Tobias Krieger, Noëmi Seewer: Einsamkeit
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 23.11.2022

Tobias Krieger, Noëmi Seewer: Einsamkeit.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2022.
106 Seiten.
ISBN 978-3-8017-3172-4.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 28,20 sFr.
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie - 85.
Thema
Die Thematik Einsamkeit dringt seit einigen Jahren immer stärker ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung, wobei die Pandemie hierzu viel beigetragen hat. In Großbritannien wurde diesbezüglich ein Ministerium geschaffen. In Deutschland ist die Einsamkeit als gesellschaftliche Herausforderung u.a. Thema des Koalitionsvertrages der neuen Bundesregierung mit den Themenschwerpunkten Gesundheit und Alter geworden. Ergänzend hierzu wird vom Bundesfamilienministerium ein „Kompetenznetz Einsamkeit“ (KNE) gefördert, das u.a. die Forschung im Themenfeld Einsamkeit verstärken soll. Doch auch im Publikationsbereich ist dieses Thema seit einigen Jahren verstärkt präsent. So wurden in den letzten Jahren z.B. mehrere Sachbücher zu diesem Problemfeld sozialer Isolation veröffentlicht: u.a. von einem Pädagogen (1), einem Psychiater (2) und einer Wirtschaftswissenschaftlerin (3). Das hier vorliegende Fachbuch zweier Psychotherapeuten aus der Schweiz lotet die Perspektiven psychologischer Interventionsformen beim Leiden an Formen der chronischen Einsamkeit aus.
Autoren
PD Dr. Tobias Krieger, leitender Psychologe in der psychotherapeutischen Praxisstelle der Universität Bern.
M. Sc. Noëmi Seewer, Psychologin am Institut für Psychologie der Universität Bern.
Aufbau
Das Buch ist in zwölf Kapitel nebst einem Kartenanhang gegliedert.
Inhalt
In Kapitel 1 (Beschreibung: Begriffe, Verbreitung und Risikofaktoren, Seite 3 – 12) werden die verschiedenen Begrifflichkeiten bezüglich des Phänomens Einsamkeit aufgezeigt. Einsamkeit als subjektiv wahrgenommene soziale Isolation drückt das Leiden an dem Mangel sozial befriedigender Kontakte aus. Das Empfinden Einsamkeit kann auch durch das Fehlen von Kontakten im Nahbereich (objektive soziale Isolation) entstehen. Subjektive und objektive Isolation bilden somit das Grundmuster oder den sozialen Rahmen für das Entstehen der belastenden Wahrnehmung Einsamkeit, die auch als soziale Deprivation artspezifischen Sozialverhaltens aufgefasst werden kann. Von der Einsamkeit wird das Alleinsein abgegrenzt, das aufgrund unterschiedlicher Gegebenheiten wie z.B. selbstgewählter Rückzug oder auch bewusste Ausgrenzung entstehen kann.
Das Phänomen Einsamkeit wird von den Autoren zusätzlich auch in die Kategorien „intime oder emotionale Einsamkeit“ (u.a. Fehlen einer Paarbeziehung), „soziale Einsamkeit“ (u.a. Mangel an Freundschaften und Bekanntschaften) und die „kollektive Einsamkeit“ (fehlendes Zugehörigkeitsgefühl zu einer „größeren Gemeinschaft“) untergliedert.
Des Weiteren lässt sich Einsamkeit auch hinsichtlich der Dauer unterscheiden: „vorübergehende Einsamkeit“ (z.B. ein Abend allein daheim), „situative Einsamkeit“ (z.B. Arbeitsplatzverlust, Verrentung oder Trennung) und die „chronische oder überdauernde Einsamkeit“, die mit einem längerem Zeitraum der sozialen Isolation verbunden ist und die oft zu problembehafteten Veränderungen in der Wahrnehmung und im Umgang mit den Mitmenschen führt.
