Klaus Wolf: Pflegekinderhilfe in der sozialen Arbeit
Rezensiert von Noëmi J. van Oordt, 15.06.2022

Klaus Wolf: Pflegekinderhilfe in der sozialen Arbeit.
edition sigma im Nomos-Verlag
(Baden-Baden) 2022.
227 Seiten.
ISBN 978-3-8487-6707-6.
22,00 EUR.
Reihe: Kompendien der sozialen Arbeit.
Thema
Der vorliegende Band gibt einen umfassenden Überblick über die Pflegekinderhilfe in Deutschland sowie Ergänzungen zu Österreich und der Schweiz. Dabei werden die Perspektiven aller zentralen Akteur:innen unter Einbezug internationaler Forschungsergebnisse besprochen. Im Fokus des als Lehrbuch konzipierten Werks steht der Umgang der Sozialen Arbeit mit der komplexen Aufgabenstellung der Pflegekinderhilfe.
Autor
Klaus Wolf ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik der Universität Siegen sowie Leiter der Forschungsgruppe Pflegekinder und zählt zu den prominentesten Forschenden im Bereich Pflegekinderhilfe im deutschsprachigen Raum.
Aufbau
In einem ersten Teil (Kapitel 2 bis 4) werden die Rahmenbedingungen und Setzungen der Pflegekinderhilfe sozialer, rechtlicher und historischer Art als Übersicht dargestellt. In Kapitel 5 wird ausführlich auf die Vielfalt der Pflegeverhältnisse eingegangen und im dritten Teil (Kapitel 6 bis 9) wird der Verlauf der jedem Pflegeverhältnis zugrunde liegt, anhand von vier Stationen beschrieben. Innerhalb der Kapitel 5 bis 9 werden die Themen aus der Perspektive des Kindes, der Eltern und der Pflegeeltern beleuchtet und die Aufgabe der Sozialen Arbeit definiert. Im letzten Teil (Kapitel 10 und 11) wird auf die Organisation der Sozialen Dienste in der Pflegekinderhilfe eingegangen und Zukunftsszenarien besprochen. Ein Serviceteil bietet weiterführende Links zum Thema an. Grafische Darstellungen vereinfachen den Überblick. Der Band fokussiert auf Deutschland, wobei teilweise Anmerkungen zu Österreich und der Schweiz angefügt sind. Alle Kapitel werden durch eine kurze Zusammenfassung eingeleitet und bieten Arbeitsaufgaben zum Selbststudium an.
Inhalt
Die Einleitung legt das Ziel des Bandes als Lehrbuch für Fachpersonen der Pflegekinderhilfe fest. Durch Darstellung der unterschiedlichen Perspektiven auf die Pflegekinderhilfe soll fundiertes Wissen vermittelt werden.
Die Kapitel 2 bis 4 befassen sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Pflegeverhältnissen:
In Kapitel 2 wird auf die normativen Vorstellungen zu Pflegefamilien eingegangen und den selbstreflexiven Umgang der Fachpersonen mit der „unkonventionellen“ Familie angeregt. Eingeführt wird hier der „Pflegefamiliendreisatz“, welcher der Pflegekinderhilfe zugrunde liegt, denn Pflegefamilien erfüllen für die Gesellschaft eine wichtige Funktion bei der Betreuung von Kindern, die nicht bei ihren Eltern leben können. Diese Aufgabe ist entsprechend komplex und wird daher von Diensten der Sozialen Arbeit unterstützt.
Kapitel 3 erläutert die Rechtsgrundlage von Pflegeverhältnissen und geht auf die Rechte der Eltern, Pflegeeltern und Pflegekinder ein. Ergänzungen zur Rechtslage der Pflegeverhältnisse in Österreich und der Schweiz schliessen das Kapitel ab.
In Kapitel 4 wird auf die verschiedenen Motive der Pflegekinderhilfe in historischer Perspektive eingegangen, dabei werden religiöse sowie wirtschaftliche und emotionale Aspekte betrachtet.
Das Kapitel 5 fächert die Vielfalt in Pflegeverhältnissen auf. Einerseits werden die Vielfalt an Familienformen, Familienkulturen, aber auch die unterschiedliche Dauer und Perspektive thematisiert und Pflegefamilien mit besonderen Aufgaben wie der Betreuung von Jugendlichen im Exil oder Kindern mit Behinderung sowie der Wochenpflege erläutert. Andererseits sind die variablen Rollenverständnisse der Eltern, Pflegeeltern und Pflegekinder aufgeschlüsselt.
