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Thomas Schäfer: Ethik für die Soziale Arbeit und helfende Berufe

Rezensiert von Prof. Dr. phil Alexander Th. Carey, 09.12.2022

Cover Thomas Schäfer: Ethik für die Soziale Arbeit und helfende Berufe ISBN 978-3-8252-5608-1

Thomas Schäfer: Ethik für die Soziale Arbeit und helfende Berufe. Eine Einführung in ethisches Denken, Handeln und philosophische Reflexion. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 143 Seiten. ISBN 978-3-8252-5608-1. D: 12,90 EUR, A: 13,30 EUR, CH: 16,90 sFr.
Reihe: UTB - 5608.

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Thema

Dieses kleine Fachbuch hat die Absicht, eine „Ethik der Sozialen Arbeit und der helfenden Berufe“ mit 143 Seiten vorzustellen. Es soll eine „Einführung in ethisches Denken und Handeln und eine philosophische Reflexion“ liefern. Das Buch ist in 4 Abschnitten mit einer Einführung von ethischen Fragen und ihrer Hintergründe, einem Aufriss über ethische Theorien, namentlich Immanuel Kant und der Utilitarismus, mit allgemeinen ethischen (bzw. besser psychologischen) Orientierungen über Achtsamkeit und Menschenrechte und einer Anleitung zur kritischen Selbstreflexion anhand Foucaults Subjektanalytik eingeteilt. Gespickt wird der Text mit Exkursen aus der Psychologie und der Soziologie und einigen Übungen. Generell muss man feststellen, dass Inhalte der wissenschaftlichen Disziplin Ethik sich vorrangig durch drei Funktionen bestimmen lassen (Carey 1999): (a) über eine systematische Reflexion eine Rechtfertigung von gutem oder richtigem Handeln zu liefern, (b) Handeln folglich zu legitimieren und/oder (c) die Entfaltung von Personen/​Menschen zu gewährleisten (Carey/Müller 2020). Tatsächlich geht es in diesem Buch eher um eine psychologisch-reflexive Abhandlung zu typischen Themen, die den Weisheitslehren zugeordnet werden können, als um ethische Inhalte, die in diesem Buch nur einen marginalen Anteil einnehmen. So kann dieses Buch eigentlich nur als psychologischer Ratgeber fungieren.

Autor

Dr. Thomas Schäfer, Akademischer Mitarbeiter und Lehrbeauftragter für Ethik, Philosophie und Propädeutik an der Alice Salomon Hochschule Berlin und der Hochschule Fulda.

Inhalt

Die Kapitel fokussieren auf folgende Aspekte:

