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Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational

Rezensiert von Melanie Werner, 13.02.2023

Cover Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational ISBN 978-3-593-51292-1

Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Campus Verlag (Frankfurt) 2021. 580 Seiten. ISBN 978-3-593-51292-1.
Reihe: "Geschichte und Geschlechter" - Band 76.

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Thema der Publikation

Das vorliegende Buch ist ein Buch aus den Geschichtswissenschaften, widmet sich jedoch einem Thema von hoher Relevanz für die Soziale Arbeit: der deutschen Jugendbewegung. Über diese ist in der Sozialen Arbeit viel gesagt, aber wenig geforscht worden. Auf die so entstandene Lücke zwischen zugeschriebener und tatsächlicher Bedeutung der Jugendbewegung und den damit verbundenen unzulässigen Verallgemeinerungen und Beschönigungen, hat Christian Niemeyer (2012, 2013, 2015) in zahlreichen Veröffentlichung hingewiesen. Da auch die Forschungen aus den Geschichtswissenschaften nicht nur unübersichtlich, sondern „in ihrer wissenschaftlichen Qualität […] nicht immer zu überzeugen wusste[n]“ (17), blieb es bisher schwer, sich einen soliden Eindruck von der Jugendbewegung zu verschaffen. Das Buch der Historikerin Antje Harms füllt diese Lücke und bietet erstmals eine systematische Darstellung der Jugendbewegung. Darauf aufbauend verfolgt das Buch aus einer historischen Perspektive eine grundlegende Fragestellung der Sozialen Arbeit: die Frage nach der politischen Sozialisation von Jugendlichen.

Die Autorin

Die Autorin Dr. Antje Harms studierte Geschichte, wissenschaftliche Politik und Gender Studies an der Universität Aachen. Sie arbeitet zur Zeit als persönliche Referentin der Prodekanin für Universitätskultur an der Universität Freiburg. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um ihre Doktorarbeit.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Teil 1 gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Gruppierungen der Jugendbewegung. In Teil 2 und 3 rekonstruiert die Autorin die politische Sozialisation von 100 Mitgliedern der Jugendbewegung, wobei sich Teil 2 eher allgemeinen „Basisfaktoren“ politischer Sozialisation widmet und Teil 3 auf die Bedeutung des ersten Weltkriegs für die politische Sozialisation Jugendbewegter fokussiert.

Teil 1 legt in überzeugender Weise dar, dass von „der Jugendbewegung“ im Kollektivsingular nicht gesprochen werden kann und die Subsummierung höchst unterschiedlichen Gruppen unter dem Label „Wandervogel“ der Vielfalt der Jugendbewegung nicht gerecht wird. Diese Vielfalt fängt Antje Harms systematisch ein, indem sie die Jugendbewegung von ihren Rändern her beschreibt und ein Panorama von politisch rechts bis links, von „deutschnational“ bis „linksradikal“ eröffnet. Als Historikerin nutzt sie die Begriffe „links“ und „rechts“ nicht in ihrem heutigen, sondern in ihrem zeitgenössischen Verständnis als „sozialistisch“ und „völkisch“ (Kapitel 1).

Bereits das zweite Kapitel zur rechten Jugendbewegung sorgt für eine Überraschung, beginnt es doch mit dem Wandervogel, der in der Sozialen Arbeit häufig als „Jugendbewegung schlechthin“ bezeichnet und meist positiv konnotiert wird. Dies zeigt einmal mehr, wie sehr rechtes Gedankengut aus der Jugendbewegungshistoriographie ausgeklammert wurde, obwohl dies eher der Normal- als der Ausnahmefall war. An die völkische Ideologie des Wandervogels konnten zahlreiche rechte Gruppierungen anknüpfen, die Harms im weiteren Verlauf des Kapitels beschreibt. Für die Historiographie Sozialer Arbeit ist hier besonders der „Deutsche Mädchenwanderbund“ (Kapitel 2.4) von Interesse, der sich ähnlich wie die bürgerliche Frauenbewegung und die Kindheitspädagogik an einem Ideal von „Mütterlichkeit“ orientierte und dieses sowohl für emanzipatives als auch für völkisches Gedankengut anschlussfähig machte. Auch in Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Frauenbewegung versuchte der Mädchenwanderbund eine rein weibliche Kultur zu schaffen und damit die Volkskultur zu bereichern (85). Diese Überschneidungspunkte von bürgerlicher Frauenbewegung und Jugendbewegung und die damit verbundene Überlappung von emanzipatorischen und völkischen Zielen ist nicht nur für die Historiographie Sozialer Arbeit, sondern auch für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit rechten Bewegungen, eine höchst relevante Erkenntnis.

