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Meindert Haveman: Entwicklung und Frühförderung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung

Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 09.11.2022

Cover Meindert Haveman: Entwicklung und Frühförderung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung ISBN 978-3-17-039822-1

Meindert Haveman: Entwicklung und Frühförderung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung. Das Programm "Kleine Schritte". Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 3., erweiterte und überarbeitete Auflage. 279 Seiten. ISBN 978-3-17-039822-1. 34,00 EUR.

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Thema

Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick über Faktoren, die die Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung in der vorschulischen Phase fördern. Im ersten Teil werden hierzu neue Ergebnisse aus Entwicklungspsychologie, Neurobiologie, Vorschulforschung sowie Früherkennung und -diagnostik vorgestellt. Schwerpunkt des zweiten Teils bildet das Frühförderprogramm „Kleine Schritte“ (aus dem Klappentext).

Herausgeber

Prof. Dr. Meindert Haveman war Professor für Rehabilitation und Pädagogik von Menschen mit geistiger Behinderung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst 13 Kapitel.

Im ersten Kapitel bespricht Meindert Haveman Bausteine einer effektiven Frühförderung, beginnend mit der Darstellung der sozial-demographischen Entwicklung, anschließend folgen ausführlich entwicklungs- und lernpsychologische Faktoren, die Bedeutung frühen Vorlesens, der Bindungssicherheit, des richtigen Einschätzens der Zone der nächsten Entwicklung sowie neurobiologischer und neuropsychologischer Aspekte. Weiter werden in diesem Kapitel Förderung allgemein in Kindergarten und Vorschule, aber auch Bedingungen für eine effektive Förderung bei Kindern mit geistiger Behinderung und Aspekte der Früherkennung besprochen.

Im zweiten Kapitel geht Haveman auf das Entstehen des Systems Frühförderung ein, schildert die Veränderung der Modelle der Elternarbeit, vom Laienmodell über Eltern als Cotherapeuten bis zum Kooperationsmodell und familienzentrierter Frühförderung und diskutiert dann die Bedeutung, aber auch die Grenzen einer Effektivitätsmessung.

Das dritte Kapitel hat die Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung (vor allem Down-Syndrom) zum Thema. Behandelt werden ausführlich die grob- und feinmotorische Entwicklung sowie die Entwicklung der Kommunikation und Sprache. Im vierten Kapitel geht Haveman auf die Besonderheiten des zweiten Störungsbildes Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) ein. In beiden Kapiteln betont er die Bedeutung kleiner und aufeinander aufbauender Aufgabenschritte für die Frühförderung.

Dementsprechenden stellt Cora Halder im fünften Kapitel das Frühförderprogramm „Kleine Schritte“ vor. Für das an der Macquarie Universität in Sydney entwickelte Programm werden die Entwicklungsschritte, die grundlegenden Merkmale und Grundannahmen erläutert und der Aufbau des Programms, seine Entwicklungsbereiche, der Aufbau der Folgen, die Lernziele und die Techniken beschrieben. Die Arbeitsmaterialien sind in Heften zusammengefasst, die beim Deutschen Down-Syndrom InfoCenter bestellt werden können.

Im Folgenden wird ein Evaluationsprojekt (mit Kindern mit Down-Syndrom) vorgestellt, durchgeführt 2002 – 2004 an der Universität Dortmund. Haverman, Lappe und Wevelsiep stellen Ziele, Teilnehmer, Hypothesen und Durchführung dar. Die Familien wurden die ersten 3 Monate (Laufzeit 12 Monate) von studentischen Familienbegleitern unterstützt. Die Teilnahme war unabhängig von anderen Fördermaßnahmen, d.h. die Kinder konnten z.B. zusätzlich eine Frühförderstelle besuchen. Im siebten Kapitel werden die Ergebnisse in Bezug auf Fördereffekte besprochen, wobei natürlich der Prozentsatz der im Programm definierten Fertigkeiten zunahm und es keine Rückschritte gab, bei errechneten Entwicklungsquotienten zeigte sich eine geringfügige (statistisch nicht signifikante) Verbesserung.

Im jeweils kurzen Kapiteln geht zuerst Haveman auf die Adäquanz des Programms in der Frühförderung mit Down-Syndrom ein und bespricht Ergebnisse der Studie z.B. hinsichtlich Zeitaufwand, Belastung der Eltern, Integration der Förderung in den Tagesplan und gewonnene Sicherheit im Umgang mit dem Kind; anschließend thematisiert Markus Elter Erfahrungsberichte zufriedener und unzufriedener Eltern. Es zeigte sich, dass Eltern von Kindern mit schwerster geistiger Behinderung in Gefahr sind, sich mit diesem Programm zu überfordern und durch die sehr geringen Fortschritte des Kindes und dem Wissen, welche Ziele es nie erreichen wird, zunehmend frustriert sein können.

