Michael Löhr, Michael Schulz et al.: Safewards
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 02.06.2023
Michael Löhr, Michael Schulz, André Nienaber: Safewards. Sicherheit durch Beziehung und Milieu.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2022.
3. Auflage.
191 Seiten.
ISBN 978-3-96605-043-2.
D: 25,00 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Better care - 7. .
Thema
Das Safewards-Modell findet seinen Einsatz bei der Prävention von Konflikten und Gewalt. Das Modell bietet neben der Erklärung für die Entstehung und Eskalation von Konflikten z.B. in der Akutpsychiatrie oder Forensik auch konkrete Interventionen zur Prävention. Die erste Auflage des Buches erschien 2019, 2023 liegt die 3. Auflage vor, die mit Aspekten des Changemanagements und der Implementierung von Safewards als Unternehmensstrategie vertieft und ergänzt wurde. Safewards ist ein multiprofessionelles, modulares Interventionskonzept zur Herstellung einer erfolgversprechenden Qualitätsoffensive in der direkten, alltäglichen Patient:innenversorgung.
Die Erfahrung zeigt, dass Safewards dort erfolgreich umgesetzt wird, wo die verschiedenen Berufsgruppen einbezogen werden und die Leitung den Einführungsprozess eindeutig unterstützt. Für die Verbesserung von Kommunikation, der Beziehungsgestaltung und des Milieus braucht es das gesamte Team und auch die Beteiligung der Adressat:innen. Das Milieu hat einen erheblichen Einfluss auf konflikthaftes Verhalten.
AutorInnen
Michael Löhr ist Gesundheitswissenschaftler und Krankenpfleger mit einer Honorarprofessur an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Zudem ist er Mitarbeiter beim Krankenhausdezernat des LWL und Mitarbeiter der Stabsgruppe für Klinikentwicklung und Forschung am LWL-Klinikum Gütersloh.
Michael Schulz ist Krankenpfleger und Pflegewissenschaftler, arbeitet am LWL-Klinikum Gütersloh und ist Honorarprofessor an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.
André Nienaber ist Gesundheitswissenschaftler und Heilerziehungspfleger und hat eine Professur für Pflegewissenschaft mit dem Schwerpunkt Psychiatrische Versorgung an der Fachhochschule in Münster.
Entstehungshintergrund
Die Reihe „better care“ (hier better care 7) des Psychiatrie Verlags setzt Standards für Ausbildung und berufliche Praxis in der psychiatrischen Pflege.
Aufbau und Inhalt
Das vollständige Inhaltsverzeichnis findet sich auf der Homepage der Deutschen Nationalbibliothek.
Das Buch ist im Softcover Format mittlerweile in der 3. vollständig überarbeiteten Auflage erschienen und hat einen Umfang von 229 Seiten. Abbildungen und Textfelder sowie QR Codes mit weiterführenden Informationen strukturieren den Fließtext. Die Kapitel sind nicht durchnummeriert. Es gibt ein Referenzverzeichnis.
Inhalt
Einleitend wird erklärt, warum es dieses Buch gibt und was Lesende erwartet, anschließend werden die Phänomene Gewalt und Aggression, die Ursachen von Aggression und Gewalt sowie die Formen und Häufigkeiten von Übergriffen in der Psychiatrie dargestellt.
Das Safewards-Modell wurde am Londoner King’s College entwickelt. Es zeigt, was Konflikte auslöst und wie Pflegepersonen und Patient:innen zu einer Reduzierung der Problematik beitragen können. Erfahrungen belegen: Es braucht eine professionelle Beziehungsgestaltung und ein therapeutisches Milieu, in dem sich eine wirksame Beziehung aufbauen kann. Das Milieu hat einen erheblichen Einfluss auf konflikthaftes Verhalten.
Es wird zwischen dem Basis-Modell und dem erweiterten und differenzierten Modell unterschieden, die Modelle werden in sechs Ursprungs- bzw. Bedingungsfaktoren differenziert. Safewards beinhaltet 10 grundlegende Interventionen, die zur Reduzierung von Konflikten sowie zu Eindämmungsmaßnahmen führen können, ihre Wirksamkeit ist erweisen (s. Abschnitt Studienlage im Buch S. 120–128).