Kapitel 1 - Ethische Fragen und Probleme und ihre Hintergründe: Hier sollen ethische Grundbegriffe – auch anhand von Fallbeispielen – eingeführt werden. Der Autor verweist auf aus seiner Sicht maßgebliche Einteilungen von diversen Bereichsethiken. Diese Kategorisierung ist jedoch nicht schlüssig. Zum Beispiel irrt der Autor, indem er behauptet (S. 15), es gäbe eine deskriptive, beschreibende ethische Theorie im Gegensatz zu einer Normativen Ethik (Kant, Utilitarismus, christliche Ethik). Dies widerspricht jedoch der Logik und der Semantik von Ethik, denn jegliche Ethik, die ethische Analysen und Rechtfertigungen durchführt, ist per se normativ. Die Einteilung von normativer und nicht-normativer Ethik macht keinen Sinn. In einem logischen Sinn kann es keine echten ethischen, auf Deskription beruhenden Theorien oder Ansätze geben. Eine Befragung oder Beschreibung von Verhalten wäre wohl Meinungsforschung und keine Ethik, die stets vom normativen Sollens-Prinzip ausgeht (Carey/​Forst, 1996) Im nächsten Schritt versucht der Autor ethische von moralischen Urteilen abzugrenzen. Hierbei sieht der Autor das ethische Urteilen zum moralischen Urteilen übergreifender und umfassender. Dieser Einschätzung kann der Rezensent ebenfalls nicht folgen, da der gegenwärtige Stand in der ethischen Debatte darauf hinweist, dass Ethik nicht über Moral übergreifend anzusehen ist, sondern mit unterschiedlichen Foki gleichberechtigt zu sehen ist: Ethik betont hierbei das Partikulare (das jeweilige Gute) in der Reflexion, während Moralische Systeme einen universellen Ansatz des Menschseins repräsentieren (ebd.). Beispiel: Die Fragestellung „Soll Abtreibung legal oder verboten sein?“ gehört zur Ethik, während die folgende Fragestellung „Ist die Gewährung von Asyl bei Flucht aufgrund ökologischer Katastrophen zu bejahen?“ eine moralische Fragestellung ist. Seine unter Bezugnahme auf objektive und bedingungslose Gültigkeit festgestellten Bedeutungsinhalte für moralische Urteile (S. 22) sind für ethische Urteile ebenfalls notwendig, sonst wären diese eben keine ethischen Urteile. So sind sein begrifflicher Aufbau und die folgenden Ausführungen nicht anschlussfähig mit den rationalen Voraussetzungen von Ethik. Sein vorgestelltes „Ethisches Begründungsschema“ (S. 32) ist in Folge gleichfalls irrig: Von dem Menschenbild, der Weltanschauung oder der Religion kommt man laut Verfasser zu einer „Mitleids-Ethik“ (sic), damit zur Mitmenschlichkeit und beispielsweise zur Hilfe von Kindern. Der Verfasser verwechselt ethische Fundierung mit der psychologischen Variable ‚Motivation‘ auf der Grundlage von Werten. Menschenbilder sind nicht einfach so ethisch, sondern gehören zu psychologischen Vereinfachungen, wie z.B. der Mensch ist ein homo oeconomicus oder der Mensch schaut immer auf seinen Nutzen. Diese sind offensichtlich keine ethischen Positionen. Deshalb kann Menschenbild als solches keine ethische Begründung liefern und somit kann kein ethisches System allein über ein Menschenbild legitimiert werden, was der Autor (und nicht nur er) jedoch in seinem Buch macht. Sein angegebenes „Ethisches Begründungsschema“ ist zwar normativ, aber nicht ethisch. Es ist für die Menschen auch nicht verbindlich. Man könnte es auf dieser Grundlage eben gar nicht einfordern, da es sich um eine besondere Art von Motivation und ausschließlich um subjektive Werte handelt, die gut oder schlecht sein können. Ist die persönliche Wertentscheidung des Managers, dass sein Unternehmen viel Gewinn machen sollte, gut oder schlecht? Das lässt sich an dieser Stelle ethisch nicht entscheiden. Diese Differenzierung „übersieht“ der Verfasser in seinem Buch. Die Motivation „zu helfen“ kann gut oder schlecht sein; sie ist auf alle Fälle nicht per se gut. Dieses Manko zieht sich mittels seiner Übungen und Fallbeispiele, z.B. „Suizid verhindern“, durch sein gesamtes Buch. Sie sind in der ethischen Bearbeitung durch den Verfasser zu trivial und berücksichtigt nicht die Spezifität von Lebensumständen.

Dieses Kapitel schließt mit Ausführungen über Verantwortung und Freiheit. Der erste Teil über Verantwortung gleitet hauptsächlich in psychologische oder moralphilosophische (nicht-ethische) Dimensionen ab. An dieser Stelle fehlen die konzeptionellen Rückgriffe z.B. auf Max Weber oder Hans Joas. Nur weil ich über meine mögliche Verantwortung nachdenke, ist dies noch keine Ethik. Es fehlt das Rekurrieren auf „erste Gründe“, die Auswirkungen auf meine partikulare Lebenswelt zeitigt. Die sich im Buch anschließenden Überlegungen sind deshalb rein psychologischer Natur. Das gilt auch für den Exkurs zur Identität, der zu den Sozialwissenschaften gehört und in diesem Buch deplatziert wirkt.