Einen Perspektivenwechsel von den Verhältnissen in Pflegefamilien hin zum Verlauf eines Pflegeverhältnisses wird in den Kapiteln 6 bis 9 vorgenommen. Die vier Stationen – Vorgeschichte, Übergang, Zeit im Pflegeverhältnis und Beendigung, – die jedes Pflegeverhältnis durchläuft, werden jeweils aus den drei Perspektiven der Eltern, der Pflegefamilie und des Pflegekindes dargestellt. Abschliessend folgen bei jedem Kapitel eine Aufstellung der Handlungsoptionen und kritische Anregungen für die Sozialen Dienste.
Wie die Organisationen der Pflegekinderhilfe aufgestellt sind respektive sein sollen, wird in Kapitel 10 erläutert. Dabei werden die wichtigsten Aufgaben der Fachpersonen in der Pflegekinderhilfe aufgelistet und die Fallzahlen in der Diskussion um eine angemessene Personalausstattung diskutiert.
Kapitel 11 zeigt die mögliche Entwicklung der Pflegekinderhilfe auf der Makro-, Meso- und Mikro-Ebene auf: Der Autor geht davon aus, dass die Rechte der Kinder sowie die gesellschaftliche Vielfalt auf der politischen und gesetzgebenden Ebene relevanter werden. Bei Organisationen der Pflegekinderhilfe sieht er den Mangel an Pflegefamilien und die Ressourcenausstattung der Sozialen Dienste verstärkt als Thema. Diese aufgeführten Bereiche würden auch die zukünftigen Diskussionen unter Fachpersonen prägen, die sich weiter mit der Eignung ihrer Konzepte und Methoden auseinandersetzen müssten.
Abgeschlossen wird das Buch durch eine Auflistung von weiterführenden Quellen und Hinweisen für Lehrende in Kapitel 12.
Diskussion
In zugänglicher Sprache vermittelt Wolf einen sehr guten Überblick über die Pflegekinderhilfe im deutschsprachigen Raum. Unter Einbezug internationaler Forschungsergebnisse gelingt es, das hochkomplexe Feld der Pflegekinderhilfe systematisch darzustellen. Einerseits wird die Vielfalt der Pflegeverhältnisse andererseits deren Verlauf aus den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten thematisiert. Die Illustrierung durch Zitate von Eltern, Pflegeeltern und Pflegekindern veranschaulicht die dichte Darstellung in gelungener Weise. Der Autor orientiert sich bei seiner analytischen Gliederung an Prozessen, Interdependenzen und der Perspektivität und fordert die Soziale Arbeit gleichzeitig auf, aus diesem Blickwinkel den unterschiedlichen Akteur:innen und Situationen gerecht zu werden.
Die historische Herleitung der Pflegekinderhilfe ist als Kapitel eher mager und es ist fraglich, ob dieses für den absolut lesenswerten Band überhaupt notwendig ist. Lobenswert ist die Bemühung um eine länderspezifische Ausdifferenzierung der Pflegekinderhilfe des deutschsprachigen Raums. Allerdings kann der Autor diesen Anspruch nicht ganz einlösen. Eine kongruente Darstellung der Rechtslage nach Land und die Hervorhebung des ausgeprägten Föderalismus mit folgenreicher Wirkung auf die Pflegekinderhilfe in der Schweiz fehlt. Ganz grundsätzlich wäre die Angabe zur Anzahl der Pflegeverhältnisse im deutschsprachigen Raum interessant. Der Verzicht darauf ist dem Mangel an statistischen Daten geschuldet. Zudem stellt sich die Frage, weshalb Tod und physische Krankheit der Eltern als Ursache für ein Pflegeverhältnis keine Erwähnung finden. Das lässt deviantes Verhalten und psychische Krankheit als Auslöser zentraler erscheinen, als es möglicherweise geboten ist, statistische Daten dazu sind nicht aufgeführt.
Wolf nutzt das als Lehrbuch konzipierte Buch für zahlreiche Verbesserungsvorschläge in der Praxis. Er ist mit kritischen Anmerkungen und konstruktiven Ansätzen nicht sparsam, verpackt sie jedoch gut im Text und nimmt ihnen damit die durchaus gebotene Schärfe. Hier wäre es wünschenswert, dass diese wichtigen Hinweise an die Fachpersonen und politischen Akteur:innen der Pflegekinderhilfe in einem gesonderten Kapitel zusammengetragen wären und so an Deutlichkeit gewinnen würden. Neben der Forderung nach mehr Ressourcen am richtigen Ort – beispielsweise eine stärkere ambulante Unterstützung von Familien (S. 104), die Schaffung einer Ombudsstelle für Pflegekinder und Pflegeeltern (S. 31, 174), die Professionalisierung der Bereitschaftspflege (S. 58), den Ausbau der Netzwerkpflege (S. 82 f., 97), Entschädigungen für Pflegeeltern von Kindern mit Behinderung (S. 66), angemessene Fallzahlen für Fachpersonen (S. 196) sowie mehr Konstanz in der Begleitung insbesondere bei den Übergängen (S. 135) – warnt er auch vor einer falsch verstandenen Professionalität. Eine vorschnelle und allgemeine Problematisierung oder gar Pathologisierung von Pflegekindern (S. 130 f., 172), das Überstrapazieren der Bindungstheorie (S. 122, 139) oder die Verwässerung des „systemischen Blicks“ (S. 151) verhindern angemessenes professionelles Handeln genauso wie das Festhalten am Kriterium der Geschwisterreihe für einen Pflegeplatz (S. 144) oder der „Ideologie des harten Cuts“ im Kontakt mit der Herkunftsfamilie beim Übertritt in die Pflegefamilie (S. 147 f.). Um das professionelle Handeln nicht auf Mythen zu stützen, plädiert Wolf für den systematischen Einbezug von Forschungsergebnissen und fordert dabei weitere Grundlagenforschung (S. 206). Klare Worte findet der Autor für eine sachliche Perspektivklärung, welche den Faktor der Unsicherheit für alle Beteiligten minimieren soll (S. 136 f.). Die eingefügten Arbeitsaufgaben sind anspruchsvoll und regen zu einem reflektierten Umgang der Sozialen Arbeit mit den Herausforderungen der Pflegekinderhilfe an.
