Julia Shaw: Bi
Rezensiert von Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, 06.01.2023

Julia Shaw: Bi. Vielfältige Liebe entdecken. Hanser Verlag (München) 2022. 300 Seiten. ISBN 978-3-446-27293-4. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
Die Autorin setzt sich in diesem Buch mit dem Phänomen Bisexualität auseinander. Sie macht diese sexuelle Orientierung in Geschichte, Kultur und Wissenschaft sichtbar und zeigt anhand ihrer eigenen Identitätssuche, warum „vielfältige Liebe“ mehr Raum erhalten muss.
Autorin
Julia Shaw ist promovierte Rechtspsychologin am University College London und hat den Masterstudiengang Queer History am Goldsmiths, University of London, absolviert. Sie ist international als Referentin tätig. Frühere Publikationen: „Das trügerische Gedächtnis“ und „Böse. Die Psychologie unserer Abgründe“.
Entstehungshintergrund
In den vergangenen Jahren hat zwar die Bewegung der LGBTIQ+-Community für mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz gesorgt. Die Bisexualität stellt jedoch nach wie vor ein Dunkelfeld dar, über das wenig Information vorliegt und über das viele bisexuelle Menschen nicht offen sprechen. Angesichts dieser Situation hat sich die Autorin aufgrund ihrer eigenen bisexuellen Orientierung entschlossen, dieses Thema einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, um bisexuellen Menschen dabei behilflich zu sein, diese „vielfältige Liebe“, wie es im Untertitel des Buches heißt, zu entdecken und zu leben.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst sieben Kapitel, in denen die verschiedenen Aspekte der Bisexualität behandelt werden. Vorangestellt ist eine Einführung mit dem Titel „Ich will mehr“, den Abschluss bildet das Kapitel „Schlussfolgerung: Bidentität“, gefolgt von Anmerkungen und einem Sachwortregister.
In der Einführung „Ich will mehr“ thematisiert die Autorin ihr Anliegen: „Ich bin bisexuell und spüre schon seit Längerem, dass ich mehr will. Es war mir ein echtes Bedürfnis, mich, gestützt auf ein solides geschichtliches und wissenschaftliches Fundament, auf die Suche nach der Repräsentation von Bisexualität in Politik und Popkultur zu machen und ganz allgemein die Frage zu beantworten: Wo sind eigentlich all die bisexuellen Menschen?“ (S. 11). Dabei geht es Julia Shaw auch darum, dazu beizutragen, „dass Bi-Identitäten und Bi-Lebensläufe in Zukunft nicht mehr als pervers angesehen werden“ (S. 11), sondern Bisexualität „als ein völlig normaler Teil der menschlichen Sexualität“ (S. 12) verstanden wird. In den folgenden sieben Kapiteln geht sie der Frage nach, wie Bisexualität definiert und erforscht wurde, zeichnet die geschichtliche Entwicklung nach und zeigt auf, welche unheilvollen Folgen die Verheimlichung dieser sexuellen Orientierung hat.
Dem Thema „Die Option Bi“ ist das 1. Kapitel gewidmet. Auch wenn immer wieder die Ansicht geäußert wird, Bisexualität sei ein Modetrend, zeigt ein Blick in die Geschichte der Sexualforschung, dass Bisexualität ein Thema ist, seitdem die sexuellen Orientierungen untersucht werden. Wichtige Exponenten sind Kinsey und Klein.
Das 2. Kapitel „Unsere Geschichte“ thematisiert die historische Situation, wobei die Autorin auf die besondere Bedeutung von Brenda Howard, einer Aktivistin der Stonewall-Bewegung, hinweist. „Brenda Howard gehörte definitiv zum bisexuellen Urgestein unserer Generation, eine jener erstaunlich hartnäckigen/​unnachgiebigen Freiheitskämpferinnen, die Revolutionen und sozialen Wandel auslösen“ (S. 46). In den Rahmen einer historischen Betrachtung der Bisexualität gehört auch die Auseinandersetzung mit der Queer Theory, welche die „Vorstellung infrage stellt, Sexualität, und zwar insbesondere Heterosexualität, sei irgendwie besser oder natürlicher als andere Sexualitäten“ (S. 48). Ein weiterer historischer Meilenstein ist das Buch „Sexuelle Inversion“ von Havelock Ellis, der sich darin „ausdrücklich zu Bisexualität geäußert hat, und zwar zu einer Zeit, als sie in den meisten Diskursen über Sexualität überhaupt nicht vorkam“ (S. 59). Der historische Überblick thematisiert ferner die AIDS-Epidemie und die in den Achtziger- und Neunzigerjahren entstandenen bisexuellen Communitys.