Deshalb braucht es bei schwerer geistiger Behinderung eine modifizierte Form des Programms. Andrea Gülle stellt eine Modifizierung in Richtung „kleinste Schritte“ bei 2 Mädchen mit Rett-Syndrom dar. Die gemeinsam mit einer Begleitperson entwickelten Fördervorschläge beinhalten im Wesentlichen eine Förderung der basalen Wahrnehmung. Eine andere Erweiterung ist die Einbeziehung des Programms (Heft 11, Zählen und Zahlen) in den Mathematikunterricht in der Unterstufe der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“. Markus Wennekamp probierte es mit einer Klasse mit 11 Schülerinnen und Schülern aus.

In einem weiteren Projekt wurde das Programm mit insgesamt 14 Kindern aus Deutschland und Taiwan mit Autismus-Spektrum-Störungen durchgeführt (Zih-Shian Chang). Hier wurde vor allem auf die Stärken der Kinder, die Grob- und Feinmotorik, fokussiert.

Abschließend ordnet Haveman das Programm „Kleine Schritte“ in das deutsche Frühfördersystem ein. Er bespricht Grundprinzipien der Frühförderung, bewertet dann das Programm auf Kompatibilität und stellt fest, dass es gut eine ganzheitliche Förderung unterstützt und gut mit den weiteren Angeboten der Frühförderung kooperieren bzw. in sie integriert werden kann.

Im Anhang wird das Curriculum Kleinste Schritte (siehe Kapitel 10) detailliert mit Lernzielen und Möglichkeiten der Förderung dargestellt.

Diskussion

Das Buch vermittelt Wissen über die die Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung und gibt einen Überblick über die Anwendung des Programms „Kleine Schritte“. Es wird dargestellt als ein Programm, das nicht symptomspezifisch eingesetzt werden kann und soll, sondern als entwicklungsorientiertes Curriculum für Eltern mit Kindern mit langandauernden Entwicklungsverzögerungen. Der Begriff „Curriculum“ und die Zielsetzung, Hilfestellung beim Unterrichten von Kleinkindern (S. 96) zu sein, verwirrt, da er Assoziationen mit der Rolle der Eltern als (Co-) Therapeuten weckt; es will aber dezidiert familienzentrierte Frühförderung sein. Durch die Festlegung individueller und messbarer Ziele, die kleinschrittig erreicht werden sollen, soll es nicht nur dem Kind in seiner Entwicklung helfen, sondern auch eine Hilfe für die Eltern sein und sie in der Erziehungsaufgabe unterstützen. Es soll die Eltern aber in keinster Weise unter Druck setzen.

Diese Gefahr besteht durchaus, wie die Dortmunder Untersuchung zeigt, wenn die Eltern ein sehr schwer behindertes Kind haben und nicht richtig begleitet werden. Deshalb ist die Verbindung mit einer Frühförderstelle unabdingbar.

Das Programm, das für Down-Syndrom-Kinder entwickelt wurde, kann, so zeigt dieses Buch, auch bei anderen Störungen und Entwicklungsverzögerungen eingesetzt werden. Es kann so früh als möglich begonnen werden, eine gesicherte (genetische) Diagnose ist dafür nicht erforderlich.

Haveman fordert evidenzbasierte Programme. Es zeigt sich aber auch in diesem Buch, wie schwierig Effektivitätsforschung in diesen Bereichen ist. So ist die Stichprobe in allen vorgestellten Studien sehr klein.

Ich stimme zu, dass das Programm eine wirksame Ergänzung zur Frühförderung sein kann; es ist nicht schlüssig, die Verbesserungseffekte einseitig für das Programm zu reklamieren.

Frühförderung ist nicht nur eine Maßnahme der Heilpädagogik, sondern wird als Komplexleistung in Verbindung mit medizinischen-therapeutischen Leistungen erbracht (§ 46 SGB IX in Verbindung mit § 79). Ich hätte mir gewünscht, dass in einer überarbeiteten Neuauflage nicht nur die gesetzmäßige Verankerung der Frühförderung von 2003 (§ 30 SGB IX) erwähnt wird, sondern auch die Neuformuliereng im BTHG (s.o.) und die Veränderungen der Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Frühförderungsverordnung – FrühV) von 2016 Eingang finden.

Nochmals der Hinweis: Dieses Buch enthält nicht die Arbeitsmaterialien. Diese sind unabhängig davon zu beziehen.

Zielgruppen

Fachleute aus pädagogischen und therapeutischen Berufsgruppen, die mit kleinen, behinderten Kindern und ihren Familien arbeiten.

Fazit

Das Buch vermittelt Wissen zur Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung und mit Autismus-Störungen, gibt einen Überblick über die Anwendung des Programms „Kleine Schritte“ für diese Kinder und ordnet es als familienzentriertes Programm in die „Frühförderlandschaft“ ein.

Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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Es gibt 197 Rezensionen von Lothar Unzner.

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Zitiervorschlag
Lothar Unzner. Rezension vom 09.11.2022 zu: Meindert Haveman: Entwicklung und Frühförderung von Kindern mit geistiger Behinderung und Autismus-Spektrum-Störung. Das Programm "Kleine Schritte". Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 3., erweiterte und überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-17-039822-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29563.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.


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