Kapitel 2: Ethische Theorien und Konzepte: Hier greift der Verfasser von den vielen Möglichen zwei prominente Theorieansätze heraus: die Ethik Immanuel Kants und der Utilitarismus. Warum er diese Auswahl trifft, begründet er nicht. In seiner Argumentation (ohne auf Sekundärliteratur zurückzugreifen) simplifiziert der Autor diese moralisch-ethische Positionen. Bei Kant bezieht er sich in seiner Argumentation auf den Kategorischen Imperativ. Tatsächlich ist diese Maxime genaugenommen ethisch inhaltsleer und hat im systemtheoretischen Aufbau des kantschen Moralsystems eher eine reduzierte Bedeutung. Die logische Hinführung von Kant zum Kategorischen Imperativ ist das Entscheidende. Der Weg über transzendentale Erkenntniskategorien wird jedoch vom Autor gleichfalls negiert und letztlich von ihm nur mit dem kantschen Menschenbild begründet. Dies ist tatsächlich eine zu starke Vereinfachung seines Moralsystems. Die ethische Vernunft als konstitutives Merkmal des Menschen – unabhängig davon, dass dies kein Menschenbild ist – ist in der Ideengeschichte auch nicht von Kant, sondern u.a. von Thomas von Aquin und Duns Scotus eingeführt worden (Habermas 2019). Kant hat eigentlich nur die bereits entwickelten Moralsysteme im Rahmen seiner Argumentation zusammengeführt. So kann er ethisch als Eklektiker verstanden werden und reiht sich deshalb in die Traditionsgeschichte der Ethik als ein prominenter Denker von vielen ein. Seine Kernaussage ist, dass Ethik und Moral als Prüfkriterium verallgemeinerungsfähig sein müssen. Der Autor wiederholt ferner unreflektiert, Pauschal-Schubladen, indem die kantsche Ethik z.B. als deontologisch bezeichnet wird. Im genauen Studium von Kant wird man feststellen, dass diese Beschreibung fachlich nicht zureichend ist, denn es geht bei Kant bei dem Begriff „Pflicht“ nicht um unser modernes Verständnis, sondern um eine Einsichtnahme qua Vernunft, die mit unserem freien Willen zusammenfällt (1785, BA 14, 400; BA 15, 400) Nachgewiesenermaßen müssen alle „Ethiken“ und jegliche „Moral“ verallgemeinerungsfähig sein – um auch verbindlich sein zu können (Carey 1999). Somit müssen bedeutsame „Ethiken“ – egal welche Bereiche gemeint sind, alle diesem formalen Prüfkriterium genügen. In Folge weist die kantsche Ethik bzw. Moral eigentlich kein eigenständiges Abgrenzungsmerkmal zu anderen ethischen Positionen auf, wie es in den populären „Fachbüchern“ zum größten Teil suggeriert wird.