Im 3. Kapitel „Nur Säugetiere“ setzt sich die Autorin mit der Frage auseinander, ob die Bisexualität eine angeborene Disposition ist, die es auch im Tierreich gibt. Ein bekanntes Beispiel für bisexuelles Verhalten sind die zur Familie der Menschenaffen gehörenden Bonobos, die nahezu ausnahmslos bisexuell sind. Aufgrund ihrer Analyse verschiedener historischer und sozialer Kontexte kommt Julia Shaw zum Schluss, dass bisexuelles Verhalten ein weit verbreitetes Phänomen ist und „dass gerade ausschließlich monosexuelles Verhalten nach einer Erklärung verlangt. (…) Meiner Überzeugung nach spricht die weite Verbreitung der Bisexualität (…) dafür, dass sie in evolutionärer und sozialer Hinsicht besonders sinnvoll ist“ (S. 109).
Ein Problem bisexueller Menschen liegt darin, dass sie auch in der Gegenwart vielfach ihre sexuelle Orientierung geheim halten. Diesem Thema ist das 4. Kapitel „Heimlich bisexuell“ gewidmet. Die Dunkelziffer ist offensichtlich sehr hoch. Gemäß einer von der Autorin zitierten Studie outen sich 80 Prozent der Bisexuellen nicht innerhalb ihrer Familie und 64 Prozent halten ihre Bisexualität vor Freunden geheim (S. 116), was erhebliche psychische Belastungen zur Folge hat. Die Gründe für das Verheimlichen der sexuellen Orientierung liegen zum einen in den Vorurteilen und Stigmatisierungen, wie sie gegenüber Bisexuellen in unserer Gesellschaft bestehen, und zum anderen in der daraus resultierenden Gewalt, die sich insbesondere gegen bisexuelle Frauen richtet.
Mit der Heimlichkeit hängt ein weiteres Problem zusammen, das die Autorin im 5. Kapitel „Unsichtbar“ diskutiert: Während Lesben, Schwule und Heterosexuelle zum Teil durch spezifische Attribute gekennzeichnet sind, trifft dies für bisexuelle Menschen im Allgemeinen nicht zu. Gerade weil sie dadurch oft unsichtbar sind, sind Bi-Räume für sie als Orte besonders wichtig, „wo sowohl der Einzelne sichtbar bisexuell für den anderen als auch die gesamte Community sichtbar für die Welt ist. Gemeinsam unsere Sexualität zu feiern ist ein Akt der Stärke“ (S. 168). Zum Abbau von Vorurteilen ist ein häufiger und besserer Kontakt zu bisexuellen Menschen wichtig und führt nachweislich zu einer positiveren Einstellung ihnen gegenüber.
Auch wenn die sexuelle Orientierung letztlich eine Privatangelegenheit ist, stellt sie vielfach doch eine Tatsache dar, die auch politische Relevanz hat. Dies ist das Thema des 6. Kapitels „Alles ist politisch“. Viele bisexuelle Menschen leben in Familien, in einer Gemeinschaft oder einem Land, in dem sie sich in Gefahr befinden und befürchten müssen, belästigt und diskriminiert, angegriffen, eingesperrt oder sogar getötet zu werden, wenn sie ihre sexuelle Neigung äußern.