Zu den 10 Interventionen gehören:
- Gegenseitige Erwartungen klären
- Verständnisvolle Kommunikation
- Positive Kommunikation Deeskalierende Gesprächsführung
- Unterstützende Kommunikation bei unerfreulichen Nachrichten
- Gegenseitiges Kennenlernen
- Gemeinsame Unterstützungskonferenz
- Methoden zur Beruhigung
- Sicherheit bieten
- Entlassnachrichten
Jede Intervention wirkt für sich, sollte das Konzept „Safewards“ genannt werden, ist es erforderlich, alle 10 Interventionen einzusetzen und damit den sechs Ursprungsfaktoren von Aggression und Gewalt umfassend zu begegnen.
Die Erklärung zu jeder Intervention enthält Elemente der professionellen Beziehungsgestaltung und Milieuanpassung. Verantwortlich für die Implementierung und Begleitung der Inventionen sind sog. Interventionsbevollmächtigte, die auch für die Verstetigung in der Praxis in der Zeit über die Implementierung hinaus verantwortlich sind. Es hat sich bewährt, ein Team zusammenzustellen, in dem zwei bis drei Bevollmächtigte verantwortlich sind. Zudem gibt es visuelle Hilfsmittel wie Poster (z.B. zu bestimmten Verhaltensweisen und Kommunikationsregeln), die ausgehängt werden, um im Alltag an Interventionen zu erinnern.
Auf den Seiten 56–119 werden die einzelnen Interventionen konkretisiert. Der Aufbau dieser Kapitel ist immer gleich: die Intervention wird definiert, es folgt die Beschreibung der Implementierung (an einigen Stellen aus der Perspektive der Mitarbeitenden und die der Patient:innen) und es gibt eine Beschreibung der Rolle der Interventionsbevollmächtigten. Es sind jeweils auch die Erfahrungen der Autoren kurz skizziert, Stolpersteine sowie kreative Lösungen benannt, Textboxen enthalten zentrale Kernaussagen, jeder Abschnitt endet mit einer Tabelle mit praktischen Formulierungsbeispielen (z.B. wie geht es – wie geht es nicht) sowie einem QR Code, der zu einem Video führt.
2014 wurde Safewards zum ersten Mal veröffentlicht und hat seitdem viel Aufmerksamkeit erregt. Viele Kliniken mit Akutpsychiatrie haben sich mittlerweile in unterschiedlichen Formaten informiert, es ist aber auch ein berufsgruppenübergreifendes Interesse zu bemerken. Oft wird das Konzept im ersten Schritt auf Stationen mit Psychose Schwerpunkt oder mit geschützten Milieus eingeführt, Settings, in denen Aggression und Gewalt vorkommen können.
Auf Seite 129 werden fünf Faktoren genannt, mithilfe derer reflektiert werden kann, ob Safewards in einem Krankenhaus implementiert werden sollte.
Der Wunsch nach Implementierung von Safewards ist in vielen Kliniken vorhanden, die Erfahrung zeigt, wie wichtig es dabei ist, die Komplexität der Interventionen zu kennen und den nicht unerheblichen Aufwand einzuschätzen, damit die Wirksamkeit des Konzeptes erlangt wird. Nicht selten führt eine vorschnelle halbherzige Umsetzung zu Misserfolgen, was dann nicht selten der Methode (mangelnde Wirksamkeit) statt den Bedingungen eines inadäquaten Implementierungsprozesses zugeschrieben wird.
Safewards ist eine komplexe Intervention und damit Aufgabe des Changemanagements (ausführlich S. 147–155), die mithilfe von fünf Faktoren nach Craig u.a. festgemacht werden kann: Zur Komplexität gehört die Anzahl der interagierenden Komponenten, die Anzahl und Schweregrad der Verhaltensweisen, die zur Umsetzung der Intervention von Bedeutung sind, die Anzahl und Variabilität der Ergebnisparameter sowie der Umfang der notwendigen Flexibilität und bedarfsorientierten Anpassung an Faktoren der Umgebung (S. 131).
Nicht zu vernachlässigen ist zudem die Beachtung und Betrachtung der an der Umsetzung beteiligten unterschiedlichen Organisationsebenen. Die Implementierung von Safewards „braucht also eine geplante, aktive und gezielte Weitergabe von Wissen“ (S. 132) mit dem Ziel, eines Milieus in dem Mitarbeitende und Patient:innen rasch eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufbauen können, die die Behandlung erleichtern. „Die Implementierung von Safewards -und anderen komplexen Interventionen- wird dann gelingen, wenn alle Mitarbeitenden motiviert sind und Verbesserungen für ihre Arbeitssituation erwarten“ (S. 133).
