um die Geschichte einer 68-jährigen Hausfrau, deren fünf Jahre älterer Mann fünf Monate nach der Diagnosestellung einer Tumorerkrankung zu Hause verstorben ist. Beim zweiten Fall geht es um die Erlebnisse einer 45-jährigen Frau, deren vier Jahre älterer Mann etwa ein Jahr nach der Diagnosestellung eines Darmtumors in einem Hospiz verstorben ist. Die dritte Erzählerin ist eine 58-jährige Frau, die zwei Jahre lang ihren an Lungenkrebs erkrankten Mann gepflegt hat. Dieser hat die letzten Wochen seines Lebens im Hospiz verbracht. Das vierte ausgewertete Interview ist mit einem Mann geführt worden, einem Pensionär, der seine an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte Frau beinahe zwei Jahre bis zu ihrem Tode zu Hause betreut hat.
- Im achten Kapitel nimmt der Autor eine fallübergreifende Diskussion vor. In einer Fallkontrastierung im ersten Abschnitt stellt er zweimal zwei Fälle einander gegenüber und arbeitet die Unterschiede des Handelns und Erlebens der Interviewteilnehmer in der letzten Lebensphase ihres Partners heraus. Zentraler Gesichtspunkt ist dabei der Blick auf die jeweiligen Resilienzkonstellation. In den Ausführungen zur Bedeutung von Belastungen und Beeinträchtigungen im zweiten Abschnitt werden die empirischen Befunde der Untersuchung mit den Ergebnissen der Literaturanalyse verglichen. Das Erleben kritischer Lebensereignisse und einsetzende Bewältigung wird im dritten Abschnitt beleuchtet, um im vierten Abschnitt zum Thema der Resilienz überzugehen, indem Bewältigungsprozesse als Teil individueller Resilienzkonstellationen betrachtet werden. Im fünften Abschnitt widmet sich der Autor dem Zusammenhang von Selbst, Persönlichkeit und kognitive[n] Fähigkeiten in Resilienzkonstellationen, im sechsten Abschnitt beschreibt er, wie sich soziale und professionelle Unterstützung in Resilienzkonstellationen darstellen. Im siebten Abschnitt werden Resilienz und Versorgungssystem im Zusammenhang betrachtet und im achten Abschnitt abschließend forschungsmethodische Herausforderungen identifiziert, die der Autor bei der Untersuchung zu bewältigen hatte.
- Das Buch schließt im neunten Kapitel mit einer Schlussbetrachtung. Nach seiner Ansicht machen die Ergebnisse der Studie deutlich,..."dass die Fokussierung auf ihre Belastungen [der pflegenden Angehörigen, JR] zu einseitig ist und zurückgewiesen werden muss."... Er leitet Schlußfolgerungen für die professionellen Pflege und das Versorgungssystem sowie weiteren Forschungsbedarf ab. Im Zusammenhang damit weist er auf die Grenzen der Untersuchung hin. Am Ende würdigt er seine Arbeit als Beitrag zur Verbesserung der empirischen Befundlage über die Qualität des Sterbens im häuslichen Umfeld.
Zielgruppen
Als Bericht über eine empirische Studie ist das Buch von der Form her zunächst gerichtet an Personen und Gruppen im Gesundheitsbereich, die sich auf wissenschaftlicher Ebene mit der Situation von pflegenden Angehörigen sterbenskranker Menschen beschäftigen. Grundsätzlich wurde es jedoch auch mit der Absicht veröffentlicht, allen Menschen, die in irgendeiner Weise mit dem Thema befasst sind, die Möglichkeit zu geben, sich damit intensiver auseinanderzusetzen.
Fazit
"Fallstudien zu psychologischen Widerstandsfähigkeit" befasst sich mit einem Gesichtspunkt, der bei der Erforschung der Situation von Menschen in der letzten Lebensphase und deren Angehörigen bislang wenig berücksichtigt worden ist und dem sicherlich bei der Konzeption von Hilfsangeboten und auch im praktischen Handeln bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Insofern enthält diese Buch tatsächlich ein großes Potenzial, - mittelbar oder unmittelbar -, wichtige Anstöße zu Verbesserung von Hilfeleistungen für pflegende Angehörige zu geben.
Als empirischer Beitrag zur Pflege- und Versorgungswissenschaft ist die Untersuchung, wie der Autor sinngemäß selbst bemerkt, als ein erster begrenzter, aber bedeutender Vorstoß in die Erforschung der Widerstandsfähigkeit von pflegenden Angehörigen zu sehen, der auf großen weiteren Forschungsbedarf hinweist.
Fachleute, die sich auf wissenschaftlicher Ebene und auf der Ebene der Aus- Fort- und Weiterbildung mit den Bedürfnissen von pflegenden Angehörigen beschäftigen, sollten das Buch lesen. Außerdem sollte es professionellen Helfer in der Praxis im Bücherregal oder in der Bibliothek an ihrem Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden. Allerdings erschließt es sich aufgrund seiner wissenschaftlichen Form nicht jedem Menschen durch reines Lesen. Möglicherweise könnte professionellen Helfern das Wissen über psychologische Widerstandsfähigkeit eher in Schulungseinheiten oder Gesprächsrunden auf der Grundlage der Fallbeschreibungen des Buches vermittelt werden.
Rezension von
Dipl.-Ing., Dipl.-Pflegew. Jens-Martin Roser
MScN
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