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Helge Peters: Eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme

Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 02.08.2022

Cover Helge Peters: Eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme ISBN 978-3-7799-6881-8

Helge Peters: Eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 148 Seiten. ISBN 978-3-7799-6881-8. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

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Autor und Thema

Helge Peters, emeritierter Hochschullehrer für Soziologie an der Universität Oldenburg, bündelt, an der Fortbildung soziologischer Theorie interessiert (S. 5), in dieser Schrift seine bisherigen Überlegungen zu einer konstruktivistischen Theorie sozialer Probleme. Eine möglichst wertfreie Theorie, die untersucht, warum bestimmte gesellschaftliche Sachverhalte, wie ‚Armut‘, ‚Kriminalität‘, ‚Rassismus‘ oder ‚Gewalt gegen Frauen‘ überhaupt als ‚soziale Probleme‘ gelten, anstatt, wie heute zumeist üblich, ‚objektivistisch-ätiologisch‘ sogleich nach deren Ursachen zu fragen. Weil solche ‚Probleme‘, wie wir seit Berger/​Luckmann und den Arbeiten des symbolischen Interaktionismus wissen sollten (S. 21–28), als solche ‚materialiter‘ ohnehin nicht vorgegeben seien.

Aufbau und Inhalt

In 18, zum Teil sehr kurzen Kapiteln beschreibt und analysiert Peters, wie solche sozialen Probleme konstruiert werden, welche entscheidende Rolle heute ‚sozialen Bewegungen‘ und Massenmedien dabei zukommt, und wann, zumeist herrschaftliche, Interessen zum Zuge kommen. Beispielhaft werden im Laufe der Analyse verschiedene ‚soziale Probleme‘ sowohl klassischer wie aktueller Art angesprochen: Armut, Kriminalität und Terrorismus, ebenso wie Kindesmisshandlung, Legasthenie oder Drogen-Mißbrauch; bis hin zu den „Mobilisierungserfolgschancen der Aktivist*innen und Organisator*innen der ‚rechten‘ sozialen Bewegungen.“ (70). Doch liegt das Schwergewicht in der Auseinandersetzung mit einschlägig argumentierenden soziologischen Autoren: wie etwa Steinert, Haferkamp und Goffman sowie Spector/​Kitsuse, Schetsche und Grönemeyer.

Angesichts der gegenwärtigen Häufung solcher ‚sozialer Probleme‘ greift Peters im 5. Kapitel auf gängige ‚groß-soziologische‘ Erklärungen zurück: Webers ‚okzidentale Rationalisierung‘, Becks reflexive Moderne, Joas‘ Sakralisierung der Person, Heitmeyers Modernisierungsverlierer. Eine zunehmende Vielfalt ‚sozialer Probleme‘, die jedoch – den soziologischen Zeitschriften nach – heute, im Gegensatz zu den 60ger/​70ger Jahren, kaum noch ‚konstruktivistisch‘ diskutiert und erklärt würden (122). Doch gelte auch umgekehrt, dass die großen Theorie-Ansätze – System-Theorie, Kritische Theorie, polit-ökonomische Theorien (126) – von Vertretern der konstruktivistischen Ansätze kaum zitiert würden, da sie sowohl ‚objektivistisch‘ vorgingen wie auch die handelnden Akteure/​Personen außer Acht ließen (17. Kapitel).

Entscheidend sei, dass diese sozialen Probleme als solche von Menschen/​Organisationen definiert würden (11) – und nicht im ‚Wesen der Dinge‘ gründeten: „Die Dinge sind nie als solche da, sondern uns immer als kommunizierte Texte, als Geschichten verfügbar.“ (115). Diese sozialen Problematisierungen würden heute, im Gegensatz zu früher, etwa als Identitäts-Politik, zumeist von sozialen Bewegungen und Massenmedien vorangetrieben und im Alltag durch ein ‚doing social problems‘ konkret realisiert. Und zwar relativ beliebig und von Interessen gelenkt, doch keineswegs grenzenlos. So belegten ethnologische Untersuchungen eine hohe Übereinstimmung sowohl bei der Bewertung der Armut (99) wie bei den Delikten Mord/Totschlag, Diebstahl, Ehebruch, Inzest und Hexerei/​Zauberei (90).

Diskussion

So sehr man dem Autor angesichts der gemeinsam erlebten ‚theoretischen Sozialisation‘ während der 60er/70er Jahre zustimmen möchte, so würde ich doch auf zwei Ebenen jeweils drei Punkte deutlicher akzentuieren.