Neben dieser rechten Jugendbewegung formierte sich auch ein linker Zweig heraus (Kapitel 3), der jedoch zeitlich auf die Jahre zwischen 1913 und 1923 beschränkt blieb und zu Beginn der Weimarer Republik ganz versiegte, weil viele Gruppierungen sich zunehmend am Sozialismus orientierten und der Arbeiter:innenbewegung zuwandten. Charismatischer Mittelpunkt dieser Gruppen war der Schulreformer Gustav Wyneken, dessen Idee einer eigenständigen Jugendkultur der linken Jugendbewegung den Namen „Jugendkulturbewegung“ einbrachte. Obwohl Wyneken sich nicht selten antisemitisch äußerte, war die Jugendkulturbewegung besonders bei jüdischen Jugendlichen beliebt und wurde auch deshalb von der völkischen Jugendbewegung als „wesensfremd“ betrachtet (20). Dennoch gelang es der linken Jugendbewegung wichtige Posten zu besetzen und lebhafte Diskussionen innerhalb der Jugendbewegung anzustoßen. Dies zeigt, dass „links“ und „rechts“ zumindest für einen kurzen Zeitraum keine unversöhnlichen Gegensätze waren, sondern Schnittmengen im Ideal der „Deutschen Volksgemeinschaft“ fanden, deren unterschiedliche Auslegung als völkische oder sozialistische Gemeinschaft letztendlich jedoch zu unterschiedlich war, um die unterschiedlichen Lager zusammen zu halten (Kapitel 4).

Mit Teil 2 beginnt der empirische Teil des Buches, indem die Autorin das Leben von 100 führenden Mitgliedern der Jugendbewegung anhand von Zeitschriftenartikel, Tagebucheinträgen, Zeitzeugenberichten und anderen Quellen rekonstruiert. In diesen Quellen sucht sie nach kollektiven Denkstilen und Mustern von Wahrnehmungen, an denen die Sozialisationserfahrungen der Jugendbewegten ablesbar ist (Kapitel 1). Hierfür beschreibt sie zunächst die Basisfaktoren politischer Sozialisation im Kaiserreich (Kapitel 2). Die Erziehung im Elternhaus, Schule und Geschlechternormen werden zunächst allgemein beschrieben, vor diesem Hintergrund wird dann das Leben der Beforschten eingeordnet. Diese zeigen sich in Harms Studie als heterogener, komplexer und widersprüchlicher als gemeinhin behauptet. So lässt sich beispielsweise der in der Jugendbewegungsforschung immer wieder stark gemachte Generationenkonflikt im Elternhaus als Ausgangspunkt der Jugendbewegung nicht auf das gesamte Sample verallgemeinern.

In Kapitel 3 fragt die Autorin nach der sozialisierenden Wirkung der Jugendbewegung selbst und beschreibt subkulturelle Lebensstile, das Feiern von Gemeinschaft und erlebnispädagogische Praktiken aus einer Innenperspektive. Besonders interessant ist auch hier der geschlechterdifferente Zugang, der zeigt, wie die Jugendbewegung besonders bürgerlichen Mädchen einen Freiraum eröffnete, der ihnen sonst verschlossen blieb und durchaus emanzipativen Charakter hatte.

Im abschließenden Teil 3 wird der Blick noch einmal auf die sozialisierende Kraft des ersten Weltkriegs gelenkt. Dieser hat die ohnehin vorhandenen politischen Überzeugungen nicht verändert, sondern lediglich verstärkt, allgemein aber zu einer Ablehnung der parlamentarischen Politik geführt, welcher in der rechten Jugendbewegung teilweise zu einer allgemeinen Ablehnung von Demokratie führte.

