Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Kindliche Entwicklung zwischen Ur-Angst und Ur-Vertrauen
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 28.09.2022
Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Kindliche Entwicklung zwischen Ur-Angst und Ur-Vertrauen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. 272 Seiten. ISBN 978-3-608-98434-7. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.
Herausgeber
Karl Heinz Brisch (*1955) ist verheirateter Vater von drei erwachsenen Kindern, Prof. Dr. med., inzwischen emeritierter Professor für „Early Life Care“ an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg, von seinem Verlag als führender Bindungsexperte im deutschen Sprachraum apostrophiert, Kinder- und Jugendpsychiater & -psychotherapeut sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychoanalytiker, langjähriger Leiter der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am von Haunerschen Kinderspital der Universität München.
Auf seiner privaten Homepage findet sich das Motto: „Mit einer sicheren Bindung werden die Eltern große Freude an ihrem Kind haben, weil sicher gebundene Kinder eine bessere Sprachentwicklung haben, flexibler und ausdauernder Aufgaben lösen, sich in die Gefühlswelt von anderen Kindern besser hineinversetzen können, mehr Freundschaften schließen und in ihren Beziehungen voraussichtlich glücklichere Menschen sein werden (K.H. Brisch).“
Entstehungshintergrund
Der Band enthält die überarbeiteten Vorträge der 2. internationalen und interdisziplinären »Early Life Care« Konferenz vom 13. bis 14. Mai 2021. Veranstalter waren die Paracelsus Medizinische Privatuniversität (PMU), der Universitätslehrgang Early Live Care und das Bildungshaus „St. Virgil“ der katholischen Erzdiözese Salzburg. International meint hier vor allem Österreich, Deutschland und die Schweiz. Das Besondere am Format der Tagung ist die Verbindung von Wissenschaft und (vor allem christlicher) Spiritualität, was nicht nur durch die Vorträge katholischer Theolog:innen sichtbar wird.
Aufbau
- Vorwort
- Einleitung
- Karl Heinz Brisch: Menschliche Ur-Ängste und Bindung – die Wiege des Ur-Vertrauens (20 Seiten)
- Wolfgang Sperl: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Über die Wichtigkeit von Beziehungen zur Lebensenergie (13 Seiten)
- Franz Gmainer-Pranzl: Angst und Vertrauen und die Religion(en) (14 Seiten)
- Ruth Baumann-Hölzle und Daniel Gregorowius: Ur-Vertrauen und Ur-Angst – ein relevantes Spannungsfeld für Ethik und Moral. In Balance ganzheitlich Mensch sein (23 Seiten)
- Martina König-Bachmann und Manuela Werth: Übergänge – Psychosoziale Einflussvariablen im Zusammenspiel. Inwieweit beeinflusst und prägt das Erleben rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett das Beziehungsgefüge »Familie«? (16 Seiten)
- Manuela Werth und Martina König-Bachmann: Die Auswirkungen von Traumata auf das Urvertrauen bei Mutter und Kind. Ein Trauma erkennen und intervenieren (13 Seiten)
- Susanne Ritz und Vera Witsch: Haut auf Haut. Förderung von psychischer und physischer Gesundheit auf der Wochenbettstation (16 Seiten)
- Leslie Schrage-Leitner: Musiktherapie in der Neonatologie. Stationäre bindungsorientierte Begleitung und Förderung zu früh geborener Babies und ihrer Eltern (18 Seiten)
- Carmen Walter: Wenn das Leben mit früher Trennung beginnt (26 Seiten)
- Adelheid Lang: »Schlaf, Kindlein, schlaf doch bitte!« Wie Empfinden von Sicherheit den frühkindlichen Schlaf von Geburt an beeinflusst (13 Seiten)
- Beate Priewasser und Pauline Bihari Vass: Mit Ängsten umgehen lernen. Von frühkindlichen Interaktions- und Bindungserfahrungen zur selbstständigen Emotionsregulation im Kindergartenalter(27 Seiten)
- Antonia Dinzinger und Leonie Aap: Ur-Vertrauen wachsen lassen. Bindungsorientierte Methoden für die Familienbegleitung (18 Seiten)
- Selina Ismair und Julia Wögerbauer: Familienresilienz in globalen Krisen. Was hilft Familien im Umgang mit COVID – 19 (17 Seiten)
- Andrea Plank-Matias und Marina Müller: Geborgen und gehalten in der (therapeutischen) Beziehung. Konzentrative Bewegungstherapie in der stationären Behandlung von früh traumatisierten Kindern (20 Seiten)
- Autorinnen und Autoren
Inhalt
Gewissermaßen sind es drei männliche Uni-Professoren, die den Text wissenschaftlich rahmen; die übrigen 17 Autorinnen sind mit einer Ausnahme Akteurinnen der psychosozialen Szene „Mutter – Kleinkind – Gesundheit“. Die Männer (Dr. sc.nat. Daniel Gregorowius, als Fachbereichsleiter der Stiftung Dialog Ethik in Zürich, ist noch nicht Professor) bereiten den theoretischen Diskurs; die hier vertretenen Frauen sind überwiegend Praktikerinnen des Feldes der Kleinkindgesundheit und zeigen, wie es funktionieren kann. Vielleicht ist das ein unfreiwilliges Eingeständnis, warum Bindungssicherheit in unserer Gesellschaft ein unendliches Thema ist.