Angesichts der Tatsache, dass gegenwärtig noch kein allgemeingültiger und damit messbarer Schwellenwert für das Vorhandensein von Einsamkeit ähnlich einer medizinischen Diagnose existiert, ist es nicht leicht, Aussagen über die Verbreitung dieses sozialen Leidens zu machen. Erhebungen in Deutschland und der Schweiz ergaben, dass ca. 30 Prozent der Befragten sich manchmal und auch oft einsam fühlen würden. Untersuchungen in den USA zeigen, dass bei Jugendlichen die wachsende „Social Media-Nutzung“ mit einer Zunahme an Einsamkeitsempfindungen einhergeht.
Risikofaktoren für das Erleben von Einsamkeit sind vor allem das Lebensalter, das Alleinleben und die Mediennutzung. Doch auch vielerlei andere Faktoren wie z.B. Persönlichkeitseigenschaften, negative Bindungserfahrungen (Scheidung, Trennung u.a.), Arbeitslosigkeit und ein schlechter Gesundheitszustand führen langfristig in die soziale Isolation.
In Kapitel 2 (Einsamkeit und Gesundheit, Seite 12 – 20) wird der enge Zusammenhang von Einsamkeit und fehlender Gesundheit bzw. Krankheit u.a. mittels mehrerer Untersuchungen deutlich aufgezeigt: Einsamkeit verursacht bzw. begünstigt körperliche und seelische Erkrankungen und umgekehrt führen viele psychische Leidensprozesse wie Ängste, Depressionen, Trauer und auch Psychosen in die Einsamkeit. Ergänzend beeinflussen auch Persönlichkeitsstörungen wie z.B. Nähe- und Distanzstörungen, emotionale Instabilität und Narzissmus das Erleben der sozialen Isolierung. Einsamkeit und soziale Isolation bilden auch Risikofaktoren für suizidales Verhalten.
Kapitel 3 (Relevante Modelle und Theorie, Seite 20 – 28) enthält die Darstellung der Erklärungsansätze des Phänomens Einsamkeit aus geistes- und naturwissenschaftlichen Perspektiven. Gemeinsam ist diesen theoretischen Konzepten die Annahme, dass dem Menschen als Spezies ein Grundbedürfnis nach stabiler und dauerhafter Bindung und Zugehörigkeit innewohnt. Angeführt wird in diesem Zusammenhang das Modell der sozialen Bedürfnisse, das vor allem die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen für das Selbstwertgefühl und die emotionale Befriedigung hervorhebt. Das „kognitive Diskrepanzmodell“ nach Peplau und Perlman (1982) hingegen legt den Focus auf die subjektive Bewertung der Beziehungen durch die Betroffenen im Sinne eines Ist-Soll-Erlebens. Die „Evolutionäre Theorie der Einsamkeit“ nach Cacioppo sieht die Ursache der Einsamkeit in einem angeborenen Schutzmechanismus in Gestalt eines biologischen Warnsystems, das allen sozialen Spezies aus Gründen des Überlebens innewohnt. Dieses Warnsystem zeigt sich u.a. in einer Wachsamkeit bezüglich sozialer Bedrohungen wie z.B. Ausgrenzung und parallel dazu in einer erhöhten Sorge um die eigenen Interessen und das Wohlergehen des Individuums im Spannungsfeld von Autonomie- und Bindungsbedürfnissen. Gemäß diesem Ansatz entwickeln sich im Zustand chronischer Einsamkeit Verzerrungen in der sozialen Wahrnehmung und im Umgang. Dies zeigt sich u.a. im bewussten Vermeidungsverhalten von Sozialkontakten mit gleichzeitiger Abwertung potentieller Kontaktpersonen.
Kapitel 4 (Diagnostik, Seite 29 – 36) skizziert die Widersprüchlichkeit, dass die chronische Einsamkeit zwar ein eminent starkes Leidenserleben darstellt, zugleich jedoch laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) keinen Krankheitszustand abbildet. Sie kann somit auch nicht hinsichtlich eventuell folgender Heil- und Präventionsmaßnahmen als eine Erkrankung diagnostiziert werden. Auch bei der Festlegung, wann ein Einsamkeitszustand als chronisch oder „überdauernd“ bezeichnet werden kann, besteht gegenwärtig in Fachkreisen noch keine Einigkeit. Ergänzend verweisen die Autoren auf die Diagnosemöglichkeit im Rahmen der ICD-10 bzw. ICD-11 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) mit dem Code Z60 (Probleme mit Bezug auf die soziale Umgebung): u.a. Anpassungsprobleme, Alleinleben und soziale Ausgrenzung oder Ablehnung. Vermutet wird, dass dem psychosozialen Zustand „chronische Einsamkeit“ in absehbarer Zeit nicht der Status einer „eigenständig diagnostizierbaren psychischen Störung“ zugewiesen werden wird. Es folgt die übersichtsartige Auflistung anerkannter Erfassungsinstrumente (Fragebögen) bezüglich der Intensität und Dauer des Einsamkeitserlebens (u.a. die „UCLA Loneliness Scale“).
