Sarah Karim: Arbeit und Behinderung
Rezensiert von Sascha Omidi, 15.09.2022

Sarah Karim: Arbeit und Behinderung. Praktiken der Subjektivierung in Werkstätten und Inklusionsbetrieben.
transcript
(Bielefeld) 2021.
287 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5607-7.
D: 39,00 EUR,
A: 39,00 EUR,
CH: 47,60 sFr.
Reihe: Disability studies - Band 16.
Thema
Sarah Karims Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit sich leistungsbezogene Anrufungen unserer Leistungsgesellschaft auch in den alltäglichen Praktiken und Anrufungen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung und Inklusionsbetrieben niederschlagen. Auf diese Weise will sie den Zusammenhang zwischen hegemonialen Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes und prekarisierten Arbeitswelten untersuchen.
Autorin
Sarah Karim ist Soziologin. Sie lehrt und forscht zu Disability Studies und Soziologie der Behinderung an der Universität zu Köln.
Entstehungshintergrund
„Arbeit und Behinderung. Praktiken der Subjektivierung in Werkstätten und Inklusionsbetrieben“ wurde als Dissertation an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln angenommen.
Aufbau und Inhalt
Karims Arbeit besteht neben dem Vorwort und dem Literaturverzeichnis aus sieben Kapiteln mit jeweils mehreren Unterabschnitten.
1. Einleitung
Hier führt sie aus, dass Behinderung als gesellschaftliches Phänomen tief verbunden mit der jeweils vorherrschenden Organisation und Kultur der Arbeit ist (vgl. ebd.: 13). Dies führt zu der Annahme, dass auch marginalisierte Personengruppen wie z.B. Menschen mit Lernschwierigkeiten sich im Kontext der Erwerbsarbeit immer mit unterschiedlichsten Anrufungen konfrontiert sehen.
2. (Erwerbs-)Arbeit, Behinderung und Inklusion: ein ambivalentes Verhältnis.
Der Ableismus konstruiert eine spezifische Vorstellung des Selbst und des Körpers, die als perfekt und speziestypisch gilt. Auf diesem Idealbild aufbauend werden Menschen im neoliberalen Kapitalismus als leistungsfähige Arbeitende und Konsumierende angerufen (vgl. ebd.: 40). Auch Menschen mit Behinderung sind durch ein zusehends an wirtschaftlichen Belangen ausgerichtetes Inklusionsverständnis von diesen Anrufungen betroffen (vgl. ebd.: 46 – 47).
3. Praktiken der Subjektivierung theoretisch denken
Karim legt ihrer Arbeit einen subjektivierungsanalytischen Zugang zum Zusammenhang zwischen Arbeit, Behinderung und Inklusion zugrunde. Dabei geht es ihr darum, auf welche Weise Werkstattbeschäftigte und Mitarbeitende eines Inklusionsbetriebs sich tagtäglich multiplen subjektivierenden Anrufungen gegenübersehen, die vielfältige, oftmals normativ geladene und zum Teil widersprüchliche Anforderungen an sie stellen.
4. Methodologie und methodisches Vorgehen
Karim verortet ihr methodisches Vorgehen im Bereich der qualitativen Sozialforschung, die an der Ethnomethodologie orientiert und an der Rekonstruktion kultureller wie sozialer Prozesse interessiert ist (vgl. ebd. 89). Für ihre Beobachtungen begleitet sie jeweils eine Frau und einen Mann aus einer Werkstatt und aus einem Inklusionsbetrieb für ca. drei Tage. Die Beobachtungen werden um kurze Interviews mit den Beteiligten ergänzt.
5. (Erwerbs-)Arbeit und Subjektivierung: eine empirische Studie
Subjektivierung ist in eine Vielzahl von Kontextbedingungen eingebunden. So wirken etwa Räume und Dinge subjektivierend, da Subjekte in der Auseinandersetzung mit Räumlichkeiten und Dingen einen Selbstbezug entwickeln.
Auch Komplexität kann ein Kontextfaktor sein, in den spezifische Anrufungen eingewoben sind. Dies gilt besonders für den Umgang mit bestimmten Maschinen, die spezifische Berechtigungen oder ein erweitertes Fachwissen erfordern. Vor allem im Inklusionsbetrieb wird deutlich, dass mit der Benutzung von Maschinen ein höherer Status einhergeht (vgl. ebd.: 186).
Diskursive Anrufungen wirken nicht zwangsläufig determinierend, und so zeigen die Fokuspersonen durchaus subversives Verhalten. Dies zeigt sich in Situationen, in denen Beschäftigte ihre Rolle und die damit verbundenen eher reduzierten Anforderungen gezielt annehmen, um sich dem allgemeinen gesellschaftlichen Leistungsprinzip zu entziehen (vgl. ebd.: 256).
