Wolfgang Metzger: Schöpferische Freiheit
Rezensiert von Helmwart Hierdeis, 19.08.2022

Wolfgang Metzger: Schöpferische Freiheit. Gestalttheorie des Lebendigen.
Verlag Wolfgang Krammer
(Wien) 2022.
192 Seiten.
ISBN 978-3-901811-80-7.
D: 26,00 EUR,
A: 26,00 EUR.
Marianne Soff, Gerhard Stemberger (Hrsg.).
Autor
Wolfgang Metzger (1899 – 1979) war ein bedeutender Vertreter der Gestalttheorie. Nach breit angelegten Studien (u.a. Psychologie, Physik und Philosophie) in Heidelberg, München, Berlin und in den USA wurde er 1926 promoviert. Die Habilitation erfolgte 1932 in Frankfurt. Von 1942 bis 1967 war er Professor für Psychologie an der Universität Münster. Er gehörte 1947 zu den Mitbegründern der Interdisziplinären Studiengesellschaft. Neben „Schöpferische Freiheit“ (erschienen 1949, 2. Auflage 1962) gelten „Psychologie – Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments“ (erschienen 1941, letzte Auflage 2001) und „Gesetze des Sehens“ (erschienen 1936, letzte Auflage 2008) zu seinen einflussreichsten Veröffentlichungen.
Herausgeberin und Herausgeber
Dr. Marianne Soff ist Psychologische Psychotherapeutin und Akademische Oberrätin für Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Seit ihrer Habilitation 2019 vertritt sie auch das Fach „Erziehungswissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Gestalttheorie“.
Dr. Gerhard Stemberger ist Lehrtherapeut für Gestalttheoretische Psychotherapie in Wien und Berlin, Autor und Mitherausgeber von „Gestalt Theory – An international Multidisziplinary Journal“ sowie von „Phänomenal – Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie“.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste, überschrieben mit „Die Arbeit am Lebendigen als Prüfstein des Wachsens schöpferischer Freiheit“ (5 ff.), entwickelt in den vier Abschnitten „Die Bedeutung der Lebendigkeit“ (8 ff.), „Arten der Arbeit am Lebendigen“ (27 ff.), „Gestalt und Form“ (33 ff.) sowie „Was bedeutet Freiheit bei den schöpferischen Tätigkeiten?“ (48 ff.) die theoretischen Grundlagen. Sie sind primär in der „Gestalttheorie“ der früheren „Berliner Schule“ (Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Lewin) zu finden, in zweiter Linie in der Ganzheitspsychologie der „Leipziger Schule“ (Felix Krüger, Otto Klemm, Hans Volkelt). Sie scheint aber in Metzgers Belegen nicht auf. Der zweite Teil diskutiert unter der Überschrift „Möglichkeiten der Pflege schöpferischer Freiheit“ (72 ff.), ob und wie sich „schöpferisches Denken“ üben (74 ff.), „schöpferisches Gestalten“ lehren (99 ff.) und „schöpferisches Handeln“ gezielt vermitteln lässt (123 ff.). Dabei greift Metzger mehrfach auf didaktische Erfahrungen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht zurück, wie sie seit der Reformpädagogik vorliegen.
Gerahmt wird seine Abhandlung durch ein Geleitwort von Jürgen Kriz, der „die zentralen Botschaften und Erkenntnisse von Wolfgang Metzger für eine notwendige Mahnung vor den Irrwegen einer zunehmenden Funktionalisierung, Medikalisierung und fortschrittsgläubigen Optimierung (für welche Zwecke auch immer) des Menschen in unserer Zeit“ (VII) hält. Ihm schließt sich eine „Editorische Vorbemerkung“ von Marianne Soff und Gerhard Stemberger (IXff.) an, in der sie die dem Konzept von Metzger innewohnende Ethik der Selbstbestimmung hervorheben, dazu seine „Anregung, schöpferische Vorgänge aller Art grundsätzlich als freie, nur vom Ziel her gesteuerte Prozesse zu betrachten“ (IX). Sie wird durch eine geraffte „Publikationsgeschichte der ‚Schöpferischen Freiheit’“ seit 1949 (XI) ergänzt. Herausgeberin und Herausgeber fügen dem Textkorpus zwei Anhänge hinzu, in denen sie – als Erziehungswissenschaftlerin die eine, als Therapeut der andere – die „Bedeutung der ‚Schöpferischen Freiheit’ für Unterricht und Erziehung“ (161 ff.) und die Möglichkeiten einer Übertragung des Konzepts auf die Psychotherapie (167 ff.) diskutieren.