Die Autoren heben klar hervor: motivierte Mitarbeitende und positive Emotionen sind durchaus kein Zufallsprodukt, diese können erarbeitet werden. Die Implementierung von Safewards durchläuft verschiedene Projektphasen. Im Buch findet sich z.B. eine Checkliste für die Zeit der Entscheidung und Vorbereitungszeit. Mitarbeitende müssen mitgenommen werden, die Tabelle auf S. 139 zeigt verschiedene Stadien (visualisiert in einem Koordinatensystem mit den Achsen „Selbstwertgefühl in Bezug auf die wahrgenommene eigene Kompetenz“ und dem Faktor „Zeit“). Daraus können Hinweise abgeleitet werden, wie Widerständen begegnet werden kann. Eine zentrale Rolle spielt eine starke Führung sowie die Einordnung und Bedeutung der Implementierungsbevollmächtigten.
Die CFIR Kriterien nach Fletcher beschreiben Empfehlungen für die Implementierung unter fünf Dimensionen. Als Urheber des Changemanagements wird der deutsch-amerikanische Sozialpsychologe Kurt Levin angesehen, dessen primäres Forschungsinteresse gruppendynamischen Prozessen galt. Nach seinen Erkenntnissen ändern Menschen ihr Wertesystem nur, wenn sie es freiwillig und einer eigenen Erkenntnis folgend tun. Eingeführte Veränderungen sind nachhaltig, wenn drei Phasen zum Einsatz kommen, daraus entwickelte er sein Drei-Phasen-Modell (bei komplexen Veränderungen müssen zuerst bisherige Überzeugungen aufgelockert werden „unfreeze“, bevor die Veränderungen erfolgen „move“ und sich dann wieder verfestigen können „freeze“. Leider geriet dieses Konzept von Lewin in den Sozialwissenschaften etwas in Vergessenheit, in den Wirtschaftswissenschaften spielt es auch heute noch eine wichtige Rolle.
Die stattgefundenen Weiterentwicklungen der Lewinschen Modelle erweisen sich aber für Einrichtungen des Gesundheitswesens als ungeeignet. Aus diesem Grund empfehlen die Autoren des Buches den von Krüger und Bach entwickelten Ansatz, auch bekannt als im 3W-Modell, in dem sich drei wesentliche Koordinaten des Wandels finden: Wandlungsbedarf, Wandlungsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit (S. 148).
In den folgenden Kapiteln stellen sechs praktische Beispiele der Implementierung von Safewards vor:
- Safewards in den Kliniken des Bezirks Oberbayern
- Safewards im Pfalzklinikum
- Safewards im Vivantes Klinikum Berlin
- Safewards in der Kinder- und Jugendpsychiatrie LWL Hamm
- Safewards in der Forensik-im Massregelvollzug (Bayern)
- Safewards in der Altenpflege
Diese Beispiele wurden von unterschiedlichen Autor:innen geschrieben. Der Anlass der Implementierung von Safewards als Unternehmensstrategie in den Kliniken des Bezirks Oberbayern ergab sich aus dem Umstand, dass in den letzten Jahren in den Kliniken des Bezirks Oberbayern (kurz kbo) der Fokus auf auslösenden Situationen von Zwang, Aggression und Gewalt lag, schon seit 2016 werden Übergriffe durch Patient:innen systematisch dokumentiert. Kbo ist ein öffentlich-rechtlicher Verbund von Kliniken und ambulanten Einrichtungen für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik vom Kind bis zum Erwachsenen, mit stationären teilstationären und ambulanten Angeboten und 7500 Mitarbeitenden an 50 Standorten. Safewards als „multiprofessionell getragenes und zu gestaltendes Milieu-, Haltungs- und Kulturprojekt“ (S. 157) ist mittlerweile konzernweit etabliert. Exemplarisch stellt das Buch die klinikübergreifende Projektstruktur, die Meilensteine der ersten Projektphase, das Projektcontrolling und -ausbau in der zweiten Projektphase und die Schaffung von Nachhaltigkeit in der dritten Projektphase dar. Die Darstellung schließt mit einer kritischen Würdigung aus Konzernsicht.
