Lisa Genova: Die Gabe der Erinnerung und die Kunst des Vergessens
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 16.03.2023

Lisa Genova: Die Gabe der Erinnerung und die Kunst des Vergessens. Wie unser Gedächtnis funktioniert. Ullstein Buchverlage GmbH (Berlin) 2021. 266 Seiten. ISBN 978-3-7934-2438-3. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 24,90 sFr.
Thema
Unsere geistige Leistungsfähigkeit wird von vielen Faktoren bestimmt und beeinflusst, wobei das Gedächtnis eine zentrale Bedeutung besitzt. Sich erinnern können, an Positives ebenso wie an Negatives, ist überlebenswichtig und damit ein entscheidender Wirkfaktor zur Bewältigung der vielfältigen Aufgaben des täglichen Lebens. In dem vorliegenden Sachbuch werden die wesentlichen Zusammenhänge der Erinnerung als auch des Vergessens auf den Ebenen der Hirnphysiologie und des Alltagsverhalten allgemeinverständlich dargestellt.
Autorin
Lisa Genova ist eine US-amerikanische Neurowissenschaftlerin und Schriftstellerin.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit besteht aus drei Teilen mit insgesamt 18 Kapiteln nebst Einleitung und Anhang.
In Abschnitt 1 (Wie wir uns erinnern, Seite 19 – 102) wird das aktuelle Wissen über das Erinnern und damit zugleich das Gedächtnis mit den vier grundlegenden Schritten dargestellt: die Reize oder Impulse werden neurophysiologisch transformiert (Codierung). Es folgt die Verknüpfung der Impulse zu einem Muster oder Engramm (Konsolidierung). Diese Muster werden mit der Zeit verfestigt (Speicherung) und anschließend können diese neurophysiologische Verbindungen als neue Langzeitgedächtnisinhalte reaktiviert werden (Abruf). Damit diese Lernprozesse ihre volle Wirksamkeit entfalten können, ist ein bestimmtes Maß an Aufmerksamkeit erforderlich. „Das unaufmerksame Gehirn ist gleichsam abgeschaltet, mit Tagträumen beschäftigt, auf Autopilot, im Hintergrund angefüllt mit sich wiederholenden Gedanken.“ (Seite 43). Eng verknüpft mit der Aufmerksamkeit ist das Arbeitsgedächtnis oder auch Kurzzeitgedächtnis, denn hier werden die Reize kurzfristig zwecks weiterer Verwendung festgehalten. In diesem Zusammenhang wird die „Millersche Zahl“ angeführt. Nach dieser Zahl werden im Kurzzeitgedächtnis nur 7 plus/minus 2 Impulse kurzfristig und damit gleichzeitig gespeichert.
Anschließend wird u.a. das prozedurale Gedächtnis oder Bewegungsgedächtnis beschrieben, das von der Autorin als „Muskelgedächtnis“ bezeichnet wird. Durch ständiges Üben oder Wiederholen werden dabei bestimmte Handlungsmuster dergestalt abgespeichert, dass sie später nicht mehr vergessen werden können. Wer einmal Fahrradfahren oder Schwimmen gelernt hat, der wird es für immer können, selbst wenn es jahrzehntelang nicht praktiziert wird. Beim prozeduralen Langzeitgedächtnis sind neurophysiologisch tiefere Hirnareale wie das Kleinhirn und die Basalganglien involviert.
In Abschnitt 2 (Warum wir vergessen, Seite 103 – 188) wird zu Beginn mittels der Darstellung mehrerer Experimente auf die Unzuverlässigkeit unseres episodischen Gedächtnisses hingewiesen. So wurde z.B. mittels fingierter Informationen (Fotoalben u.a.) in einem Versuch den Probanden weisgemacht, dass sie als Kind an einem Heißluftballonflug teilgenommen hätten. Bei späteren Befragungen beharrte ein Großteil der Versuchspersonen darauf, sich genau an diesen Flug erinnern zu können.
Es folgen Ausführungen zum prospektiven Gedächtnis, bei dem es laut Wikipedia darum geht, sich daran zu erinnern, zu einem späteren Zeitpunkt eine geplante Handlung auszuführen. Mit Hilfe eines Experiments konnte nachgewiesen werden, dass die Fähigkeit sich prospektiv zu erinnern mit zunehmendem Alter deutlich nachlässt. Während bei den 45jährigen sich noch 75 Prozent nach zwei Stunden an das Geplante erinnern konnten, waren es bei den 65- bis 70jährigen noch ca. 35 Prozent und bei den 75- bis 80jährigen nur noch etwa 20 Prozent. Anschließend beschreibt die Autorin ausführlich die Vergessenskurve von Ebbinghaus aus dem Jahre 1885. Hierbei mussten sinnlose Silben auswendig gelernt werden, die dann anschließend abgefragt wurden. Nach ca. zwanzig Minuten war bereits die Hälfte vergessen und nach einem Tag war das Erinnerungsvermögen auf etwa ein Drittel zurückgegangen. In diesem Zusammenhang wird u.a. auf Sachverhalt verwiesen, dass das Erinnerungsvermögen u.a. deutlich von dem Faktor ständige Wiederholung und dem Faktor persönliche Bedeutsamkeit abhängt. Ein weiteres Phänomen der nichtkrankhaften Hirnalterung zeigt sich in den nachlassenden Fähigkeiten zur geteilten Aufmerksamkeit und zum Ausblenden ablenkender Reize.