In Kapitel 5 (Behandlungsmethode und therapeutischen Interventionen, Seite 37 – 78) wird das recht umfangreiche Spektrum an Analyseschritten und Interventionsformen im Bereich der psychotherapeutischen Behandlung von Personen, die an dem Erleben ihrer Einsamkeit leiden, dargestellt. Die Erfassung der Ursachen der chronischen Vereinsamung wird u.a. im Zusammenhang mit einer Netzwerkanalyse der Beziehungen erfasst. Des Weiteren werden die Wahrnehmung und die Verarbeitung von erhofften und realisierbaren Kontakten analysiert. Weitere Schritte bestehen aus der Beeinflussung der Vereinsamten dahingehend, ihre Isolation als einen Normalzustand im Sinne einer kognitiven Umstrukturierung zu akzeptieren („Umbewertung von Alleinsein – bewusstes Alleinsein“). Die Betroffenen sollen demgemäß möglichst belastungsarm mit ihrem Alleinsein umgehen können („Akzeptanz von Einsamkeitsgefühlen“). „Die Kultivierung von Selbstmitgefühl“ wird in diesem Zusammenhang als hilfreiche „Emotionsregulierungsstrategie“ teils in Verbindung mit autosuggestiven Atemübungen bezeichnet. Weitere Strategien bestehen aus dem Aufbau bzw. Wiederaufbau sozialer Kontakte (u.a. Nachbarn ansprechen, Freiwilligenarbeit leisten oder in eine Bar gehen). In diesem Kontext wird u.a. auch das Training „beziehungsstiftender sozialer Kompetenzen“ empfohlen: Kontakte initiieren (z.B. eine fremde Person an einem Nebentisch in einem Café ansprechen), Gespräche aufrechterhalten, Selbstöffnung und Authentizität zeigen und auch Wünsche und Bedürfnisse äußern.
In Kapitel 6 (Kontextfaktoren, Seite 78 – 80) wird übersichtsartig auf Aspekte der sozialen Beziehungen der an der Einsamkeit leidenden Patienten eingegangen. So werden die Betroffenen ständig aufgefordert, Beziehungen außerhalb der therapeutischen Kontakte aufzubauen und zu stabilisieren. Des Weiteren werden Gruppensitzungsinterventionen vorgestellt: das Trainingsprogramm „Kiesler-Kreis-Training“, das „Group4Health“ und das „Friendship Enrichrichment Program“. Hierbei geht es u.a. darum, den Vereinsamten Schritt für Schritt Wege für den Aufbau von Kontakten in ihrem sozialen Umfeld aufzuzeigen.
In Kapitel 7 (Empirische Evidenz, Seite 81 – 85) wird zu Beginn auf die unterschiedlichen Ebenen der Intervention beim Leiden unter Einsamkeit verwiesen: die Ebene des Betroffenen (therapeutische Ansätze), das soziale Umfeld (u.a. Gruppenaktivitäten und unterstützte Förderung sozialer Kontakte) und die gesellschaftliche Ebene (gesundheitspolitische Maßnahmen, Aufklärung und die Förderung der Forschung in diesem Bereich). Eine Metaanalyse von 28 Studien mit insgesamt 3039 Teilnehmern ergab, dass psychologische Interventionsformen eine Minderung der Einsamkeitsempfindungen bewirken. Bezüglich der Wirksamkeit der unterschiedlichen Vorgehensweisen ist nach Einschätzung der Autoren der Forschungsstand gegenwärtig für die Empfehlung oder die Priorisierung bestimmter Beeinflussungsmodalitäten noch nicht ausreichend.