Der Überblick reiht zwar die für Metzger entscheidenden Begriffe aneinander, schafft aber noch nicht ausreichend Klarheit über das mit ihnen Gemeinte.
(1) Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Beobachtung, dass in zwischenmenschlichen, insbesondere pädagogischen Beziehungen zu viel auf fremd gesetzte Ziele hin agiert, also gemacht wird. Dieses Machen entspricht für ihn allenfalls dem Umgang mit einem „unbelebten Stoff“ (vgl. 8). Lebendiges aber sei wesenhaft: „Ein Wesen […] ist ein schon von sich aus, nach eigenen inneren Gesetzen, seiner Eigenart entsprechend gestaltetes oder besser: sich gestaltendes und sich verhaltendes Ganzes“ (12). Die „Nicht-Beliebigkeit der Form“ (12) schließt jedes technizistische Verständnis aus. Es kann also nur um eine „Gestaltung aus inneren Kräften des Gegenstands“ (13) gehen. Sie wiederum erzwingt eine „Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeiten“ (16) und der „Arbeitsgeschwindigkeit“ (18); „Umwege“ (19) sind notwendig und erlaubt. Die an einem „lebendigen Gegenstand“ arbeitende Person ändert sich im Laufe des Prozesses ebenso wie ihr Objekt. Das „Geschehen“ ist demnach „wechselseitig“ (22).
In der Zusammenfassung dieser „Merkmale der Arbeit am Lebendigen“ (12 ff.) rückt Metzger in den Fokus, um welches „Lebendige“ es ihm eigentlich geht: „Bei der ausgeprägtesten Art der Arbeit am Lebendigen, der pflegerischen Arbeit, haben Ziel, gestaltende Kräfte, Gezeiten und Ablaufgeschwindigkeit der Arbeit ihren Ursprung im Inneren des betreuten Wesens. Sie sind daher der Willkür entzogen. Während bei der Arbeit am toten Stoff so gut wie alle diese Bestimmungen herangetragen werden und insoweit sich willkürlich festsetzen lassen, ist die Betreuung ein Frage- und Antwortspiel zwischen dem Betreuer und dem betreuten Wesen“ (25).
(2) Metzger operiert mit einem auf die „Arbeit am Lebendigen“ zugeschnittenen Begriff von „schöpferischer Freiheit“. Der abendländischen „mechanistische(n) Lebensauffassung“ (57), Menschen seien „zu einem bestimmten Ziel zu bewegen und dort festzuhalten“ (57) und zwar mit Verboten, Zwängen und Belohnungen, setzt er – vor dem Hintergrund fernöstlicher Philosophie (Zen-Buddhismus) – das Postulat entgegen, dass bei „dem freien, nur durch Feldkräfte gesteuerten Vorgehen […] das Ziel und der dieses Ziel verfolgende Mensch als Teilgegebenheiten eines sie beide umfassenden Gestaltzusammenhanges zu betrachten (sind)“ (59).Das selbstgewählte Ziel soll durch seine Attraktivität einen „Zug“ auslösen, der „in jedem Punkt des Bewegungsraums wirksam“ (59)“ wird. „Freiheit“ ist demnach Abwesenheit von äußerem Zwang, „der Abirrungen von dem Weg zu einem gegebenen Ziel verhindern soll“ (65). Nicht nur Umwege, auch Irrtümer dürfen sein. Nur auf diesem Wege öffnet sich für den Menschen der Raum, in dem er seine Ziele erkennen und seine Möglichkeiten erproben kann.
