Jan M. Stegkemper: Konstrukte einer politischen Welt von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
Rezensiert von Dr. Karoline Klamp-Gretschel, 05.08.2022
Jan M. Stegkemper: Konstrukte einer politischen Welt von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2022.
285 Seiten.
ISBN 978-3-7815-2505-4.
D: 45,00 EUR,
A: 46,30 EUR.
Reihe: Klinkhardt Forschung.
Thema
Politische Bildung und vor allem politische Teilhabe sind wesentliche Instrumente zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Teilhabe. Insbesondere Schüler_innen mit geistiger Behinderung gilt es in den Blick zu nehmen, da die vorliegende Publikation zu dem Schluss kommt, „dass viele der Befragten eine politische Welt wahrnehmen und sich differenziert zu beschreibendes Wissen aufbauen können, obwohl ihnen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung bislang kaum politische Bildung angeboten wird“ (Klappentext).
Dargelegt werden die Konzeption, Durchführung und Auswertung der Studie, ergänzt um Ausführungen zur Entwicklung des Instruments ‚Gesprächskoffer‘.
Autor
Dr. Jan M. Stegkemper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Abteilung für Pädagogik bei geistiger Behinderung.
Entstehungshintergrund
Es gibt bislang kaum bis keine empirischen Daten zur politischen Partizipation von Menschen mit geistiger Behinderung, obwohl nach Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention eine gleichberechtigte politische Teilhabe und vor allem Zugänglichkeit von Politik vorgesehen ist. Nach Stegkemper ist es vor allem notwendig, subjektive Wissenskonstrukte von Schüler_innen mit geistiger Behinderung zu erforschen, da „ohne solches Wissen als Anknüpfungspunkt, erscheint es zudem auch kaum umsetzbar, zukünftig angemessene politische Lernangebote für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu entwickeln“ (S. 20).
Aufbau und Inhalt
Die vorliegende Publikation enthält eine Danksagung und eine Einleitung (Kap. 1), in der Aufbau und Motivation der Arbeit dargelegt werden wie auch einleitende Ausführungen zum Begriff der geistigen Behinderung und Politik im Kontext geistiger Behinderung.
In Kapitel 2 wird der Terminus des politischen Wissens differenziert hinsichtlich radikal-konstruktivistischer Sicht, Unterscheidungen zwischen einem weiten und engen Politikbegriff wie auch fachdidaktischer Zusammenhänge untersucht.
Die politische Sozialisation steht in Kapitel 3 im Mittelpunkt, indem Sozialisationsinstanzen des Kindes- und Jugendalters betrachtet und auf Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung bezogen werden.
Daran anschließend werden vorliegende Studien zum politischen Wissen von Kindern und Jugendlichen erörtert (Kapitel 4) und politische Bildung im Förderschwerpunkt ganzheitliche (geistige) Entwicklung des Landes Rheinland-Pfalz skizziert (Kapitel 5).
Der Gestaltung von und dem Umgang mit Interviews zur Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung widmet sich Stegkemper in Kapitel 6, wenn methodologische Vorüberlegungen, sprachliche Herausforderungen sowie Gestaltungskriterien erläutert werden (Kapitel 6.1), während in Kapitel 6.2 der zuvor angesprochene, für die Untersuchung entwickelte Gesprächskoffer hinsichtlich ausgewählter Inhalte, deren Elementarisierung ebenso wie die Entwicklung und Erprobung von Gesprächsimpulsen vorgestellt werden.
In Kapitel 7 wird das Forschungsdesign beschrieben mit weiteren Erklärungen zur Grounded Theory, dem Untersuchungsablauf, Auswahl und Darstellung der einbezogenen Fälle, Nutzung des Gesprächskoffers in Interviews, Erfahrungen aus der Interviewdurchführung sowie Implikationen und der Strategie zur Auswertung.
Die Konstrukte des Politischen von Werkstufenschüler_innen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden in Kapitel 8 im Sinne einer Ergebnisdarstellung und -interpretation thematisiert, indem die Wahrnehmung politischer Welt, Verwendung von Fachsprache wie auch das Verfügen und Verwenden von Wissenskonstrukten zu ausgewählten Politikaspekten angeführt werden.
Die Publikation schließt mit einem Resümee und Ausblick (Kapitel 9). Es folgen Verzeichnisse zu Literatur, Abbildungen sowie Tabellen und Inhalte des digitalen Anhangs.
Diskussion
Der Ausschluss von (jungen) Menschen mit geistiger Behinderung von politischer Teilhabe ist aufgrund rechtlicher Vorgaben wie auch gesellschaftlicher Entwicklungen indiskutabel. Die Änderungen des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) wie auch die Ratifizierung der UN-BRK haben in Deutschland verdeutlicht, dass es keinen Ausschluss ebenjener Gruppe geben darf. Um teilhaben zu können, bedarf es entsprechender inhaltlicher Grundlagen wie auch bestimmter Fertigkeiten, die es insbesondere in der Schule zu vermitteln gilt. Hier setzt die vorliegende Publikation von Stegkemper an, die sich mit den erworbenen Wissenskonstrukten von Schüler_innen mit geistiger Behinderung zum Thema Politik auseinandersetzt. Die Bedeutung der Arbeit wird betont, da es bislang an entsprechenden Studien zum politischen Wissen von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung fehlt, so dass „eine systematische Untersuchung des politischen Wissens von Menschen mit geistiger Behinderung“ noch nicht stattgefunden hat (S. 57 f.).