Karl Heinz Brisch definiert den Rahmen der Veranstaltung mit seinen vertrauten Thesen zur Bindungstheorie (vgl. Brisch 1999). Nur langsam erreichen diese Konzepte Familien die eher am Rande der Gesellschaft stehen. In Einrichtungen zur Versorgung jungen Kinder gibt es bis heute einen unerträglichen Personalengpass (vgl. Israel et al., 2020).
Im Vortrag des Rektors der Paracelsus-Universität, Prof. Wolfgang Sperl, einem molekularbiologisch forschenden Pädiater, klingt mit Bibelzitaten und markanten christlich – lebensphilosophischen Aussagen an, dass das bio-psycho-sozio-sprirituelle Modell von Gesundheit und Krankheit die Religiosität des Subjekts ausdrücklich einschließe: „Fürs Christentum existiert ein Beziehungsangebot Jesu Christi und Verbindungsangebot zu Gott“ (S. 42) und noch davor auf derselben Seite: „In letzter Konsequenz ist in der spirituellen Betrachtungsweise eine Beziehung zu Gott die höchste Beziehungsform“. Nach Aussagen zur Zellernährung folgen Aussagen zur Spiritualität. Für den Rezensenten klingt das etwas kurzschlüssig: Mir fehlt der Zusammenhang mit guter Bildung und der Abwesenheit sozialer Anomie und Demoralisierung. Die Interventionen in diesem Feld müssten lt. Sperl zuerst sozialtherapeutisch sein, danach würden Seelsorge für Mutter und Kind hervorragend greifen, vielleicht fände man dann auch Zugang zu migrantischen Familien, möglicherweise wäre die christliche Spiritualität dabei aber auch ein Hindernis.
Prof. Franz Gmeiner-Pranzel ist katholischer Theologe. Er befasst sich mit dem Potenzial des Glaubens als sicherem Raum, oder als Raum für Gottesvergiftung. Dabei zitiert er den gleichnamigen autobiographischen Essay von Tilmann Moser ausführlich. Er kommt zu keiner dogmatischen Entscheidung. Letztlich können Religionen beides sein: Sie bergen ein Potenzial für eine sichere Bindungserfahrung, aber auch für eine lebensgeschichtliche Belastung vor allem des Selbstwertgefühls.
Ruth Baumann-Hölzle und Daniel Gregorowius beleuchten die Bindungsthematik ethisch. Wenn auch ihre Ideen teilweise verstören, wie die Idee einer „ethischen Pflicht zur demütigen Bescheidenheit“ (vgl. S. 71), gebührt ihnen mein Respekt, diese Fragen überhaupt aufgegriffen zu haben. Tatsächlich ist der psychodynamische Diskurs seit langem von ethisch-moralischen Überlegungen entkernt, sieht man von der Missbrauchsproblematik einmal ab. Mit dem Schwinden religiöser Deutungsmacht hat auch der Begriff der „Sünde“ sich verflüchtigt; und es ist zweifellos so, dass eine Gesellschaft nur Bestand haben kann, wenn ihre Mitglieder sich moralisch konform verhalten. Vielleicht kann eine säkulare moralische Orientierung wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ helfen, nur wird die nicht die Bindungskraft „Gottes Worts“ erlangen.
