Maximilian Fuchs, Constanze Janda (Hrsg.): Europäisches Sozialrecht
Rezensiert von Prof. Dr. Gerhard Igl, 02.09.2022

Maximilian Fuchs, Constanze Janda (Hrsg.): Europäisches Sozialrecht.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2022.
8. Auflage.
1154 Seiten.
ISBN 978-3-8487-8694-7.
D: 158,00 EUR,
A: 158,00 EUR,
CH: 188,00 sFr.
Reihe: Nomos Kommentar.
Thema
Der Titel des Buches „Europäisches Sozialrecht“ spricht ein Rechtsgebiet an, das mittlerweile auch als „Unionales Sozialrecht“ bezeichnet wird. Die in dem Werk versammelten Rechtsmaterien stammen alle aus dem Recht der Europäischen Union. Zum europäischen Sozialrecht zählt indessen auch das Sozialrecht des Europarates, so etwa die Europäische Sozialcharta und die verschiedenen Konventionen zur Sozialversicherung.
Herausgeber:innen und Bearbeiter:innen
Mit der 8. Auflage zeichnet erstmals Constanze Janda, Professorin für Bürgerliches Recht, Medizinrecht, Deutsches und Europäisches Sozialrecht, Inhaberin des Lehrstuhls für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaft an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, als weitere Herausgeberin mitverantwortlich für das Werk. Zusammen mit dem langjährigen Alleinherausgeber Maximilian Fuchs, bis Ende September 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der als einer der führenden Spezialisten des Europäischen Arbeits- und Sozialrechts gilt, ist damit in der Person von Constanze Janda eine kontinuierliche und langfristige Fortführung des Kommentars gewährleistet.
Bei den Autor:innen handelt es sich um Personen, die sich in Wissenschaft und Praxis seit langem einen Namen auf dem Gebiet des Europäischen Sozialrechts gemacht haben und die als ausgewiesene Kenner dieses Rechtsgebietes gelten. Seit der letzten Auflage sind neu in das Autor:innenteam eingetreten Professorin Dr. Johanna Wolff, Universität Osnabrück, Matthias Landeck und Thorsten Schwarz von der Deutschen Rentenversicherung Bund. Zusammen mit den Herausgeber:innen wird der Kommentar von insgesamt dreizehn Autor:innen (Professor Dr. Karl-Jürgen Bieback, Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt, Prof. Dr. Rob Cornelissen, Prof. Dr. Bettina Hummer, Mathias Landeck, Thorsten Schwarz, Professor Dr. Franz Marhold, Dr. Rolf Schuler, Prof. Dr. Bernhard Spiegel, Professor Dr. Heinz-Dietrich Steinmeyer und Professor Dr. Johanna Wolff) bearbeitet. Alle Autor:innen haben sich in Wissenschaft und Praxis – zum Teil seit langem – einen Namen auf dem Gebiet des Europäischen Sozialrechts gemacht und gelten als ausgewiesene Kenner:innen dieses Rechtsgebietes.
Entstehungshintergrund
Der Kommentar ist 2022 in 8. Auflage, vier Jahre nach der 7. Auflage aus dem Jahr 2018, erschienen. In diese Zeit fällt der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. In der vorliegenden Auflage mussten die Austrittsabkommen und im Abkommen über Handel und Zusammenarbeit enthaltenen Vorschriften zum Koordinierungsrecht Berücksichtigung finden. Die Regelungen zur Sozialrechtskoordinierung im Austrittsabkommen sind im Kommentar mit abgedruckt. Seit der Vorauflage sind 60 Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ergangen, die ebenso in die Neukommentierung eingeflossen sind wie wichtige Entscheidungen nationaler Gerichte. Das Werk ist auf dem Stand von Mitte Januar 2022.
Aufbau
Das Werk hat 10 Teile, die weitgehend den 11 Teilen der Vorauflage entsprechen. In der jetzt vorliegenden Auflage sind die bisherigen Teile 8 und 10 zu den Teilen 8a und 8b geworden.