Im Beispiel zwei wird die Umsetzung von Safewards im Pfalzklinikum (einem kommunalen Unternehmen in öffentlicher Hand) vorgestellt, diesmal auf einer offenen und einer geschlossenen Station. Neben dem Anlass der Implementierung werden Vorbereitung und Planung, praktische Umsetzung und weiterer Verlauf, Erfahrungen mit einzelnen Interventionen sowie Herausforderungen im Rückblick und ein Resümee der Mitarbeitenden besprochen.
Das dritte Beispiel der Umsetzung des Konzeptes Safewards berichtet von zwei geschützten Akutstationen am Vivantes Klinikum Am Urban Berlin.
Das vierte Beispiel stammt aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LWL-Universitätsklinik Hamm. Neben Anstoß, Vorbereitung und Planung werden die praktische Umsetzung sowie Erfahrungen mit einzelnen Interventionen vorgestellt und reflektiert, was im Rückblick gut lief und welche Herausforderungen es gab. Dieses Beispiel endet mit dem Resümee des Safewards-Beauftragten.
Das fünfte Beispiel berichtet von einem Pilotprojekt in der Forensik im bayerischen Maßregelvollzug. Vorgestellt werden die Projektstrukturen, das Wissensmanagement, die Adaption des Bewährten, Anpassungen der Interventionen an den Maßregelvollzug sowie Erfolge.
Das Buch schließt mit dem sechsten Beispiel, in dem eine neue Perspektive eröffnet wird: Safewards in der Altenpflege. „Safewards bietet als pflegewissenschaftliches Modell verschiedenste Ansätze der Gewaltprävention und bietet Mitarbeitenden von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen bereits vor der Entstehung von einer Krisen- und/oder Gewaltsituation evidenzbasierte Interventionen an. …Es geht darum, Beziehungen aktiv zu gestalten und professionelle Nähe zu ermöglichen“ (S. 206).
Die Autor:innen verbinden dabei ihre Erfahrungen mit den Erkenntnissen zu Gefühls- und Sinneswahrnehmungen nach Nolan aus dem Jahr 2006, da es offensichtliche Schnittmengen gibt wie beispielsweise „Gefühl der Sicherheit“ nach Nolan – im Safewards-Konzept findet sich der Punkt „Sicherheit bieten“. Auf der Seite 210 findet sich dazu eine Abbildung zum „Six-Senses-Framework“ von Nolan. In dieser Matrix werden einerseits als Adressat:innen die „Mitarbeitende“, „Bewohner“ und „(pflegende) Angehörige“ benannt sowie andererseits die Gefühle Sicherheit, Zugehörigkeit, Kontinuität, Intentionalität, Erfolge und Wertschätzung. Die praktische Umsetzung der Interventionen in der Altenpflege nimmt sechs von 10 Interventionen nach Safewards zur Prävention von Aggression und Gewalt in den Fokus. Die Praxis zeigt, dass es viele Ansatzpunkte des ursprünglich in der Psychiatrie entwickelten Ansatz für die Altenhilfe bzw. -pflege gibt, die sehr gut mit dem „Six-Senses-Framework“ in Verbindung gebracht werden können wie z.B. das gegenseitige Kennenlernen oder die gemeinsamen Unterstützungskonferenzen.
Insgesamt zeigt die Praxis sehr deutlich: es braucht Führungskräfte, die das Vorhaben aktiv unterstützen, es braucht eine klare Benennung von Zielen für die Einführung, es braucht Verantwortliche und feste Ansprechpersonen aus dem Team der Einrichtung, die von geschulten Safewards – Trainer:innen begleitet werden. Diese Grundbedingungen tragen zur nachhaltigen Implementierung und fortlaufenden Anpassung an Bedarfe bei. Dieses Kapitel schließt mit dem Ergebnis: das Safewards Modell ist ein „wissenschaftlich fundiertes und praxisorientiertes Modell, das den Gesamtprozess hin zu einer gewaltfreien und präventiv ausgerichteten Pflege fördert und somit eine gute Chance bietet, möglichst aggressions- und gewaltfreie Lebensräume“ für alle Akteur:innen im System zu schaffen (S. 216).
Safewards ist nicht an eine bestimmte Berufsgruppe gebunden. Es braucht das gesamte Team, alle Berufsgruppen, alle Hierarchieebenen und Patient:innen. Erfolge zeigen sich besonders dort, wo alle einbezogen wurden und gemeinsam an der Umsetzung gearbeitet haben. Ohne eine Haltung von Wertschätzung und recovery und ohne die Kompetenz der Selbstreflektion kann Safewards nicht funktionieren. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass es die Bereitschaft zur Veränderung braucht!