(3) Weil die so verstandene „schöpferische Freiheit“ nicht der Initiative, dem Vermögen und der Lebenssituation der einzelnen Person überlassen bleiben, sondern Anregungs- und Verwirklichungsraum für alle werden soll, sind die Möglichkeiten der Vermittlung ins Auge zu fassen (vgl. 72). Für Metzger sind dabei drei zentrale, sich überschneidende Dimensionen des Schöpferischen maßgeblich: „Denken“, „Gestalten“ und „Handeln“ (73).
Was die erstgenannte Dimension angeht, findet er verwandte Konzepte und Erfahrungen in den Didaktiken von Martin Wagenschein und Maria Montessori. Eine besonders inspirative Quelle für das Mögliche und durch die Schule oft Verunmöglichte findet er bei seinem früheren Lehrer Max Wertheimer. Dessen Formulierung „’absichtslos wartende’ Aufmerksamkeit“ (98) hat es ihm besonders angetan (die Herkunft dieser Idee von Herbart und Freud war ihm unbekannt?). „Schöpferisches Gestalten“ (99 ff.) sieht er vor allem in Literatur, Kunst, Architektur und Musik am Werk. Der Schaffensprozess in diesen musischen Bereichen orientiert sich für ihn an einem „inneren Bild“, einer „Gestalt“: „Es wird nicht gemacht, nicht zusammengefügt […]. Das innere Bild entsteht, indem es wächst, indem es sich selbst ausformt und durchgliedert und bis zu seiner Vollendung umordnet und berichtigt“ (99) – gefördert am besten durch bewährte Praktiken aus dem Arsenal der Reformpädagogik: „Vermeidung formaler Routine“ (113), Übung aller Sinne und freies Experimentieren, gleichgültig, mit welchem Material.
„Schöpferisches Handeln“ (123 ff.) schließlich setzt „Liebe zur Sache“ (145) voraus, weil sie die Attraktion des Ziels erhöht, den Arbeitsprozess in Gang hält und ein „Gefühl für den rechten Augenblick“ (125) entstehen lässt. Im Gelingen oder Misslingen des Arbeitsgeschehens wird das „freie Wechselspiel“ (140) zwischen dem Handelnden und seinem Gegenstand besonders augenfällig. Der Person, die diese Arbeit begleitet, gibt Metzger etwas pathetisch eine Empfehlung mit auf den Weg: „Die Förderung schöpferischen Handelns kann nicht in der Errichtung von Hindernissen falschen Verhaltens, sondern nur in der Beseitigung von Hindernissen des Richtigen bestehen. Ein Übungsplan, der dieser Förderung dienen soll, darf seinem Wesen nach nicht die summenhafte Hinzufügung von neuen ‚Vorrichtungen des Könnens’, sondern er muss eine mehr oder weniger tiefgreifende Umwandlung des ganzen Menschen und seiner Welt bezwecken, derart dass das erstrebte Können von ihm künftig ungehemmter, reibungsloser und zielsicherer ausgeübt wird“ (157).
Diskussion
In ihrem Text zur Übertragbarkeit der „Schöpferischen Freiheit“ auf Unterricht und Erziehung (161 ff.) macht Marianne Soff darauf aufmerksam, dass sich Metzgers Opus „in seiner vollen Bedeutung […] nicht beim einmaligen Lesen und schon gar nicht bei flüchtigem Überfliegen erschließt. Ohne ausführliche Beschäftigung könnte das Buch, je nachdem, als sperrig oder auch banal oder (zumal wegen der zeitgebundenen Bezüge und Erziehungsmaximen, die in den Text eingeflossen sind) auch etwas verstaubt erscheinen und beurteilt werden“ (161). Vielleicht liegt für mich als jemanden, der zum Zeitpunkt der 2. Auflage des Buchs (1962) mitten im Pädagogikstudium stand und zu dessen wissenschaftlicher Nahrung lange Zeit Geisteswissenschaftliche und Normative Pädagogik gehörten (dazu die reformpädagogischen Schriften mit ihrem Glaubenswissen über Kindheit, Jugend und das pädagogische Verhältnis), die Rezeptionsschwierigkeit weniger in der Sprache.