Diese Lücke versucht Stegkemper mit der Publikation zu schließen, indem mit Hilfe vielfältiger Studien zu politischem Wissen – auch im internationalen Kontext – ein Bezugsrahmen geschaffen wird (Kapitel 4.2). In diesem Rahmen werden inhaltliche Aspekte zum politischen Wissen, aber zum methodologischen Vorgehen erläutert und platziert, so dass die Ausführungen zu einem Gesamtgefüge zusammenwachsen und eine fundierte Grundlage zur weiteren Forschung bilden. Hilfreich ist dabei auch die differenzierte Auseinandersetzung mit den Grenzen der Durchführung von Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderung, die in Kapitel 6.1 dargelegt werden. Diese und weitere Momente der Selbstreflexion und -kritik stellen eine der Stärken der Arbeit dar.
Die Idee der Entwicklung und des Einsatzes des Gesprächskoffers sind sehr anschaulich und erhöhen die Chancen, aussagekräftige Statements der Befragten zu erhalten. Insbesondere durch den Alltagsbezug lassen sich wesentliche Erkenntnisse aus Perspektive der Befragten gewinnen.
Weitere Hinweise zum Gesprächskoffer (wie auch Bilder) und eine Liste mit den einzelnen Bestandteilen hätten die Vorstellung abgerundet.
Die kleinschrittige Darlegung des Forschungsdesigns und des Vorgehens ermöglicht einerseits die Nachvollziehbarkeit der Ausführungen, andererseits birgt sie die Gefahr, die Orientierung im Gesamtkontext ein Stück weit zu verlieren. Diese Ambivalenz findet sich auch bei der Darstellung der Ergebnisse wieder, die sehr umfassend in diverse Unterkategorien aufgefächert werden. Es muss aber konstatiert werden, dass die Vielfalt und Bandbreite der Ergebnisse einen ganz wesentlichen und innovativen Beitrag zur Erforschung des Politikverständnisses von (jungen) Menschen mit geistiger Behinderung leisten.
Das abschließende Resümee mit Ausblick hätte stellenweise noch konkreter sein können, bietet aber wesentliche Impulse, politische Bildung allen Menschen zugänglich zu machen, denn es ist „eine zentrale Erkenntnis, dass Menschen mit geistiger Behinderung politisches Wissen nicht grundlegend ‚anders‘ konstruieren als Menschen ohne Behinderung“ (S. 270 f.).
Weitere Anschlussforschung zum politischen Wissen von und des Erwerbs durch Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung erscheint sinnvoll, um im Sinne der Inklusion auch in diesem Teilhabebereich Gerechtigkeit zu schaffen und Zugänglichkeit zu ermöglichen.
Insbesondere Politik und ihre Akteur_innen werden durch die Publikation aufgefordert, sich hinsichtlich inklusiver Teilhabe weiter zu reflektieren und zu öffnen. Dazu bedarf es eines stärkeren Einbezugs von Wünschen und Bedarfen der Zielgruppe sowie einer Erweiterung der Vorstellungen von Inhalten und Gestaltung politischer Bildung.
Durch die fachliche Expertise und Darlegung umfassender Ergebnisse bieten sich vielfältige Anschlussmöglichkeiten für weitere dezidierte Forschung zum politischen Wissen in Verknüpfung mit geistiger Behinderung, um damit politischer Teilhabe und ggf. Unterstützung bei deren Umsetzung zu ermöglichen. Insbesondere im Sinne inklusiver (Bildungs-)Bemühungen ist anzumerken, „dass Schüler*innen mit geistiger Behinderung an politischen Inhalten interessiert sind und sich Wissen zu diesen aufbauen können“ (S. 270). Es bieten sich demnach viele Möglichkeiten, gemeinsame politische Bildung umzusetzen, indem entsprechende Materialien, wie z.B. der von Stegkemper entwickelte Gesprächskoffer, eingesetzt werden.
Fazit
Es ist Stegkemper gelungen, einen innovativen und sehr differenzierten Blick auf das Verständnis politischer Zusammenhänge von jungen Menschen mit geistiger Behinderung zu werfen.
Die Publikation kann allen Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften, Mitarbeiter_innen politischer (Bildungs-)Einrichtungen, Politiker_innen, Forschenden aus den beteiligten Fachdisziplinen und Studierenden sowie weiteren interessierten Leser_innen uneingeschränkt empfohlen werden.
Rezension von
Dr. Karoline Klamp-Gretschel
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Es gibt 20 Rezensionen von Karoline Klamp-Gretschel.
Zitiervorschlag
Karoline Klamp-Gretschel. Rezension vom 05.08.2022 zu:
Jan M. Stegkemper: Konstrukte einer politischen Welt von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2022.
ISBN 978-3-7815-2505-4.
Reihe: Klinkhardt Forschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29536.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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