Den Hauptteil des Werkes bildet mit über 600 Seiten die Kommentierung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Teil 2). Diese Verordnung bildet den zentralen Gegenstand des unionalen Sozialrechts. Diesem Teil vorangestellt ist die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Verordnung, die sich in Art. 48 AEUV und im inhaltlichen Kontext der Freizügigkeitsvorschriften des AEUV (Art. 45 bis 48 AEUV) findet (Teil 1). In Teil 3 wird Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 (arbeitsrechtliche Gleichstellung) kommentiert. Dann folgen verschiedene Richtlinien im thematischen Zusammenhang mit dem unionalen Sozialrecht (Teile 4 bis 8b). Komplettiert wird das Werk mit einem Beitrag zu den Assoziierungsabkommen der EU (Teil 9), gefolgt vom Abdruck des Brexit-Abkommens (als Anhang zu Teil 9). Abschließend folgt ein Beitrag zum europäischen Rechtsschutz im Sozialrecht (Teil 10).
Inhalt
Diesen Teilen geht eine Einführung (Fuchs) voran, in der auf das Begriffsverständnis des Europäischen Sozialrechts im Sinne des Einbezugs auch der Normsetzungen des Europarates hingewiesen wird (Rn. 5). Die Einführung schildert die Entwicklung des Europäischen Sozialrechts, die rechtlichen Grundlagen des Koordinierungsrechts, die Bedeutung des AEUV für das Sozialrecht und die Reformvorschläge der Kommission. Die Einführung ist mit einer umfangreichen Literaturübersicht versehen. Für Personen, die sich zum ersten Mal mit dem Europäischen Sozialrecht befassen, kann diese Einführung als kurzgefasstes Lehrbuch zu diesem Rechtsgebiet dienen.
In Teil 1 (Fuchs) geht es um die Grundlagen der Koordinierungsverordnung im Rahmen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Art. 45 bis 48 AEUV). Diese Grundlagen haben mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu tun, wobei die Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 in Art. 48 AEUV gegeben ist. In diesem Teil wird herausgearbeitet, dass mit der Koordinierungsverordnung keine Harmonisierung, sondern nur eine Koordinierung der entsprechenden nationalen Vorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewollt ist (Rn. 5, 24 ff.). Von Interesse ist die Funktion der Freizügigkeitsgewährleistung in Art 48 AEUV als Prüfungsmaßstab und Auslegungsgrundlage (Rn. 6 ff.) und das Verhältnis zu Art. 45 AEUV (Rn. 15 ff.). Wie schon in der Einleitung überzeugt auch in Teil 1 die klare dogmatische Ausarbeitung des Verständnisses der jeweiligen Rechtsgrundlagen.
Teil 2 enthält, wie bereits erwähnt, den Hauptteil des Werkes. Hier wird die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit kommentiert. Die Kommentierung des Titels I (Allgemeine Bestimmungen) (Art. 1 bis 10 VO) der Verordnung übernehmen Hummer, Spiegel, Fuchs, Schuler und Steinmeyer. Von besonderem Interesse sind hier die Ausführungen zum sachlichen Geltungsbereich der Verordnung (Art. 3 VO) (Fuchs), insbesondere zum Einbezug von Pflegeleistungen als Leistungen bei Krankheit (Rn. 9) und zur Problematik des Ausschlusses der sozialer und medizinischer Fürsorgeleistungen (Rn. 33 ff.). Titel II enthält die Vorschriften zur Bestimmung des anwendbaren Rechts (Art. 11 bis 16 VO) (Steinmeyer). In der Terminologie des Internationalen Privatrechts geht es hier um allseitige Kollisionsnormen, die die anzuwendende Sozialrechtsordnung bei Sachverhalten mit Berührung zu mehreren Mitgliedstaaten bezeichnen (Rn. 1). Titel III umfasst die besonderen Bestimmungen über die verschiedenen Arten von Leistungen. Die einzelnen Kapitel hierzu enthalten die jeweiligen Leistungsarten: Krankheit, Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft (Art. 17 bis 35 VO) (Bieback; Janda); Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (Art. 36 bis 41 VO) (Fuchs); Sterbegeld (Art. 42, 43 VO) (Fuchs); Invalidität (Art. 44 bis 49 VO) (Janda); Alters- und Hinterbliebenenrenten (Art. 50 bis 60 VO) (Janda); Arbeitslosigkeit (Art. 61 bis 65a VO) (Fuchs); Vorruhestandsleistungen (Art. 66 VO) (Fuchs); Familienleistungen (Art. 67 bis 69 VO) (Marhold); besondere beitragsunabhängige Geldleistungen (Art. 70 VO) (Fuchs). Titel IV enthält die Vorschriften zur Verwaltungskommission und zum beratenden Ausschuss (Art. 71 bis 75 VO) (Cornelissen), Titel V verschiedene Bestimmungen, so etwa zum Datenschutz (Art. 76 bis 86 VO) (Spiegel, Landeck, Schwarz), und Titel VI die Übergangs- und Schlussbestimmungen (Art. 87 bis 91 VO) (Spiegel). Die Kommentierungen der verschiedenen Titel enthalten eingangs eine Literaturübersicht und einführende Vorbemerkungen. Die Beschlüsse und Empfehlungen der Verwaltungskommission sind als Anhang beigefügt.