Auf einer ersten, inhaltlichen Ebene vernachlässigt seine Analyse – wohl typisch für diese polit-ökonomisch geprägten Soziologie – das tragende Gewicht der Gemeinschaft stiftenden und legitimierenden jeweiligen kulturellen Ideologie. Deutlich zeigt sich dies etwa in Peters These, dass die konstruktivistisch so bedeutsamen sozialen Bewegungen in der Vergangenheit kaum eine Rolle gespielt hätten, da die vormodernen Bauern- und Handwerker-Revolten des 16./17. Jahrhunderts ohne verbindendes Netzwerk zumeist nur kurzlebig ausgefallen seien (S. 30 ff.). Doch boten im Rahmen der damalig dominierenden religiösen Mentalität nicht nur die – übrigens bis heute rudimentär überlebenden – Anabaptisten (u.a. Täuferreich in Münster der 1530ger Jahre) oder die Hussiten (Hussitenkriege 1419–1436) ausgiebig (legal) definierte und bekämpfte soziale Probleme. Während die einander bekämpfenden neuartigen Konfessionen bei uns über einhundert Jahre bis hin zum 30-jährigen Krieg jeweils gut vernetzt, propagandistisch fundiert und herrschaftlich im ‚Konfessions-Staat‘ verankert, sich wechselseitig als ‚soziales‘ Ketzer-Problem definierten und bekämpften – vom Bildersturm bis hin zur Vertreibung der Protestanten aus den fränkischen Erzbischoftümern.

Sodann sollte man – neben dem Einfluss dieser sozialen Bewegungen und ihrer selbsternannten ‚Moral-Unternehmer‘ – sowohl ‚reflexiv‘ die Rolle der am Problem interessierten Professionellen und die einer legitimierenden Wissenschaft, wie aber auch die antreibende Funktion eines entsprechend ‚kolonisierten‘ Publikums deutlicher unterstreichen: Vom Nürnberger Reichstag bis hin zur gepflegten Drogen-Furcht.

Einfluss-Faktoren, die sich dann auch in der weiteren ‚natural history‘ solcher sozialen Probleme auswirken, bis hin zu deren – ebenso ‚konstruierten‘ – Beendigung. Eine ‚Problem-politische‘ relevante Fragestellung, die nur allzu häufig vernachlässigt wird, wenn man primär der Frage folgen will, „wie und warum es zu dieser Problematisierung kam.“ (134). Insgesamt drei Fragestellungen, die auf der Bühne der frühmodernen Hexen-Verfolgung gleichsam in Reinform dargestellt werden, weshalb ich sie in meiner ‚Hexen-Politik‘ (Springer 2022, im Druck) näher analysiere.

Auf einer zweiten eher ‚meta-theoretischen‘ Ebene streift Peters drei weitere Diskussions-Felder, die er ohne weitere Analyse als selbstverständlich voraussetzt. Und zwar zunächst die Jahrhunderte alte ‚philosophische‘ Erkenntnis-Problematik nach den Prüfkriterien einer erfahrbaren Wirklichkeit. Sodann die an Max Weber orientierte Forderung nach einer wertneutralen Forschung. Und, last but not least, die Frage der Praxis-Relevanz einer Theorie, die weder nach den Ursachen solcher Probleme oder nach deren stigmatisierenden Problem-Verstärkern fragen will, noch ‚kritisch‘ – also wertend – das Handeln aller beteiligten Akteure hinterfragen möchte: ‚Antiautoritäre Impulse‘ aus den Anfängen dieser konstruktivistischen Problem-Sicht: „Die Begründung für diese Kritik ergibt sich aber nicht […] aus ihr selbst [… Sie] folgt offenbar Dispositionen der diese Soziologie betreibenden Soziolog*innen.“ (139).

Wenn es auch müßig sein mag, ‚objektivistische‘ und ‚konstruktivistische‘ Theorie-Ansätze synkretistisch zu vereinen: „Stunde der Integrationisten“ (125), sollte man sie – praktisch gesehen – als unterschiedlich brauchbar nebeneinander bestehen lassen; die einen, um die von diesen Problemen mit definierten Ursachen und unerwünschten Folgen anzugehen; die anderen, um die ‚Kippbarkeit von Normen‘ (117) zu unterstreichen. Denn: Solche Theorien dienen nicht nur der Beschreibung und Erklärung (134), vielmehr bieten sie zugleich auch Instrumente, mit denen man die gesellschaftliche Praxis sowohl legitimieren/​delegitimieren, wie aber auch ‚praktisch‘ verändern kann.

Fazit

Peters fasst in dieser Schrift einmal mehr[1] ein zentrales Anliegen seiner wissenschaftlichen Arbeit zusammen. Nämlich die heute leider eher vernachlässigte, doch ‚politisch‘ so relevante Frage, warum ‚soziale Probleme‘ als solche gelten, wie es zu ihrer Problematisierung kam, welche Akteure daran beteiligt sind und wie man ‚nüchtern‘ deren Bedingungen erforschen kann. Ein Anliegen, das man angesichts seiner schwindenden Rezeption nur unterstreichen kann, weshalb man diese Arbeit nicht nur theoretisch interessierten SoziologInnen ans Herz legen möchte.


[1] Helge Peters: Soziale Probleme und soziale Kontrolle. Westdeutscher Verlag 2002, besprochen: https://www.socialnet.de/rezensionen/719.php

Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
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Zitiervorschlag
Stephan Quensel. Rezension vom 02.08.2022 zu: Helge Peters: Eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6881-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29551.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.


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