Der andere moralische Ansatz, auf den der Verfasser rekurriert, ist der Utilitarismus. Tatsächlich benützt Kant in seiner Begründung ebenfalls utilitaristische Begründungs-Konstruktionen, sodass Kant eigentlich auch als ein Utilitarist bezeichnet werden kann (ebd.). In der Metaphysik der Sitten finden wir in Kants Argumentation die Schlussfolgerung, sich an der Logik des „Entscheidungsdilemmas“ (der Struktur nach ist es das „Gefangenendilemma“ der Entscheidungstheorie) orientierend, dass aus Gründen des Nutzens der Pflicht zur Selbstbeschränkung der Freiheit im Horizont einer sanktionsberechtigten schiedsrichterlichen Instanz zugestimmt werden muss. Abgesehen davon wird der Utilitarismus als ethisch-moralische Position in der Debatte als verwerflich und unmoralisch angesehen (ebd.). Er verfolgt nämlich das moralische Ziel einer Maximierung des maximalen Glücks in einer Sozialordnung und die Steigerung des durchschnittlichen Nutzens für die Gesamtgesellschaft. In der logisch-argumentativen Konsequenz wird jedoch das Gemeinwohl den Mitgliedern aufgenötigt. Zwanghafte Regeln sind nach dem Utilitarismus gerechtfertigt, da das Gemeinwohl wichtiger als das Partikularwohl angesehen wird. Mit dem Utilitarismus kann man Sozialordnungen, die auf Leibeigenschaft und Sklaverei aufgebaut sind, ohne Schwierigkeiten positiv legitimieren, wenn es der überwältigenden Mehrheit eines Gemeinwesens dadurch besser gehen sollte. Historisch konnte der Utilitarismus im 18. Jahrhundert begründen, warum der Sklavenhandel eine für das Gemeinwohl nutzbringende Institution ist und dass die Armen in einer Gesellschaft keine Armenunterstützung benötigen! Genauso können mit diesem moralischen Ansatz die Gräueltaten der Nationalsozialisten, Rassismus und Fremdenhass legitimiert werden. Die utilitaristische Logik ist auch nicht schlüssig, da die vorausgesetzte Synonymisierung von ‚Glück‘ zu ‚Nutzen‘ nicht gerechtfertigt ist. Politiken der Bevorzugung werden vom Utilitarismus als richtig gerechtfertigt und opfern die Rechte einzelner. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, dass das utilitaristische Gedankengut in den besagten „Ethik-Fachbüchern“ der Sozialen Arbeit und gerade auch in diesem Buch als relevante ethische Theorie benannt und einseitig diskutiert wird.

Seine Begründung für die aufgezeigten gegenpoligen Grundrichtungen der Ethik zwischen Kant und dem Utilitarismus (S. 72) ist folglich irrig, da er diese ethischen Positionen falsch interpretiert. Auf alle Fälle muss jegliche, gegenwärtig maßgebliche Ethik deontologisch sein, da es immer um die vernunftmäßige Einsichtnahme in rationale Gründe geht – das versteht, wie bereits ausgesagt, Kant unter „Pflicht“ (1785, BA 14, 400; BA 15, 400) –, und sie muss gleichzeitig stets auch teleologisch (zweckorientiert), da eine subjektive Bewertung, die nicht verallgemeinbar ist, per definitionem nicht ethisch ist. Deshalb gehen die Bemerkungen des Autors an der ethischen Sache eklatant vorbei.

Aufgrund seiner trivialisierten Darstellung in diesem Buch, zieht sich die simplifizierende Betrachtung des Verfassers durch diesen Abschnitt weiter. Sein Exkurs über Glück und gutes Leben gehört dann vom Inhaltlichen wieder zu (s)einem psychologischen Ratgeberbuch.