In Kapitel 8 (Fallbeispiele, Seite 85 – 91) wird anhand von drei Fallbeispielen das Leistungsspektrum an Beeinflussungsmodalitäten bei dem Vorliegen chronischer Einsamkeit aufgezeigt. Die allein lebenden Betroffenen sind von sich aus nicht in der Lage, der sozialen Isolierung mittels eigener Initiativen zu entgehen. Das Eingestehen ihrer Hilflosigkeit und auch die erlebte Ausweglosigkeit als eine Kernsymptomatik der chronischen Einsamkeit veranlasste sie, psychologische therapeutische Hilfen in Anspruch zu nehmen. Die dargebotenen Unterstützungsleistungen konnten dazu beitragen, erste Schritte aus der Isolation zu wagen. So verminderte sich das Ausmaß an erlebter Einsamkeit spürbar. Dadurch konnte der Leidensdruck reduziert werden, teils auch durch den Lernprozess, das die Einsamkeit Teil des Lebens der Betroffenen ist und sie gelernt haben, mit dieser Gegebenheit angemessen umzugehen.
Kapitel 9 – 12 enthalten das Literaturverzeichnis, weiterführende Literatur und hilfreiche Links, Kompetenzziele, Lernkontrollfragen und einen Anhang (Erfassungsskalen der Einsamkeit).
Diskussion
Einsamkeit als ein defizitärer sozialer Erlebens- und damit zugleich Mangelzustand ist aus der Sicht des Rezensenten ein Produkt der Moderne, des raschen sozialen Wandels. Die Wirtschaftsform des Kapitalismus mitsamt seiner Dynamik des ständigen Wachstums verlangt vom Menschen artfremdes Anpassungsverhalten in Gestalt ständiger sozialer und mobiler Flexibilität. Und das geht zu Lasten der erweiterten Familienstrukturen, die bis vor ca. drei Generationen noch den sozialen Halt im Sinne einer Gemeinschaftsgefüges boten. Einsamkeit als Leiden ist aufgrund des Entzuges angeborener Schutzmechanismen nach Cacioppo Ausdruck gesellschaftlicher Sachzwänge. Kollektive Einsamkeit ist somit zugleich ein Indiz für Überforderung im Sinne eines permanenten Stresses.
Die Autoren scheinen vermutlich diese sozialen Gegebenheiten des Trends zur zunehmenden kollektiven Vereinzelung und damit zugleich Vereinsamung berücksichtigt zu haben, denn sie führen als Therapieziele nicht die Überwindung der chronischen Einsamkeit an, sondern nur die Minderung des Leidens und zugleich damit auch die Anpassung an diesen letztlich unmenschlichen Mangelzustand an. Des Weiteren wird in der Publikation angeführt, dass angesichts verschiedener theoretischer Konzepte gegenwärtig noch keine verbindliche und damit wissenschaftlich belegte Begrifflichkeit über Einsamkeit als Leiden und damit implizit auch als Krankheit vorliegt. Aus der Sicht des Rezensenten sollte die Grundlagenforschung in diesem Arbeitsfeld u.a. aus den Wissenschaftszweigen Verhaltensbiologie, Anthropologie und vergleichende Ethnologie bestehen.
Fazit
Die vorliegende Publikation zeigt ausführlich und auch sehr praxisnah, wie in Gesellschaften kollektiver Einsamkeit begrenzte Möglichkeiten zur individuellen Linderung bestehen. Sie kann daher allen in psychosozialen Bereichen Tätigen zur Lektüre empfohlen werden.
Literatur
Spitzer, M. (2018) Einsamkeit – die unerkannte Krankheit. München: Droemer Knaur. (www.socialnet.de/rezensionen/24081.php)
Hax-Schoppenhorst, T. (Hrsg.) (2018) Das Einsamkeits-Buch. Göttingen: Hogrefe Verlag (www.socialnet.de/rezensionen/24618.php)
Hertz, N. (2021) Das Zeitalter der Einsamkeit. Hamburg: Verlagsgruppe HarperCollins. (www.socialnet.de/rezensionen/28722.php)
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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