Diesen eher wissenschaftlichen, aber auch moralische Grenzen markierenden Beiträgen folgen die vielfältigen Beiträge der Praktikerinnen, die aufzeigen, wie bindungsorientierte Arbeit in vielfältigen Praxisfeldern wirklich funktionieren kann. Das Feld umfasst den gesamten Bereich frühkindlicher Entwicklung, also Subjekt (des Säuglings und seiner Eltern), Familie, Kindergarten, Klinik. Dabei fehlen mir: Gemeinwesen- und familienpolitische Aspekte, oder anders ausgedrückt, eigentlich soziale und sozialpolitische Sichtweisen/​Szenarien.
Stellvertretend seien hier genannt die beiden Hebammen Susanne Ritz und Wera Witsch, die sehr anschaulich beschreiben (vom Umfang des Körperkontakts bis zur Stationsatmosphäre), wie die Umwandlung einer Wochenbettstation in ein bindungsförderliches Milieu gelingen kann, von dem alle Beteiligten sehr profitieren können. Obwohl einige der Vorschläge so selbstverständlich sind, dass es fast banal kling (es gibt nichts Gutes außer man tut es), vermute ich, dass so geführte Stationen immer noch in der Unterzahl sind.
Diskussion
Zusammenfassend kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, hier werde eine „Szene“ beschrieben, die in der Praxis mit hohem Einkommen, hohem Bildungsstand und großer emotionaler Stabilität korrespondiert. Die Zielgruppe der sozial Benachteiligten, deren kulturelle Kompetenz nicht ausreicht die Probleme ihrer Kinder als Bindungsproblem zu definieren, bleibt vermutlich ausgeschlossen. Dabei zeigen vor allem Felittis Arbeiten, dass Bindungsprobleme außerordentlich hoch mit sozialer Randständigkeit korrespondieren. Sicher ist die damit einhergehende Anomie, die sich auch in Demoralisierung durch spirituellem Sinnverlust zeigt, ein wichtiges Problem. Die Zuständigkeit dafür der katholischen Theologie zuzuschreiben greift m.E. aber zu kurz, obwohl die lateinamerikanische Theologie der Befreiung mit ihren Kinderprojekten in Amazonien ein wichtiger Träger von spiritueller Bindungsarbeit sind.
Fazit
Der Sammelband gibt eine gute Einführung und vielleicht auch einen transparenten Überblick über die Möglichkeiten bindungsbasierten Arbeitens mit Müttern, Vätern und Familien von Säuglingen und Kleinkindern und mit den Kindern selbst. Das methodische Inventar kreist um die Bindungstheorie in der Lesart von Karl Heinz Brisch: Enthalten sind viele resilienzfördernde und prophylaktische Aspekte; für die klinische Arbeit in diesem Kontext schließt sich die metalisierungsbasierte Therapie an. Die Unterbelichtung sozialer Ursachen kindlicher Deprivation wird durch die Betonung spiritueller Aspekte der Entwicklung allerdings nicht wettgemacht.
Literatur
Brisch, Karl Heinz (1999/18. Auflage 2021/vollst. überarb. und erweiterte Neuauflage 2022): Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie, Stuttgart: Klett-Cotta
Felitti, Vincent J. (2003): Ursprünge des Suchtverhaltens: Evidenzen aus einer Studie zu belastenden Kindheitserfahrungen,in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 52. Jg. Heft 8, S. 547–559
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Art 1, Abs. 1 Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Israel, Agathe, Gisela Geist (2020): Aufruf der Arbeitsgruppe Frühbetreuung in der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten Deutschland e.V., In: Forum der Psychoanalyse Heft 4, Berlin: Springer
Moser, Tilmann (1980): Gottesvergiftung; Frankfurt: Suhrkamp
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 28.09.2022 zu:
Karl Heinz Brisch (Hrsg.): Kindliche Entwicklung zwischen Ur-Angst und Ur-Vertrauen. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-608-98434-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29568.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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