Lothar Böhnisch: Geschichte der sozialpädagogischen Ideen
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 22.08.2022

Lothar Böhnisch: Geschichte der sozialpädagogischen Ideen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 207 Seiten. ISBN 978-3-7799-6346-2. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.
Thema
Welche sozialpädagogischen Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts haben die Entwicklung der Sozialpädagogik/​Sozialarbeit heute maßgeblich beeinflusst? Welche Ideen wurden ohne Verweis auf oder Kenntnis der Vordenker*innen der letzten Jahrhunderte nach dem zweiten Weltkrieg in ähnlicher Weise neu entwickelt? Welche Ideen wurden nach der NS-Zeit nicht mehr aufgegriffen? Diesen Fragen widmet sich Böhnisch und zeigt dabei auch auf, wie historische Konstellationen, soziale Bewegungen und sozialpolitische Reformen bei der Ideengenese zusammenwirken.
Autor
Prof. Dr. rer. soc. habil. Lothar Bönisch (* 17. Juni 1944) hatte bis zum Jahr 2009 eine Professur für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden inne. Aktuell ist er Professor an der Freien Universität Bozen.
Aufbau und Inhalt
Im Hauptteil des Bandes werden 37 sozialpädagogischen Ideen im Inhaltsverzeichnis in acht Absätzen gruppiert. Kapitelüberschriften werden nicht verwandt. Um für die vorliegende Rezension den Inhalt des Bandes skizzieren zu können, habe ich die Absätze in thematische Überschriften zusammengefasst, die in der Rezension nachfolgend fett markiert sind. Diese sind: Sozialpädagogik als sozialpolitische Idee, Jugend und Generation, Erziehung und Strafe, Familie, (schulische) Bildung, Arbeit und Gesundheitsförderung, Geschlecht und Sexualität, Gemeinschaft und Selbstbestimmung, Verantwortung und Internationalität.
In der Einführung wird das Spannungsfeld zwischen sozialpädagogischem Denken und Handeln und den gesellschaftlichen Strukturen metaphorisch als „Ideenwellen im Meer der Geschichte“ beschrieben. Diese Ideenwellen brechen an Riffen, verlangsamen sich an Sandbänken oder ebben ab. Das Auf und Ab dieser Wellenbewegungen sozialpädagogischer Ideen hinterlässt nach jeder Welle Spuren am Ufer. Das Ziel des Bandes ist es, eine Diskursgeschichte sozialpädagogischer Ideen zu rekonstruieren, in der die Ideen aus kommunikativen Aushandlungsprozessen der sozialen Wirklichkeiten hervorgegangen sind und soziale Wirklichkeiten transformiert haben. Die historische Ausgangslage bildet das vorletzte Jahrhundert in der frühen industriekapitalistischen Gesellschaft Deutschlands. Gesellschaftliche Herausforderungen, mit denen sich die sozialen Bewegungen dieser Zeit – der Jugend-, Arbeiter-, Frauenbewegung – auseinandersetzten, bilden den Ausgangspunkt. Gezeigt wird, wie die Entwicklung sozialer Fürsorge als Antwort auf die ‚soziale Frage‘ schließlich zu einer gesellschaftlichen Institution Sozialer Arbeit wurde. Die Einführung schließt mit der Frage, inwiefern die heutigen Theorieansätze Wiederbelebungen von sozialpädagogischen Ideen sind, die nunmehr in veränderten gesellschaftlichen Kontexten ihre Wirkung (erneut) entfalten.
Im Hauptteil werden die sozialpädagogischen Ideen als epochale Diskurswellen vorgesellt. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der Sozialpädagogik als sozialpolitische Idee und rekonstruiert, wie durch die Institutionalisierung der Ideen sozialer Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts aus Fürsorge soziale Hilfe und schließlich eine soziale Dienstleistung wurde. Im Zug dieser Institutionalisierung im sozialstaatlichen Gefüge entwickelte sich die Strukturformel Sozialer Arbeit zwischen Hilfe und Kontrolle. Im nächsten Abschnitt wird das Thema Jugend und Generation verhandelt. Dabei wird deutlich, wie die diskursive Umdeutung von ‚Jugend‘ oder ‚Kind‘ als problematisch und defizitär bzw. als modernisierend und selbstbestimmt in den 1920er Jahren genauso wie in jüngster Zeit Teil einer kritischen Fachdebatte ist. Die gruppenpädagogische Idee, die im Kontext der Jugendbewegung entstand und zuvorderst die Stärkung von Selbstwert und Anerkennung der Jugendlichen in der Gruppe zum Ziel hatte, konnte im damals vorherrschenden Case Work kaum – mit Ausnahme der deutschen Variante der Settlement Bewegung – Fuß fassen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Idee durch die Einführung der amerikanischen ‚Social Group Work‘ in den 1960er Jahren neben Einzel(fall)hilfe und Gemeinwesenarbeit zur Methode der Sozialen Arbeit. Im Abschnitt Erziehung und Strafe wird die sozialpädagogische Idee, die besagt, dass Erziehung nicht in einem herrschaftsfreien und unpolitischen Raum angesiedelt sein kann, sondern stets gesellschaftlich vermittelt ist, vorgestellt. Auch diese Idee hat ihre Ursprünge in den 1920er Jahren, genauso wie jene Idee, anti-soziale Ausbrüche von Kindern und Jugendlichen als unbewusste Hilferufe zu deuten und sie daher nicht zu bestrafen, sondern mit den Kindern und Jugendlichen in langfristig angelegten Settings zu arbeiten und ihnen Anerkennungserfahrungen in Gruppenzusammenhängen zu ermöglichen.