Dass das Erinnerungsvermögen im Alter aber auch recht positive Seiten aufweist, wird u.a. am Beispiel der „rosaroten Brille“ veranschaulicht. So wird im Alter deutlich mehr Positives in Erinnerung gehalten, während Negatives hingegen eher vergessen oder doch merklich relativiert wird. Es wird des Weiteren darauf hingewiesen, dass das geistige Leistungsvermögen im Alter generell allmählich abnimmt, und dass man diesen normalen und nicht krankhaften Minderungsprozess auch nicht durch Gedächtnistraining aufhalten kann. Zum Abschluss des Abschnittes verdeutlicht die Autorin den krankhaften geistigen Abbauprozess auch hinsichtlich des Gedächtnisses anhand der Alzheimerdemenz.
Abschnitt 3 (Verbessern oder Verschlechtern, Seite 189 – 234) enthält die Wirkmechanismen und Begleitumstände, die die Erinnerungen beeinträchtigen und damit das Vergessen erleichtern. Ein dominanter Faktor hierbei ist der Stress bzw. der chronische Stress. Laut einer Erhebung fühlen sich ca. 79 Prozent der US-Amerikaner häufig gestresst. Dieser chronische Stress ist toxisch für den Körper (u.a. Diabetes Typ 2, Herzbeschwerden, Krebs, Depression und Schlaflosigkeit) und beeinträchtigt damit auch gravierend die geistigen Fähigkeiten. Mehrere Studien belegen den Tatbestand, dass Stress das Erinnern – bedingt durch den damit verbundenen erhöhten Cortisolspiegel – massiv stört bzw. vermindert. Neurophysiologisch blockiert dann hierbei die Amygdala (Furchtregion im limbischen System) den präfrontalen Cortex mit den damit verbundenen kognitiven Kompetenzen. Die Autorin empfiehlt den Gestressten diesbezüglich u.a. Yoga, Meditation, gesunde Ernährung und Sport. Des Weiteren wird ausreichender Schlaf empfohlen, denn im Tiefschlaf „reinigt“ sich das Hirn: Abfallprodukte des Hirnstoffwechsels wie Amyloid- und auch Tau-Proteine werden mittels Gliazellen entsorgt.
Ausführlich setzt sich die Autorin auch mit der Alzheimerdemenz auseinander. Zu Beginn weist sie nach, dass z.B. durch ein Glas Rotwein, Schokolade, Kaffee und Tee diese Erkrankung nicht verhindert werden kann. Sport, das Lernen neuer Fertigkeiten und eine gesunde Ernährung hingegen bilden eventuell einen Puffer zur Vermeidung der Erkrankung. In diesem Zusammenhang verweist Lisa Genova auf die berühmte Nonnenstudie aus den USA, in der u.a. die kognitive Reservekapazität nachgewiesen wurde. Bei der kognitiven Reservekapazität handelt es sich um den Tatbestand, dass trotz post mortem festgestellter massiver hirnpathologischer Abbauprozesse zu Lebzeiten keine klinischen Symptome festgestellt werden konnten. Nur interpretiert die Autorin die Ergebnisse der Studie falsch, indem sie nicht die Genetik sondern bloße Lernleistungen als Ursache hierfür anführt (Snowdon 2001, Lind 2021). Im Anhang werden einige Tipps zwecks Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit angeführt: u.a. ständiges Üben und Neulernen, eine positive Einstellung zum Leben, Entspannung und ausreichend Schlaf.
Diskussion
Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um solides Sachbuch, das den Erwartungen an Verständlichkeit gerecht wird, gilt es doch, den doch recht diffizilen Sachverhalt kognitiver Prozesse einem Kreis von interessierten Laien zu vermitteln. Kritisch anzumerken ist der Umstand, dass teils recht ausführlich Persönliches der Autorin über ihre Lebensumstände, ihre Familie und ihr Konsumverhalten in den Text eingefügt wird. Das passt einfach nicht in ein Sachbuch und lenkt vom Thema ab. Des Weiteren vermisst der Rezensent Abbildungen und Grafiken, die bestimmte Sachverhalte zusätzlich hätten verdeutlichen können (z.B. die Vergessenskurve von Ebbinghaus). Kritisch sieht der Rezensent auch den Tatbestand, dass bezüglich der geistigen Leistungsfähigkeit teils recht einseitig dahingehend argumentiert wird, dass das ständige Lernen und Üben betont wird, ohne auf die genetischen Aspekte als einschlägigen Wirkmechanismus für das Lernen und damit auch für das Gedächtnis einzugehen. Dass nämlich bloßes Lernen keine wesentlichen Effekte erzeugen kann, wenn die dafür erforderliche genetische Disposition nicht ausreichend vorhanden ist, ist bereits nachgewiesen worden (Lind 2021a, Woollett 2011).
Fazit
Trotz der angeführten Kritikpunkte kann festgestellt werden, dass das vorliegende Sachbuch interessierten Laien als eine profunde Einstiegsliteratur zum Themenkreis kognitiver Leistungen (Erinnern und Vergessen) empfohlen werden kann.
Literatur
Lind, S. (2021) Die kognitive Reservekapazität bei der Alzheimer-Demenz (Teil 2). https://www.svenlind.de/2021/07/11/die-kognitive-reservekapazitaet-bei-der-alzheimer-demenz-teil-2/
Lind, S. (2021a) Die kognitive Reservekapazität bei der Alzheimer-Demenz (Teil 3). https://www.svenlind.de/2021/07/18/die-kognitive-reservekapazitaet-bei-der-alzheimer-demenz-teil-3/
Snowdon, D. (2001). Lieber alt und gesund. Dem Alter seinen Schrecken nehmen. München: Karl Blessing Verlag.
Woollett, K. & Maguire E. A. (2011). Acquiring ‘‘the Knowledge’’ of London’s Layout Drives Structural Brain Changes. Current Biology 21, 2109–2114, December 20, 2011
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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