Ein erhebliches Potenzial liegt in der Prävention von Situationen, die zu Zwang und Gewalt führen können. Die Buchautoren resümieren: „Diesen verborgenen Schatz sollten wir unbedingt nutzen, um die psychiatrische Versorgung besser zu machen“ (S. 217). Auf lange Sicht fördert Safewards auch die partizipative Gestaltung der Settings z.B. durch Behandlungsvereinbarungen. Safewards hilft, die „Welt der Psychiatrie eher aus der Sicht der Betroffenen und weniger aus der Sicht der Institution zu sehen. Nicht mehr und nicht weniger“ (S. 218).
Diskussion
Die vielfältigen Erfahrungsberichte zeigen: Safewards ist nicht an eine bestimmte Berufsgruppe gebunden. Es braucht das gesamte Team, alle Berufsgruppen, alle Hierarchieebenen und auch die Patient:innen. Erfolge zeigen sich dort besonders, wo alle einbezogen wurden und gemeinsam an der Umsetzung gearbeitet haben. Ohne eine Haltung von Wertschätzung und recovery und ohne die Kompetenz der Selbstreflektion kann Safewards nicht funktionieren. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass es die Bereitschaft zur Veränderung braucht.
2014 wurde Safewards zum ersten Mal veröffentlicht und hat seitdem viel Aufmerksamkeit erregt. Viele Kliniken mit Akutpsychiatrie haben sich mittlerweile in unterschiedlichen Formaten informiert, es ist aber auch ein berufsgruppenübergreifendes Interesse zu bemerken. Oft wird das Konzept im ersten Schritt auf Stationen mit Psychose Schwerpunkt oder mit geschützten Milieus eingeführt, also Settings, in denen Aggression und Gewalt vorkommen kann. Auf Seite 129 werden fünf Faktoren genannt, mithilfe derer reflektiert werden kann, ob Safewards in einem Krankenhaus implementiert werden sollte.
In vielen Kliniken ist der Wunsch nach Implementierung von Safewards vorhanden, die Erfahrung zeigt allerdings, wie wichtig es ist, die Komplexität der Intervention zu kennen und den nicht unerheblichen Aufwand einzuschätzen, damit die Wirksamkeit des Konzeptes erlangt wird. Nicht selten führt eine vorschnelle halbherzige Umsetzung zu Misserfolgen, was dann nicht selten der Methode (mangelnde Wirksamkeit) statt den Bedingungen eines inadäquaten Implementierungsprozesses zugeschrieben wird. Die Beschreibung dieses Phänomens deckt sich auch mit meiner langjährigen Erfahrung als Beraterin. Es ist vielerorts zu beobachten, dass Probleme zwar gesehen und der Wunsch nach Lösungen formuliert wird, dann aber bleiben Vorhaben nicht selten stecken, gerade auch eben dann, wenn für Veränderung Eigeninitiative und Engagement erforderlich ist.
Ein weiterer Mechanismus ist zu beobachten: Personen, die Aggressionen zeigen wird die Verantwortung zugeschoben, statt zu reflektieren, welchen Einfluss das Milieu hat. Die Autoren des Buches benennen es ganz eindeutig: das Milieu hat einen erheblichen Einfluss auf konflikthaftes Verhalten.
Die Erklärung zu jeder Intervention enthält Elemente der professionellen Beziehungsgestaltung und Milieuanpassung. Verantwortlich für die Implementierung und Begleitung der Inventionen sind sog. Interventionsbevollmächtigte, die auch für die Verstetigung in der Praxis in der Zeit über die Implementierung hinaus verantwortlich sind. Es hat sich bewährt, ein Team zusammenzustellen, in dem zwei bis drei Bevollmächtigte verantwortlich sind. Zudem gibt es visuelle Hilfsmittel wie Poster (z.B. zu bestimmten Verhaltensweisen und Kommunikationsregeln), die ausgehängt werden, um im Alltag an Interventionen zu erinnern.