Wolfs Credo der Orientierung professionellen Handelns am Einzelfall zeigt sich in seiner differenzierten Darstellung von Ambivalenzen im Feld der Pflegekinderhilfe: „Dürfen“ kann gleichzeitig „müssen“ sein, „hilfreich“ auch als „belastend“ empfunden werden (S. 31). Eine Ambivalenz, die der Autor nicht erwähnt, welche m.E. jedoch nicht unterschlagen werden sollte, wenn der Auszug des Kindes bei der Herkunfts- und jener aus der Pflegefamilie thematisiert wird, ist die Entlastung, die damit für die Eltern, die Pflegeeltern oder auch das Pflegekind einhergehen kann. Hervorzuheben ist weiter der umsichtige Umgang mit Begriffen, einerseits als kritische Reflexion beispielsweise von „Platzierung“ (S. 94) oder „Carer“ versus „Parents“ (S. 75) und andererseits durch Erwähnen des kontextabhängigen Sprachgebrauchs am Beispiel der juristischen Bezeichnung „Umgang“ für den alltagssprachlichen Ausdruck „Treffen“ (S. 166). Als problematisch kann der durch Wolf verwendete Begriff der „unkonventionellen Familie“ (S. 20 f., nach Funcke und Hildenbrand 2009) eingeschätzt werden, da er eine „konventionelle Familie“ voraussetzt. Dies erstaunt, da der Autor gerade die Vielfalt von Familien ins Zentrum der Ausführungen rückt. Der Begriff der konventionellen Familie baut auf der Triade „leibliche Mutter – leiblicher Vater – Kind“ auf, wobei die Abwesenheit dieser Triade die Pflegefamilie als unkonventionell klassiert. Zieht man Ansätze der Netzwerktheorie heran (zur Übersicht: Avenarius 2010) löst sich diese Triade nicht in Nichts auf, viel eher wird in einer Pflegefamilie die Triade um weitere Verbindungen, um starke und schwache Beziehungen, ergänzt und bildet dadurch die Figuration (Elias 2006 [1986]), die Wolf als Herkunftsfamilien-Pflegefamilien-Figuration (HPF) bezeichnet. Diese gelingt es ihm auch eindrücklich und facettenreich aufzuschlüsseln und aus den relevanten Perspektiven zu beleuchten.
Fazit
Der vielschichtige Überblick über die Pflegekinderhilfe im deutschsprachigen Raum mit Fokus auf Deutschland kann als Lehrbuch wie auch Reflexionsfolie für die Praxis der Sozialen Arbeit gelesen werden. Durch die multiperspektivische Herangehensweise an die zentralen Themen der Pflegekinderhilfe unter Einbezug des aktuellen Forschungsstandes gelingt es Klaus Wolf Spannungsfelder und Ambivalenzen aufzuzeigen sowie zukunftsweisende Ansätze zu skizzieren.
Literatur
Avenarius, Christine (2010): Starke und Schwache Beziehungen, in: Stegbauer, Christian; Häußling, Roger (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden: VS, 98-111.
Elias, Norbert (2006 [1986]): Figuration, sozialer Prozess und Zivilisation. Grundbegriffe der Soziologie, in: Aufsätze und andere Schriften III. Ges. Schriften 16. Frankfurt am Main, S. 100-103.
Funcke, Dorett; Hildenbrand, Bruno (Hg.) (2009): Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie. Eine interdisziplinäre Einführung. Heidelberg: Auer.
Rezension von
Noëmi J. van Oordt
Soziologin M.A., Forschungsstelle Pflegekinderhilfe, Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften (ZHAW) und Universität Zürich, Schweiz
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