Teil 3 enthält die Kommentierung zu Artikel 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. April 2011 (Steinmeyer). Hier geht es um die steuerrechtliche und sozialrechtliche Nichtdiskriminierung der Arbeitnehmer.
Die Richtlinien im thematischen Zusammenhang mit dem unionalen Sozialrecht sind die Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (Teil 4). Die abkürzende Bezeichnung als „Patientenrichtlinie“ und nicht als Patientenrechtsrichtlinie oder Patientenmobilitätsrichtlinie ist etwas ungenau. Diese Richtlinie wird von allen Richtlinien mit über 80 Seiten am ausführlichsten kommentiert (Bieback). Weiter werden verschiedene Gleichbehandlungs- und Nichtdiskriminierungsrichtlinien kommentiert (jeweils von Bieback/Hummer), so die Richtlinie des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79/7/EWG) (Teil 5), die Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Teil 6) und die Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (Teil 7). Weiter werden kommentiert (jeweils von Steinmeyer) die Richtlinie 98/49/EG des Rates vom 29. Juni 1998 zur Wahrung ergänzender Rentenansprüche von Arbeitnehmern und Selbstständigen, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu- und abwandern (Teil 8a) und die Richtlinie (EU) 2016/2341 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 14. Dezember 2016 über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (Teil 8b).
Das Werk wird komplettiert durch einen dem Sozialrecht in den Assoziierungsabkommen der EU gewidmeten Teil (Teil 9) (Hummer), in dem auch ausführlich auf die Sektoralabkommen mit der Schweiz eingegangen wird, und einem Teil, der den europäischen Rechtsschutz im Sozialrecht zum Gegenstand hat (Teil 10) (Borchardt).
Diskussion
Das von Maximilian Fuchs und Constanze Janda herausgegebene Werk zum Europäischen Sozialrecht erschöpft sich nicht nur in der Kommentierung der zentral einschlägigen Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der dazugehörigen Durchführungsverordnung. Das Werk greift in zweierlei Hinsicht weiter aus: So werden auch die thematisch mit dem Sozialrecht zusammenhängenden Richtlinien kommentiert, und es wird weiter in mehreren lehrbuchartigen Darstellungen auf die Grundlagen des Europäischen Sozialrechts, die Fundierung im AEUV sowie auf die Rechtsdurchsetzung eingegangen. Dabei kommt dem Werk zugute, dass neben den schon in den früheren Auflagen mitarbeitenden Autoren (Bieback, Borchardt, Cornelissen, Schuler, Spiegel, Steinmeyer) später auch Autor:innen gewonnen werden konnten, die sich ebenfalls im Europäischen Sozialrecht kompetent wissenschaftlich engagiert haben (Janda, Hummel, Marhold, zuletzt Landeck, Schwarz und Wolff). Nicht zuletzt profitiert das Werk davon, dass einige Autoren mit der EU-Administration seit langem aufs Engste vertraut sind (Borchardt, Cornelissen, Spiegel).
Fazit
Es bleibt das Verdienst der Herausgeber:innen, dass das Werk inhaltlich so breit aufgestellt ist und dass sie für einen gleichbleibend hohen Qualitätsanspruch in allen Beiträgen Sorge getragen haben. Es spricht für die Herausgeber:innen, auch noch für diese 8. Auflage des Werkes neue Autor:innen gewonnen zu haben, die den Kreis der namhaften Spezialist:innen des Europäischen Sozialrechts erweitern. Daher darf dieses Werk von Umfang wie von der Substanz her als das führende Standardwerk des Europäischen Sozialrechts gelten, wie es auch der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C-866/19 für die Vorauflage herausgestrichen hat.
Rezension von
Prof. Dr. Gerhard Igl
(Universitätsprofessor a.D., Universität Kiel)
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