6. Ambivalente Subjektivierung im Spannungsfeld von Inklusion und Verbesonderung
In der Analyse tauchen immer wieder Ansprüche an die Leistungsfähigkeit als Fremd- und Selbstzuschreibung der Fokuspersonen auf. Diese sind stark mit Konzepten wie Arbeitsgeschwindigkeit oder Selbstständigkeit verbunden. Alle drei Anforderungen werden dabei oft von außen an die Fokuspersonen herangetragen, von diesen aber durchaus auch in selbstdisziplinierender Weise verinnerlicht.
7. Fazit und Ausblick
Im letzten Kapitel ordnet Karim die Ergebnisse ihrer Untersuchung noch einmal in einen erweiterten gesellschaftlichen Rahmen ein. Differenziert diskutiert sie gängige Kritiken am Werkstattsystem wie zum Beispiel die niedrigen Vermittlungszahlen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Gleichzeitig stellt sie fest, dass die Inklusion in sozial ausgrenzende und gerade für gering qualifizierte Arbeitskräfte zusehends prekäre Arbeitsbedingungen nicht das Ziel von Inklusion für Menschen mit Behinderung sein kann. Werkstattbeschäftigung kann in diesem Zusammenhang auch als eine Art Kritik am zeitgenössischen Zwang zur Leistungsfähigkeit verstanden werden. Denn sie erlaubt es einigen Beschäftigten, sich diesem Zwang zumindest punktuell zu entziehen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Beschäftigte auch in der Werkstatt nicht vor den Zumutungen der Leistungsgesellschaft geschützt sind (vgl. ebd.: 269).
Diskussion
„Arbeit und Behinderung“ ist eine sehr gute Studie, die ein Licht auf die vielfältigen Formen von Anrufungen und Selbstpositionierungen von Beschäftigten einer Werkstatt und Mitarbeitenden eines Inklusionsbetriebes wirft. Karim zeichnet darin ein differenziertes Bild von Werkstätten wie auch Inklusionsbetrieben und zeigt, dass es eine unreflektierte Inklusion in den allgemeinen Arbeitsmarkt unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht geben sollte.
Für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten würde dies ein Abgleiten in Prekarität bedeuten. Gleichzeitig zeigt sie auf, dass der „Schutzraum“ Werkstatt oder Inklusionsbetrieb die Beschäftigten nicht unbedingt vor den Anrufungen und den damit einhergehenden Zumutungen des allgemeinen Arbeitsmarktes schützt.
Es wäre schön, wenn Karims Buch über die Hochschulgrenzen hinweg von einem breiteren Publikum wahrgenommen werden würde. Insbesondere die Rezeption im Werkstattbereich wie auch bei dessen Kritikern und Kritikerinnen wäre wichtig, denn sie wirft sowohl ein kritisches Licht auf die Subjektivierungsformen innerhalb der Werkstatt als auch auf unkritische Inklusionsdiskurse, wie sie oftmals von Kritikern und Kritikerinnen des Werkstattsystems zitiert werden.
Interessant wäre ein Hinweis der Autorin gewesen, wie sie die Ergebnisse ihrer Untersuchung den Werkstattbeschäftigten, Mitarbeitenden des Inklusionsbetriebs sowie den Fach- und Führungskräften zugänglich gemacht hat und wie diese die Studie aufgenommen haben.
Fazit
Sarah Karim geht der Frage nach, inwieweit sich hegemoniale, leistungsbezogene Anrufungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in einer Werkstatt für behinderte Menschen und in einem Inklusionsbetrieb im Alltag niederschlagen.
Ihr empirisches Material interpretiert Karim mithilfe eines methodischen Referenzrahmens, in den theoretische Konzepte von Theoretikern und Theoretikerinnen wie Bourdieu, Foucault oder Waldschmidt eingeflossen sind.
Sie kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der vermeintliche „Schutzraum“, den die Werkstatt und der Inklusionsbetrieb Menschen mit Lernschwierigkeiten bieten soll, diese nicht vor leistungsbezogenen Anrufungen und Zumutungen des allgemeinen Arbeitsmarktes bewahrt.
Die Maximen der Leistungsfähigkeit, der Schnelligkeit und der Selbstständigkeit werden sowohl von Beschäftigten als auch von Mitarbeitenden in zum Teil selbstdisziplinierender Weise verinnerlicht und führen zu unterschiedlichen Abgrenzungs- und Hierarchisierungsprozessen innerhalb der untersuchten Betriebe. Da diskursive Anrufungen nicht determinierend wirken können, zeigen die Werkstattbeschäftigten und Mitarbeitenden des Inklusionsbetriebs jedoch auch subversive Verhaltensweisen.
Rezension von
Sascha Omidi
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