Im Abschnitt Familie, (schulische) Bildung, Arbeit und Gesundheitsförderung wird aufgezeigt, wie Ansätze einer Sozialen Arbeit, die auf soziale Veränderungsprozesse abzielen, indem sie auf kritischen Gesellschaftsanalysen aufbauen, auch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert wurden. Dieser historische Blick eröffnet beispielsweise die Perspektive darauf, wie die Idee, dass Gesundheit allein im individuellen Organismus begründet ist, lange der sozialpädagogischen Idee gegenüberstand, dass soziale Verhältnisse sich auf die Gesundheit rückwirken. Ergänzend zum klinischen Model konnte sich erst langsam die soziale Gesundheitsförderung der Sozialen Arbeit niederschlagen.
Im Abschnitt Geschlecht und Sexualität wird aufgezeigt, wie in der Weimarer Zeit bereits die Vielfalt an geschlechtlichen Zwischenstufen jenseits der Heteronormativität angedacht wurde. In Gemeinschaft und Selbstbestimmung wird argumentiert, dass die Soziale Arbeit den gesellschaftlichen Bezug vor dem Hintergrund einer individualisierenden Kasuistik verloren habe. Um diesen Bezug wieder zu erlangen, kann auf die Idee zurückgegriffen werden, dass Wirtschaft letztlich auf das Soziale angewiesen ist. Damit könnte auch an die Kritik am Kapitalismus in der feministischen Sozialen Arbeit angeschlossen werden, in der argumentiert wird, dass der Mensch höher als die Wirtschaft zu werten ist. In diesem Abschnitt findet sich zudem ein Exkurs, der erläutert, warum insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus weitgehend ausgelassen wird. Der Grund liegt in der ideologischen Umkehr und dem Missbrauch der Ideen: „Die sozialpädagogische Grundidee, die Soziale Arbeit habe vor allem den Schwachen zu dienen, wurde umgedreht in die rassenbiologistische Maxime, die ‚Starken‘ zu fördern.“ (S. 142) Im Abschnitt Verantwortung und Internationalität geht es um grenzüberschreitende Perspektiven der Sozialen Arbeit, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Wie am Beispiel der Friedenspädagogik aufgezeigt wird, sind einige Ideen mit globaler Reichweite nach dem zweiten Weltkrieg jedoch nicht mehr weitergeführt worden.
Im Schlussteil weist der Autor darauf hin, dass im Band die ‚helle Seite der Geschichte‘ beleuchtet wurde. Vor dem Hintergrund der Debatte zur Klientelisierung und Entmündigung in der Sozialen Arbeit, skizziert Böhnisch knapp die ‚Idee der Öffnung‘, die dabei unterstützen soll, sich aus dem Korsett von Hilfe und Kontrolle zu befreien.
Diskussion
Insgesamt ist der Band voller spannender Ideen und daher als Lektüre zu empfehlen. Weniger überzeugend ist jedoch die Struktur des Bandes. Ein roter Faden, der sich entlang sozialpädagogischer Ideen entwickeln sollte, wird zumindest nicht expliziert. Vielmehr gleicht es einer Aneinanderreihung von Ideen, die jedoch nicht immer als solche eingeführt werden. Gegen Ende des Bandes findet sich ein ‚Exkurs‘ (S. 141), in dem erläutert wird, weshalb die NS-Zeit in den Vorstellungen der sozialpädagogischen Ideen ausgelassen wird. Ansonsten wird dem/der Leser*in wenig mitgegeben, wie das Buch inhaltlich strukturiert ist. So könnte man den Band durchaus auch lexikalisch nach Ideen/​Themen durchforsten, die die/den Leser*in gerade interessieren. Die kurzen Kapitel sind meist in ähnlicher Struktur aufgebaut, indem sie eine Brücke zwischen den Debatten zu Beginn des 20.Jahrunderts und jenen nach dem Zweiten Weltkrieg schlagen. Verwandt werden meist längere Originalzitate der richtungsgebenden Persönlichkeiten, die gut in die Argumentationslogik eingebettet werden und so den/die Leser*in einen Einblick darin bieten, wie bereits vor über 100 Jahren über soziale Probleme nachgedacht wurde, die in der Sozialen Arbeit auch heute noch die Debatten bestimmen.
Fazit
Der Band birgt an vielen Stellen spannende Überlegungen dazu, wie bereits zurzeit der Jahrhundertwende des 19. und 20. Jahrhunderts – der ‚Geburtsstunde‘ der Sozialen Arbeit – Ideen entwickelt wurden, die bis heute wirkmächtig sind bzw. die es wieder aufzugreifen gilt. Durch die gute Auswahl längerer Originalzitate von Denker*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird nachvollziehbar dargestellt, wie nah die Überlegungen dieser Zeit an den Herausforderungen der heutigen Sozialen Arbeit sind. Der Band stellt auch lexikalisch gelesen, eine gewinnbringende Lektüre dar. Für eine Lektüreempfehlung für Studierende bräuchte es m.E. eine klarere Logik im Aufbau des Bandes. Interessant dürfte der Band daher vor allem für Wissenschaftler*innen sein, da er spannende Einsichten und lehrreiche historische Einordnungen zu den aktuell debattierten Themen und Herausforderungen der Sozialen Arbeit bietet.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
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Es gibt 16 Rezensionen von Christian Schröder.
Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 22.08.2022 zu:
Lothar Böhnisch: Geschichte der sozialpädagogischen Ideen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-6346-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29565.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.
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