Wer sich damit nicht auskennt kommt vorschnell zu dem Schluss, dass solche visuellen Hilfsmittel in Form von Postern überflüssig bzw. nicht angemessen sind. Auf diese Art Vorurteil treffe ich auch häufig in meiner Beratungsarbeit. Auch werden Menschen mit Expertise in diesem Arbeitsfeld oft erst dann gerufen, wenn „das Kind in den Brunnen gefallen ist“. Statt rechtzeitig zu agieren (also pro-aktiv) und dabei geeignete Interventionen einzusetzen wird viel zu lange abgewartet mit der Folge nur noch zu re-agieren. Die Erwartung an hinzugezogene Expertinnen/​Experten ist dann extrem hoch und es werden schnelle Lösungen erwartet. In solchen angespannten Situationen zu handeln ist oft eine Sackgasse, denn es wird auf schon gezeigtes Verhalten re-agiert. Nachhaltiger und zielführender sind Strategien, mit denen pro-aktiv gehandelt wird. Abgestimmtes pro-aktives Handeln bereitet vor, ist überlegt und geübt, Ergebnisse werden visualisiert z.B. mit Postern, wie auch im Buch beschrieben. Diese Poster haben die Funktion einer Erinnerung für alle Akteure. Denn gerade in Stresssituationen kann das Denken blockiert sein. Ein schnell verfügbares Poster unterstützt die Erinnerung und damit das sichere Handeln.
Und noch ein weiterer Effekt stellt ein Poster dar: es hilft, einheitlich vorzugehen, sodass alle an einem Strang ziehen. Zu oft reagieren Mitarbeitenden in Teams unterschiedlich, so wie es ihnen gerade einfällt. Das ist für viele Klient:innen verwirrend und nicht zielführend, weil Reaktionen damit dem Zufall überlassen sind. Die Folgen tragen dann oft die Klient:innen, nicht selten einhergehend mit der Zuschreibung, sie seien das Problem.
Das Safewords Konzept stellt klar: es braucht eine professionelle Beziehungsgestaltung und Milieuanpassung. Aus Sicht der Patient:innen bzw. Klient:innen gehört zur therapeutischen Beziehung: Sicherheit, Gemeinschaft, Bestätigung und Entwicklung. Diese Elemente stehen konträr zu nicht selten eingesetzten Lösungsansätzen wie Separation, Fremdbestimmung, Vereinzelung, Problemverschiebung auf den Klienten/die Klientin, ohne Möglichkeit des Wachstums und Unterstützung.
Verschiedene Autorinnen beschreiben die Milieugestaltung als Instrument zur positiven Entwicklung psychischer Erkrankung: Kontrolle, Unterstützung, Strukturierung, Engagement und Valorisierung. Aus meiner Sicht ist es dringend erforderlich, dass diese Prinzipien auch auf andere z.B. stationäre und teilstationäre Milieus übertragen werden, denn auch hier liegen weitere Handlungsfelder im Umgang mit Gewalt und Aggression. Untersuchungen mit der „Ward Atmosphare Scale“ aus dem Jahr 2001 zeigen, „dass fehlende Unterstützung, ein unklarer Auftrag und mangelnde Organisation sowie fehlende Autonomie zur Unzufriedenheit beitragen“ (S. 36). Eine gute (Stations-)Atmosphäre erhöht das Gefühl der Zufriedenheit seitens der Patient:innen.
Safewards wurde 2014 in England entwickelt, seit einigen Jahren ist das Modell auch im deutschsprachigen Raum bekannt. Safewards kann dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn verschiedene Berufsgruppen einbezogen werden und die Leitung den Einführungsprozess eindeutig unterstützt. Es braucht eine professionelle Beziehungsgestaltung und ein therapeutisches Milieu, in dem sich eine wirksame Beziehung aufbauen kann. Das Milieu hat einen erheblichen Einfluss auf konflikthaftes Verhalten. Safewards ist nicht nur eine Methode unter vielen, es ist ein multiprofessionell getragenes und zu gestaltendes Milieu-, Haltungs- und Kulturprojekt.
Fazit
Bei der Prävention von Konflikten und Gewalt findet das Safewards-Modell Einsatz. Es bietet neben der Erklärung für die Entstehung und Eskalation von Konflikten in verschiedenen Arbeitsfeldern z.B. in der Akutpsychiatrie, Forensik oder neu in der Altenpflege konkrete Interventionen zur Prävention.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 02.06.2023 zu:
Michael Löhr, Michael Schulz, André Nienaber: Safewards. Sicherheit durch Beziehung und Milieu. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2022. 3. Auflage.
ISBN 978-3-96605-043-2.
Reihe: Better care - 7. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29521.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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