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Katrin M. Kämpf: Pädophilie

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 17.06.2022

Cover Katrin M. Kämpf: Pädophilie ISBN 978-3-8376-5577-3

Katrin M. Kämpf: Pädophilie. Eine Diskursgeschichte. transcript (Bielefeld) 2022. 313 Seiten. ISBN 978-3-8376-5577-3. D: 39,00 EUR, A: 39,00 EUR, CH: 47,60 sFr.
Reihe: Edition Kulturwissenschaft - Band 249.

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Thema

Katrin M. Kämpf widmet sich dem gesellschaftlich viel diskutierten Thema Pädophilie. Ihre Arbeit stellt die erste differenzierte Diskursanalyse zum Thema dar. Dafür setzt Kämpf bei den Definitionsversuchen und Diskussionen zu Pädophilie der frühen Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert an, reflektiert die Entwicklungen in der Nazi-Zeit, um sich dann den Aushandlungen in der DDR und der BRD zuzuwenden.

Autorin

Katrin M. Kämpf lehrt und forscht zu Queer Studies und Science & Technology Studies an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Mit der vorliegenden Arbeit promovierte die Kulturwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Förderhinweis

Der Druck und die Open-Access-Publikation der Arbeit wurden mit Mitteln der Humboldt-Universität zu Berlin und der Kunsthochschule für Medien Köln gefördert.

Aufbau

Zentraler Inhalt des Bandes ist das zweite Kapitel, das eine Diskursgeschichte der Pädophilie skizziert. Es gliedert sich in drei Teile, die (1) das 19. Jahrhundert, (2) den Nationalsozialismus und (3) die DDR und die BRD fokussieren. Gerahmt wird diese Diskursgeschichte von einer Einführung und einem den Band beschließenden Resümee und Ausblick.

Inhaltsbeschreibung

Ihre Arbeit verortet Katrin M. Kämpf in den aktuellen Debatten der gesellschaftlichen Pluralisierung im Hinblick auf Sexualität, wobei der Pädophile als „letzter Perverser“ (S. 12) zurückbleibe. Dieser Zugang wird in der Einführung (zugleich erstes Kapitel) genauer erläutert. Darüber hinaus wird die Figur des Pädophilen im Sexualitätsdispositiv der bürgerlichen Gesellschaftsordnung verortet – die biopolitischen Bezüge im Anschluss an Michel Foucault werden eingeführt und ziehen sich anschließend durch die Arbeit. Fokussiert Kämpf auf die deutsche Geschichte, so ordnet sie ihre Überlegungen auch in die internationale Forschungslandschaft ein und zeigt die Besonderheiten des deutschen Diskurses auf. Für ihre Ausarbeitung einer Diskursgeschichte fokussiert Kämpf auf wichtige Umschlagpunkte, da ansonsten das zu untersuchende Material zu umfangreich wäre.

Das zweite Kapitel wendet sich zunächst dem 19. Jahrhundert zu. Es beginnt bei Richard von Krafft-Ebing und seinen Definitionsbemühungen zur Pädophilie. Es geht dann aber einen Schritt zurück, um die „Erfindung der Kindheit“ (S. 28) in der bürgerlichen Moderne zu konstatieren und erste juristische – etwa im Allgemeinen Preußischen Landrecht (1794) – und gerichtsmedizinische/​psychiatrische Aushandlungen zum Schutz von Kindern vor sexuellen Kontakten mit Erwachsenen vorzustellen. In den zeitgenössischen Aushandlungen sei dabei weniger die Schädigung des Kindes als vielmehr die Schädigung der ganzen Gesellschaft (S. 37) im Blick gewesen. Kämpf betrachtet erste Aushandlungen in der Gesellschaft und spezifisch in der Sexualwissenschaft um 1900 genauer und schält erste Diskursmotive heraus, etwa den „Topos des ‚frühreifen, verdorbenen und lügenhaften Kindes‘“ der Arbeiterklasse (S. 62), das die bürgerlichen Kinder gefährde. Neben der Klasse zeigten sich in den Aushandlungen auch Rassifizierungen – insbesondere antisemitische Motive – und Zuschreibungen an weitere marginalisierte Gruppen (S. 81 ff.). Auch ersten Selbstkonzeptionen Pädophiler wendet sich Kämpf zu.