Kapitel 3: Allgemeine ethische Orientierungen: Achtsamkeit und Menschenrechte: An dieser Stelle führt der Verfasser zwei weitere Begriffe ein: die Achtsamkeit und die Menschenrechte. Achtsamkeit ist sicherlich einer der wichtigsten Begriffe in der Sozialen Arbeit, der Pflege und in der Medizin und im Kontext der helfenden Berufe. Jedoch ist dieser Begriff eindeutig kein ethischer, sondern ein psychologischer Begriff, der in ein Fachbuch über die Ethik eigentlich nicht vorherrschend hineingehört. Des Weiteren schließt der Verfasser seine Überlegungen mit den bekannten Überlegungen der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession von Staub-Bernasconi an. Auch in diesem Kontext ist der Verfasser oberflächlich und durchdringt das Thema der Menschenrechte kaum. Dass Soziale Arbeit eine Menschenrechtsprofession klingt generell gut. Entscheidend für den Diskurs ist jedoch die (ethisch-moralische) Begründung. Die Titulierung der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession deckt nicht alle Aspekte der Sozialen Arbeit ab (Carey 2023). Z.B. ist eine „ethische“ Begründung der Sozialen Arbeit ausschließlich unter dem Aspekt der „Hilfe“ aus einer fachlichen Perspektive gesehen unterkomplex und in gewisser Weise sogar tautologisch, die im Effekt nichtssagend ist. So zitiert der Verfasser umfassend die „Berufsethik“ (der IFSW/IASSW als Bestätigung für seine Argumentation). Diese Begründungsstruktur ist jedoch, wie gesagt, tautologisch und keinesfalls ethisch, da die eigentliche Begründung auf „erste Gründe“ fehlt. Das Gleiche gilt für die (willkürliche) Fundierung von Menschenrechten als Grundlage der Sozialen Arbeit. Es fehlt die Begründungsstruktur. Diese Vorgehensweise schließt ein ethisches-moralisches Fundament regelrecht aus. Die offenen Fragen wären hier: Welche Menschenrechte sind hier gemeint, die in der UN-Charta von 1948 (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte), die ebenfalls wichtigen Rechte der UNO-Pakte von 1966 oder die später konzipierten existenziellen Menschenrechte elementarer Bedürfnisse. Diese verschiedenen Arten an Menschenrechten haben z.B. hinsichtlich völkerrechtlicher Verbindlichkeit unterschiedliche Qualitäten (Carey 1999) Gleichfalls können Menschenrechte benannt werden, die in der abendländischen Ideen- und Geistesgeschichte entwickelt worden sind, aber nicht zu den Erga-Omnes-Normen der UNO gehören und mit den Grundrechten der UN-Charta eben nicht deckungsgleich sind (ebd.). Sehr wohl zu berücksichtigen sind die kollektiven Menschenrechte aus dem asiatischen oder dem islamischen Kulturkreis. Gemeinsam ist allen bekannten, unterschiedlich kulturellen bzw. theoretischen Zugängen die Menschenwürde (ebd.). Eine ausschließliche Festlegung auf die westlichen Menschenrechte wäre ohne weitere normative Begründung für sich genommen eine Ignoranz anderer kultureller Entwicklungen. So ziehen sich die simplifizierenden Überlegungen des Verfassers durch die folgenden Abschnitte und vervielfältigen beim/bei der Leser_in den oberflächlichen und missverständlichen Eindruck über das wichtige Thema der Menschenrechte – gerade auch in Bezug zur Professionalität Sozialer Arbeit. Der nachfolgende Exkurs über Toleranz, Respekt und Wertschätzung wird eigentlich nur definiert, aber wiederum nicht ethisch-moralisch begründet.

Kapitel 4: Formen der kritischen Selbstreflexion: Im letzten Abschnitt möchte der Verfasser eine (sic) mögliche Methodik der kritischen Selbstreflexion unter Bezugnahme von Foucaults Subjektanalytik vorexerzieren. Er stellt hierzu die vier Aspekte von Foucaults Schema vor:

  1. Angestrebte Seinsweise (in der offiziellen Übersetzung eigentlich „Teleologie“) – der Foucaultsche Begriff der „Teleologie“ ist nicht unbedingt deckungsgleich zum Begriff der ‚Angestrebten Seinsweise‘ des Autors. Bei Foucault scheint der Begriff eine ggf. aufoktroyierte, mit Macht verfügte Differenzierung von Moralcodes zu sein. Dann wäre der vom Verfasser benützte Begriff einer ‚angestrebten Seinsweise‘ in der Verwendung ein zu Foucault kontraindizierter Begriff zu sein (vgl. Sich 2018, S. 118 f.) –,
  2. Ethische Arbeit,
  3. Ethische Substanz und
  4. Unterwerfungsweise.

Zu berücksichtigen wäre, dass das Denken von Foucault stets den Machtkontext als Hintergrund seiner Analyse berührt und er seine ethischen Untersuchungen vorrangig auf die antike Philosophie angewandt hatte, die er als Gegenentwurf zur modernen Ethik angesehen hatte. Er versteht Ethik insbesondere als psychologische Dimension, das Verhältnis des Selbst zu sich beleuchtend (vgl. 1989, S. 178 f.). Sie kennzeichnet ein System, das den Fokus auf die Selbstkonstituierung hat. „Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein könnten […]. Wir müssen nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art und Weise von Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt“(ebd. 280). In diesem Kontext ist es fraglich, ob dieses Begriffsschema, vom originalen foucaultschen Denken entkernt, welches sozusagen von Foucault in einem rein sozialpsychologisch-philosophischen Sinn interpretiert wird, im vom Verfasser gewollten Sinn adäquat verwendet werden kann. Der maßgeblich radikale Subjektivierungsansatz, der das Charakteristikum von Foucaults Denken ist, auf ethische Dilemmata zu übertragen, ist zwar möglich, hilft jedoch nicht bei einer notwendig einzuhaltenden, normativen und verbindlichen Fundierung von Ethik. Dieses Begriffsschema ist u.E. nach wohl eher geeignet für die Supervision des eigenen fachlichen Handelns als für die Lösung ethisch-gesellschaftlicher Probleme.