Dem Thema „Freie Liebe“ ist das 7. Kapitel gewidmet. Hier beschäftigt sich die Autorin mit der Möglichkeit vom „Sex zu dritt“, der sowohl bei Monosexuellen als auch bei Bisexuellen häufiger als gemeinhin angenommen ausgeübt wird. Gemäß Julia Shaw vermag Sex zu dritt zu interessanten Erkenntnissen über Bisexualität zu verhelfen: „Sex zu dritt ist für viele eine Möglichkeit, vielleicht zum ersten Mal verschiedene Varianten gleichgeschlechtlichen sexuellen Verhaltens zu erleben, ohne deswegen gleich ihre Sexualität infrage stellen zu müssen. (…) Meiner Meinung nach ist der Dialog über Erfahrungen mit Sex zu dritt und diesbezügliche Wünsche ein guter Einstieg für tiefer gehende Gespräche über bisexuelle Wünsche und bisexuelles Verhalten und darüber, wie diese mit bisexuellen Identitäten zusammenhängen könnten“ (S. 247). Die in solchen Diskussionen immer wieder auftauchenden Fragen sind die nach dem Versprechen exklusiver Sexualität, der „obligatorischen Monogamie“ (S. 249), die sich viele Paare bei der Eheschließung versprechen, und einer einvernehmlichen „Nicht-Monogamie“ (S. 251) wie sie durchaus von Paaren praktiziert wird. Dabei betont die Autorin, dass die in der Öffentlichkeit oft geäußerte Angst vor einer „Kettenreaktion“ (S. 255) – wenn die Monogamie-Forderung aufgehoben würde, käme es zu einem Beziehungsdammbruch – nicht der Realität bisexueller Beziehungen entspricht.
Sie verweist in diesem Zusammenhang auf eine Studie, die zeigt, „dass die Mehrzahl der bisexuellen Teilnehmenden ihre eigene Beziehung als monogam und traditionell bezeichnete“, wobei allerdings „die Einstellung Bisexueller zur Monogamie weniger positiv war als die anderer sexueller Identitätsgruppen“ (S. 256). Fazit: „Sex zu dritt (stellt) die Monogamie nicht infrage, sondern kann vielmehr eine positive Wirkung ausüben, insbesondere bei Liebespaaren. Dreier können Paare zu einer neuen sexuellen ‚Befreiung’ führen – und den Vorrang ihrer festen Beziehung bestätigen“ (S. 260/261).
Im Abschlusskapitel „Schlussfolgerung: Bidentität“ schildert Julia Shaw die sechs Stadien ihrer eigenen Bidentitäts-Entwicklung: Stadium 1: Einsamkeit, Stadium 2: Euphorie, Stadium 3: Enttäuschung, Stadium 4: Trauern, Stadium 5: Wut und Stadium 6: Frieden. In dem letzten Stadium ist es gelungen, „den Trost zu verinnerlichen, den das Wissen spendet, dass es seit jeher Bisexuelle gegeben hat und auch immer geben wird. Wir erkennen die Allgegenwärtigkeit der Bisexualität im Sexualverhalten, in Geschichte, Kultur, Kunst und Wissenschaft. Entscheidend ist, das wir zum jetzigen Zeitpunkt für eine noch größere Sichtbarkeit der Bisexualität kämpfen, uns für Inklusion engagieren und für rechtlichen Schutz. Aber unser Motiv ist nicht mehr die Wut, sondern die Liebe“ (S. 267).
Diskussion
Dieses Fazit, das Julia Shaw aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit dem Phänomen Bisexualität und im Rahmen der Entwicklung ihrer eigenen Bidentität zieht, charakterisiert wohl am besten das Ziel, das sie mit ihrem Buch verfolgt. Und es erklärt auch die Art, in der dieses Buch geschrieben ist. Man könnte gegenüber manchen Aussagen der Autorin und manchen Interpretationen der von ihr zitierten Studien kritisch einwenden, dass sie vor allem die Aspekte hervorhebt, welche die Allgegenwärtigkeit und die positiven Seiten der Bisexualität betonen. Dies erweist sich jedoch keineswegs als ein Nachteil und sollte nicht als negativ bewertet werden. Negative Stellungnahmen und Vorurteile gegenüber bisexuellen Menschen bestehen, wie Julia Shaw überzeugend aufzeigt, zu Hauf in unserer Gesellschaft. Gerade deshalb ist das Buch in genau der Weise wie die Autorin es formuliert und publiziert hat von großer Bedeutung, indem es ihr gelingt, bisexuellen Menschen Mut zu machen, sich so zu akzeptieren wie sie sind, und dadurch ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Hinzu kommt, dass es eines der wenigen Bücher ist, die sich mit der Bisexualität auseinandersetzen.
Fazit
Ein spannendes Buch, das in differenzierter Weise über das Phänomen Bisexualität aufklärt und bisexuellen Menschen Mut macht, sich so zu akzeptieren wie sie sind und sich auch in der Öffentlichkeit für ihre sexuelle Orientierung einzusetzen.
Rezension von
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Klinische Psychologie Universität Basel, Psychoanalytiker (DPG, DGPT)/psychologischer Psychotherapeut in privater Praxis in Basel
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