Das Buch kann zeigen, dass die Jugendbewegung weder ein reines Aufbegehren der Jugendlichen gegen ihre Eltern, noch eine brave Bewegung gewesen ist, die von ihren Eltern protegiert wurde. Die Jugendbewegung hat zwar nicht direkt auf eine politische Veränderung der Gesellschaft gezielt, aber dennoch eine politisierende Wirkung auf ihre Mitglieder gehabt – nicht im Sinne von Parteipolitik, aber in dem Willen an der Veränderung der Gesellschaft mitzuwirken. Für die Wahrnehmung als Jugendbewegung ist aus Sicht der Autorin weniger die tatsächliche oder behauptete Autonomie von Erwachsenen ausschlaggebend, sondern die Überhöhung von Jugend allgemein, die es ermöglichte, sich selbst als Protestbewegung zu konstituieren und als solche wahrgenommen zu werden.

Diskussion

Das Buch wirft einen facettenreichen Blick auf die Jugendbewegung und wiederlegt einige in der Geschichtsschreibung Sozialer Arbeit immer wieder hervorgebrachte Behauptungen. Es zeigt außerdem, wie sehr rechte Tendenzen in der Jugendbewegungshistoriographie ausgespart wurden. Besonders dieser erste Teil ist für alle historisch Interessierten in der Sozialen Arbeit von unschätzbaren Wert. Teil 2 und 3 zeigen noch einmal anhand von empirischen Material, dass die Mitglieder der Jugendbewegung sehr heterogen waren und sich nicht auf bürgerliche, protestantische männliche Gymnasiasten reduzieren lassen. Die hier getroffenen Aussagen sind spannend zu lesen und werfen einen interessanten Blick auf Sozialisationsprozesse Jugendlicher im Kaiserreich. Um diese zu rekonstruieren, trägt die Autorin eine beeindruckende Zahl an historischen Quellen zusammen und verdichtet diese zu einem anschaulichen Portrait der Jugendbewegung. Dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei einem Sample von 100 Personen, deren Sozialisation anhand von den noch vorhandenen Quellen rekonstruiert werden muss, um Spuren in die Vergangenheit und nicht um ein repräsentatives Abbild der Jugendbewegung handelt. Stellenweise fragt sich die Leser*in, ob die skizzierten Erkenntnisse tatsächlich spezifisch für die Mitglieder Jugendbewegung oder allgemein ein Zeichen der Lebensphase Jugend sind, beispielsweise wenn gefolgert wird, dass sich die Mitglieder der Jugendlichen von ihren Eltern häufig unverstanden fühlten (229). Dennoch ist der Zugang über die Innensicht von Jugendbewegten spannend und kann auch sprachlich überzeugen.

Fazit

Das Buch bietet sowohl einen allgemeinen Überblick über die Jugendbewegung als auch eine spannende Perspektive „von Innen“. Historisch Interessierte in der Sozialen Arbeit werden dieses Buch mit viel Gewinn lesen. Über diesen Kreis hinaus bietet es Anknüpfungspunkte für Genderfragen, erweitert aber auch die Perspektiven auf rechte soziale Bewegungen und ihren gegenwärtigen Einfluss auf Soziale Arbeit.

Literaturangaben

Niemeyer, Christian (2012): Jugendbewegung, völkische Bewegung, Sozialpädagogik über vergessen gemachte Zusammenhänge am Beispiele der Darstellung der Artamanenbewegung in der Kindt-Edition. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik ZfSp 10, 2, S. 184–204.

Niemeyer, Christian (2013): Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Tübingen: Francke.

Niemeyer, Christian (2015): Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch. Weinheim [u.a.]: Beltz Juventa.

Rezension von
Melanie Werner
Professorin für Theorie und Geschichte der Sozialen Arbeit an der DHBW Stuttgart.
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Es gibt 1 Rezension von Melanie Werner.

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Zitiervorschlag
Melanie Werner. Rezension vom 13.02.2023 zu: Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Campus Verlag (Frankfurt) 2021. ISBN 978-3-593-51292-1. Reihe: "Geschichte und Geschlechter" - Band 76. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29580.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.


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