In Bezug auf den Nationalsozialismus erläutert Kämpf, wie sich der Schwerpunkt der Aushandlungen in die Kriminologie verlagert. Die Nazis schließen dabei an vorherige Narrative an, die „Verwahrlosung“ als ursächlich für sexuelle Übergriffe auf Kinder annehmen und rassistische Zuschreibungen treffen. „Volksgesundheit“ und die „(arische) Volksgemeinschaft“ stehen im Zentrum des Interesses der Nationalsozialisten. Juden*Jüdinnen werden von ihnen als Gefahr imaginiert und in Konzentrationslagern ermordet.

DDR und BRD werden von Kämpf unter einer gemeinsamen Überschrift verhandelt, wobei sie gerade die Besonderheiten der landesspezifischen Aushandlungen herausarbeitet. In der DDR seien die Diskussionen um sexuelle Übergriffe gegen Kinder eher randständig und in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung „leise“ gewesen. In zahlreichen der Arbeiten seien diese Formen von Gewalt als Rudiment einer kapitalistischen Gesellschaft skizziert worden; in der voll entwickelten sozialistischen Gesellschaft solle sich auch das Problem sexueller Übergriffe gegen Kinder erledigen. Gleichwohl verweist Kämpf auf einen ambitionierten Diskurs in der DDR-Sexualwissenschaft. In der BRD seien sexualwissenschaftliche Reflexionen bereits in den 1950er Jahren an der Tagesordnung, im Zuge der „Sexuellen Revolution“ fänden die Debatten auch um sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern zunehmend öffentlich „laut“ statt. Einfluss auf die Diskursformation habe dabei gerade auch das Sexualstrafrecht mit verschiedenen Schutzaltergrenzen für andersgeschlechtlichen (14 Jahre) und mann-männlichen gleichgeschlechtlichen Sex (zunächst 21 Jahre, dann 18 Jahre) gehabt. Durch diese Formation wurden Überschneidungen zwischen Schwulenbewegung und „Pädo-Aktivismus“ geradezu provoziert. Der „Pädo-Aktivismus“, der argumentierte, dass sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern unschädlich seien, erhielt in den 1970er Jahren Auftrieb – gleichzeitig bildete sich Widerspruch heraus.

Heute – so wird im abschließenden Kapitel 3 deutlich – dominiere eine medizinische Perspektive, die das pädophile Begehren von umgesetzten sexuellen Übergriffen gegen Kinder unterscheide. Projekte wie „Kein Täter werden“ bieten Hilfe an, damit Pädophile sich unter Kontrolle haben und keine Übergriffe gegen Kinder begehen. Gleichzeitig setzten sich rassifizierende Motive – insbesondere gegen Juden*Jüdinnen – fort. Auch würden von rechtsextremen Aktivist*innen gesellschaftliche Entwicklungen hin zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt für sexuelle Übergriffe gegen Kinder verantwortlich gemacht.

Diskussion

Katrin M. Kämpf legt eine schlüssige Diskursgeschichte zur Pädophilie vor, die einfache Antworten vermeidet. Dabei sticht positiv heraus, dass auch die Aushandlungen in der Zeit des Nationalsozialismus angemessen gewürdigt werden – in vielen historischen Arbeiten, die eine längere Geschichte skizzieren, ist das nicht der Fall. Ebenfalls ist erfreulich, dass sowohl die DDR- als auch die BRD-Geschichte Eingang in die Untersuchung gefunden haben. Auch das ist leider noch immer nicht selbstverständlich, vielmehr wird oft die BRD-Geschichtsschreibung als „allgemeine“ deutsche Geschichtsschreibung genommen.

Der Band gibt einen sehr guten Gesamtüberblick über den deutschen Diskurs zu Pädophilie. Er eröffnet dabei das Themenfeld und lädt zu Detailforschungen ein. Etwa die feministischen Aushandlungen um Pädophilie als auch die Debatten in der Schwulenbewegung wären einer eigenen Untersuchung Wert. Auch die Aushandlungen in der Sexualwissenschaft der DDR und der BRD, bei sich ggf. zeigenden Überschneidungen, bieten sich für detaillierte Folgeforschungen an.

Fazit

Katrin M. Kämpf ist eine umfassende Diskursgeschichte der Pädophilie gelungen. Unaufgeregt, klar in der Argumentation und zudem gut lesbar setzt sie sich mit dem gesellschaftlich aufgeladenen Thema auseinander – und legt die fundierte Basis für sich anschließende Detailforschungen.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
Website
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Es gibt 65 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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ISSN 2190-9245