„Natur“, „Wesen“, „Freiheit“, „Lebendigkeit“, „Gestalt“ oder „Schöpferisches“ sind mir in ihrem seinerzeitigen Gebrauch und theoretischen Stellenwert vertraut. Wer sich mit der „Arbeitsschul- und Kunsterziehungsbewegung“ befasst hat, dem sind auch die zahlreichen praktischen Versuche mit ihren Rechtfertigungen bekannt, in denen die Heranwachsenden in größtmöglichen Freiräumen sich über Arbeit und schöpferisches Tun selbst finden sollten. Dass dies mit großem Engagement, aber selten auf einem wissenschaftlich abgesicherten systematischen Fundament geschah, merkt auch Metzger an (5 ff.) – ohne aber zu sagen, auf welche Forschung man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten berufen können.
Auch die Gestalttheorie war ja erst in statu nascendi. Mit Metzger hat sich ein systematisch denkender, offenbar selbstbewusster und weit über sein Fach Psychologie hinausschauender Vertreter an eine neue Begründung der pädagogischen Arbeit gemacht – wie seine Theorie zum „Lebendigen“ und seine Präzisierung der „schöpferischen Freiheit“ (in Abgrenzung von der Kunsterziehungsbewegung) zeigen, mit fruchtbaren Nachwirkungen bis in die Pädagogik und Psychotherapie die Gegenwart hinein. Das belegen die beiden Texte von Marianne Soff und Gerhard Stemberger im Anhang (161 ff.). Dem Begriff „Arbeit“ hat er, obwohl zentral für seine Argumentation, nicht die nämliche Aufmerksamkeit gewidmet. Er hätte bemerken müssen, dass die Formel „Arbeit am Lebendigen“ zwangsläufig in den Kontext des Machens gerät, den er doch vermeiden wollte, und dass eine Formel „Arbeit mit dem Lebendigen“ der von ihm postulierten „Wechselseitigkeit des Geschehens“ (22 ff.) eher entsprochen hätte.
Zwei weitere Fragen haben sich mir bei der Lektüre gestellt. Einmal: So anziehend seine Idee der „schöpferischen Freiheit“ ist und so einleuchtend die Vorschläge zur Realisierung sind: Unterschätzt der Autor nicht die Beharrungskräfte der Bildungsorganisation? Und mit welchen Kompromissen wäre der Dauerdissens abzumildern? Und dann: Vernachlässigt Metzger in seiner spürbaren Freiheitsemphase nicht den Bereich der inneren Hemmnisse auf beiden Seiten des pädagogischen Verhältnisses? Hier hätte ihm die Psychoanalyse ein immenses theoretisches und kasuistisches Material zur Verfügung stellen können. Aber das Problem ernst zu nehmen, hätte auch bedeutet, sich überlegen zu müssen, wie eine pädagogische Professionalität angebahnt werden könnte, die in der Lage ist, die Abkömmlinge des Unbewussten zu erkennen und mit ihnen umzugehen.
Fazit
„Schöpferische Freiheit“ ist ein mit Verve verfasstes, nicht leicht zu rezipierendes, aber – auch wegen der Fragen, die es aufwirft – die Lektüre lohnendes Werk, für dessen Wiedervorlage den beiden dafür Verantwortlichen zu danken ist. Für manches, was theoretisch nicht aufs erste zugänglich erscheint, findet sich in den eingestreuten Lehrerzählungen aus dem Zen-Buddhismus der passende Schlüssel. Die in ihnen zum Ausdruck kommende Kultur des Wartenkönnens birgt vielleicht auch die angemessene Einstellung zur Lektüre. Ich versuche sie, dadurch angeregt, so zu umschreiben „Lies nicht wie ein Suchender, der unbedingt etwas finden will, sondern wie ein Wanderer, dem die Landschaft entgegenkommt“.
Rezension von
Helmwart Hierdeis
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