Der letzte Abschnitt über Selbstreflexion und seelische Gesundheit gehört wieder zum psychologischen Ratgeber des Buches und nicht zu einer Auseinandersetzung über Ethik.

Diskussion

Der Autor konzipiert in seinem Buch eine psychologische Dimension der philosophischen Disziplin Ethik. Diese Übertragung auf philosophiefremde Kontexte verwässert ethisches Denken, wie man an diesem Buch deutlich erkennen kann. Es sollte tatsächlich diskutiert werden, ob ein Buch mit psychologischen Themen, um ein klares Erkenntnis-Profil zu erreichen, nicht mit (vereinfachten) Ethik-Ansätzen vermischt werden sollte. Das würde beiden Disziplinen besser gerecht werden.

Fazit

Dieses Buch firmiert unter der Überschrift „Ethik für die soziale Arbeit und helfende Berufe“. Es soll eine Einführung in ethisches Denken und Handeln liefern. Diese Intention wird mit diesem Buch nicht eingelöst. Für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Ethik in der Sozialen Arbeit findet man zu wenig Fundiertes. Der Anschluss an ethische Fragestellungen, wie z.B. an Seyla Benhabib (1992) findet nicht statt. Ethisch-moralische Positionen werden falsch verstanden oder zu simplifizierend verwendet. Das fachlich-wissenschaftliche Niveau rutscht mit solchen Büchern in den Keller. Da dieses Buch kein Einzelfall ist (vgl. z.B. das sogenannte „Lehrbuch“ von Schumacher [2013]), ist es ein gesellschaftliches Symptom, dass Bücher z.B. über Ethik geschrieben werden, die den Fach-Diskurs kaum zur Kenntnis nehmen und Inhalte auf einem niedrigen fachlichen Level veröffentlichen. Dies ist besonders problematisch, da diese Bücher für Studierende geschrieben werden, die dieses simplifizierende Niveau in Folge im Studium und darüber hinaus weitertragen.

Quellen

Benhabib, S. (1992). Situating the Self: Gender, Community and Postmodernism in Contemporary Ethics, Routledge.

Carey, A. Th., Forst, R. (1996). Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Carey, A.Th. (1999). Zivilisierungsstrategie Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für einen internationalen Prozeduralismus. Würzburg: Ergon.

Carey, A. Th., Müller, A. v. (2020). Die Selbstentfaltung der Welt. Eine Einladung, Zeit und Wirklichkeit neu zu denken und mit Komplexität anders umzugehen, München: Siedler.

Carey, A.Th. (2023). ‘Participatory Budgeting‘ (Bürgerhaushalt) als Antwort auf die Krise der öffentlichen Finanzierung in der Gemeinwohlökonomie, INAS-Fachkongress FH Salzburg, im Druck.

Foucault, M. (1989). Sexualität und Wahrheit. Die Sorge um sich, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag

Habermas, J. (2019). Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin: Suhrkamp.

Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, BA 14, 400; BA 15, 400.

Schumacher, Th. (2013). Lehrbuch der Ethik in der Sozialen Arbeit, Weinheim/​Basel: Beltz.

Sich, P. (2018). Foucault. Eine Einführung, Ditzingen, Reclam

Rezension von
Prof. Dr. phil Alexander Th. Carey
M.A.
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Es gibt 10 Rezensionen von Alexander Th. Carey.

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ISSN 2190-9245